Innenansichten eines Niedergangs. Urs Hofmann
oder der «Wiederkehr der Götter»5 nicht die Mitgliedskirchen des SEK gemeint sein können. Die vorliegende Untersuchung bezieht gegenüber dieser weit verbreiteten Diagnose, die Gegenwart erlebe eine «Renaissance des Religiösen»6 einen kritischen Standpunkt – die im Folgenden auf empirischer Basis vorgenommene Historisierung dieses Phänomens wird zeigen, ob man über lange Sicht von einer «Renaissance» sprechen kann. Indessen hat es seine Gründe, dass die Themen Kirche und Religion wieder ihren Platz auf den Titelseiten der medialen Öffentlichkeit gefunden haben7 oder dass Hundertausende Jugendliche zum Weltjugendtag nach Köln reisen, um den Papst zu sehen. Sicher haben der «islamistische Schock»8 und die mit der Migration von Menschen aus islamischen Staaten verbundenen Ängste einen Teil zum Interesse am Religiösen beigetragen. Allein, diese Erklärung griffe zu kurz, denn hier geht es in erster Linie um eine Renaissance des Interesses an Religion. Was die Wochenzeitschrift Spiegel mit «Das Gefühl des Glaubens»9 betitelt, trifft den Nagel wohl auf den Kopf – dieses «Gefühl» umschreibt die Sehnsucht nach dem Sinn im eigenen Leben, nach Transzendenz und verbindlichen Werten. Ereignisse wie die millionenfach besuchte Beisetzung Johannes Paul II. zeigen, über den erfolgreichen Event-Charakter der Veranstaltung hinaus, dass bereits die Inszenierung von Religion in den Menschen etwas anrührt, eine Verbindung zum Übersinnlichen, die weiterhin besteht. Menschen erinnern sich wieder ihrer religiösen Residuen und suchen im Gefühl des Glaubens den Glauben an sich. Die Kirche übt weiterhin ihren Einfluss aus, ob er nun bewusst oder unbewusst wahrgenommen wird, und das Phänomen Religion in der Gegenwart sollte nicht vorzeitig abgeschrieben werden.
Vor diesem Hintergrund unternimmt dieses Buch den Versuch, die Verankerung der reformierten Kirche in der Gesellschaft und ihren Einfluss auf diese Gesellschaft, mit anderen Worten: die Mächtigkeit der Kirche in Bezug auf die soziale Wirklichkeit und den Wandel dieses Verhältnisses im Laufe der Zeit zu untersuchen. Im Mittelpunkt stehen die Schnittpunkte zwischen der Kirche und der ausserkirchlichen Gesellschaft. Dort manifestiert sich das Verhältnis der Kirche zur realen Lebenswelt, die Bedeutung der Kirche für die Menschen. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich Stellenwert und Einfluss der protestantischen Religion und der Kirche in der Gesellschaft im vergangenen Jahrhundert stark verändert haben. Neben der Abkehr von der Kirche ist es im Verlauf der Moderne in verschiedenen Ländern auf unterschiedliche Weise zu einer Abkehr von christlicher Lehre und von christlich geprägten Lebensformen gekommen.
Diese Prozesse des Sich-Distanzierens vom Christentum sind aber nicht gleichzusetzen mit jeglicher Abkehr von Religion oder religiös inspirierter Wertorientierung. Im Gegenteil gibt es vielerlei Verbindungen zwischen einer Hinwendung zu nichtchristlichen Glaubensformen und der Persistenz christlichen Einflusses. Diese Mischformen von christlichen und nichtchristlichen Elementen bestehen weiterhin und wirken auf die Wahrnehmung von politischen, gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen ein. Religion und die Kirchen als ihre Vertreter sind Faktoren der menschlichen Daseinsorientierung. Auch die modernen, «säkularisierten» Gesellschaften im 20. Jahrhundert sind nicht religionslos; die Religion und die Kirche haben aber einen anderen Stellenwert und andere Erscheinungsformen als in früheren Zeiten; man kann hier nach der Transformation von Kirche und protestantischer Lebenswelt fragen. Religionsgemeinschaften mussten auf «modernitätsspezifische Transformationen und Brüche»10 reagieren und sich mit den zunehmend von der Kirche emanzipierenden Bürgern auseinandersetzen.
In Bezug auf die reformierte Kirche in Basel stellt sich diese Problematik insofern, als die grosse Mehrheit der städtischen Bevölkerung protestantischen Glaubens war und dies heute auf tieferem Niveau noch immer ist. Der tragende gesellschaftliche Kreis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Stadt, das konservative Bürgertum, war Mitglied der protestantischen Kirche. Die Entwicklung der evangelisch-reformierten Kirche in Basel kann demnach nicht losgelöst vom Denken und Handeln dieser Gesellschaftsschicht analysiert werden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach potenziellen Milieustrukturen dieser evangelischreformierten Gemeinde, nach der Charakterisierung eines allfälligen Milieus und dessen Veränderungen. Welches sind die Gründe, die, zumindest auf den ersten Blick, von Säkularisierung oder Entkirchlichung sprechen lassen?
Dagegen soll eine Herangehensweise, die das Banner der Säkularisierungsthese und der Theorien der steten Entchristlichung der Gesellschaft bis hin zur völligen Vernachlässigbarkeit von Kirche und Religion in der Gesellschaft vor sich hinträgt, vermieden werden. Es wirkt der Erfassung weitreichender Veränderungen in der Moderne entgegen und kann deshalb zur Erkenntnisfalle werden. Die Resultate der Untersuchung sollen hier für sich sprechen. Auch eine einseitige Fokussierung auf die Probleme der Kirche ist dem Stellenwert des Religiösen in der Gesellschaft nicht angemessen und reicht nicht aus, um die ganze historische Dimension zu erfassen. Stattdessen stehen die verschiedenen Formen der Veränderung im Zentrum der Fragestellung.
Das in den Kirchenstatistiken dargebotene Material erlaubt dazu nur bedingt aufschlussreiche Aussagen. Über subjektive Motive, religiöse Gefühlslagen und Selbstrepräsentationen von Frömmigkeit kann daraus ebenso wenig erfahren werden wie über moralische Wertorientierungen, politische Einstellungen oder Herkunftsmilieus der Gottesdienstbesucher. Der erste Teil des Buches untersucht deshalb charakteristische Problemkonstellationen, die über das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft und Veränderungen in diesem Verhältnis Auskunft geben. In einer Art Tiefenbohrung liegt die Konzentration hier auf zentralen Debatten und Entwicklungen in kirchlichen und kirchennahen Zeitschriften, welche als Einbrüche der Modernisierung in die Kirche wahrgenommen werden können. Die innerkirchlichen Diskurse entzündeten sich an den Modernisierungsprozessen der Industrie, an der Ausbreitung neuer Kommunikationstechnologien oder am sich wandelnden Rollenverständnis der Frau. Wie wurden diese Themen diskutiert, welche theoretischen und praktischen Antworten gab die Kirche? Die Analyse dieser als Krisenzeiten definierten Zeitabschnitte soll es möglich machen, über die spezifische Mentalität der Basler Protestanten Auskunft zu geben und sie zu umreissen. Persistenz und Wandel von Einstellungen und Praktiken im protestantischen Milieu sollen aufgezeigt und festgehalten werden. Es sollen Erkenntnisse gewonnen werden über Veränderungen im protestantischen Wirklichkeitsbild und über die diskursive Vergewisserung des protestantischen Selbstverständnisses. Zentrale Fragen sind jene nach der Vitalität von Religion, nach dem Rückgang der Bindekraft der traditionellen religiösen Institutionen und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Kirche. Kirchliche Organisationen und Medien stellen den Mitgliederschwund der Landeskirchen ins Zentrum ihres Interesses, Theologen und Kirchenhistoriker haben sich in ihren Beiträgen bisher hauptsächlich auf theologische Probleme und auf die Strukturen der Kirchen beschränkt. Das Buch hat zum Ziel, den ab Mitte der 1960er-Jahre sichtbar erfolgten dramatischen Bruch der protestantischen Gesellschaft mit ihrer Kirche, der sich vorab in einer massiven Kirchenaustrittswelle zeigte, mit einer Untersuchung über dessen Vorgeschichte zu erhellen. Hintergrund bildet die Annahme, dass «Kirche und Gesellschaft in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis»11 stehen. Im Zentrum der Analyse stehen dabei Fragen nach der Struktur, den Akteuren und der Mentalität des Protestantismus in Basel-Stadt.12 Zur Beschreibung der Vergesellschaftungsmuster nach dem Niedergang des protestantischen Milieus – so es denn eines gegeben hat – schlägt Benjamin Ziemann vor, mit den Begriffen «Transzendenz» und «Immanenz» zu arbeiten.13 Basierend auf der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann, finde man Religion «nur dort vor, [...] wo die Differenz immanent/transzendent kommunikativ verwendet wird».14 Mit anderen Worten geht es darum zu prüfen, wo Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet