Lebendige Seelsorge 4/2020. Verlag Echter
ist er „nicht mehr da“, also muss er „verschwunden“ sein. Dieses Verschwinden ist für Mark Andre das zentrale Thema seiner Musik: Entschwinden als eine besondere Art der Anwesenheit. „Wie wäre das Verschwinden Christi erklungen?“, fragt er. Ich frage mich, daran anknüpfend, was ist das für eine Präsenz, die sich gibt, indem sie sich entzieht – noli me tangere: halte mich nicht fest. Ich denke über diesen Zugang zur Auferstehung nach: nicht als Erscheinen, sondern als Entschwinden. Der Auferstandene ist nicht der, der erscheint, sondern der, der sich entzieht. Auferstehen geschieht im Entschwinden. Wie mag man sich das vorstellen? Der Lyriker Christian Lehnert beschreibt die Ostererfahrung des Paulus so: Paulus, der dem auferstandenen Christus begegnet, „schaut auf und starrt ins Dunkel – eben war da ein Licht, und es bleibt ein geglaubtes Licht. Verloschen. Für immer erstrahlt“ (Lehnert, 114). Bei Andre hieße das: „Eben war da eine Stimme: Warum weinst Du? Wen suchst Du? Und es bleibt eine geglaubte Stimme. Verhallt. Für immer erklungen.“ Mark Andre glaubt an die Hörbarkeit der Abwesenheit. Ganz konkret. Er will die „Erscheinungsweisen des Heiligen Geistes“, wie er sich ausdrückt, das Zarteste und Geistigste also, sogar empirisch aufnehmen, fast materialisieren, und dadurch hörbar machen. Das zu Hörende, die Gegenwart, entzieht sich dem Zugriff, aber sie gibt sich im Entschwindenlassen.
OSTERN: DER SCHOCK DES ZWEITEN VERLUSTES
Anknüpfend an diesen zeitgenössischen Künstler möchte ich meine eigene Imagination der biblischen Vorgänge skizzieren (vgl. Gruber 2019). Es ist ein imaginatives Gedankenexperiment, das in seiner zugespitzten Einseitigkeit jedoch etwas deutlich machen kann: Am Beginn der neutestamentlichen Überlieferung steht der krisenhafte Schock eines doppelten Verlustes. Denn Jesus wird zweimal verloren: auf Golgota und in dem Ereignis, das die Christen später Ostern nennen werden. Die verstörenden Elemente in den Begegnungen mit dem Auferstandenen, das Erschrecken, die Flucht, das Nicht-Erkennen und die Sprachlosigkeit spiegeln den Schock dieses zweiten Verlustes, der von allen, die Jesus von Nazaret gekannt hatten, erlitten werden musste. Was auf dem Schädelberg geschehen war, war schrecklich, aber vorstellbar: Der Verlust eines teuren Menschen, der grausame Tod eines Unschuldigen, der Zusammenbruch der Lebenspläne und Hoffnungen, die eigene Schuld im Versagen angesichts roher Gewalt. Was jedoch die Begegnung mit dem Auferstandenen einforderte, überstieg das Vorstellbare: Es bedeutete, den, den man zu kennen geglaubt hatte, erneut und noch radikaler verlieren zu müssen. Wer ist der, den man Rabbi und Freund nannte und jetzt als Kyrios und Gott (vgl. Joh 20,28) anrief? Die Auferstehung des Gekreuzigten ist eine tiefgreifende Erschütterung, die an die Wurzel des Glaubens und der Existenz der Jünger und Jüngerinnen rührte.
AUFERSTEHUNG ALS EINSTURZ DES WELTGEBÄUDES
Auferstehung ist mit Erschrecken verbunden, denn sie bedeutet die plötzliche Konfrontation mit der Macht Gottes, die in das Leben eingreift. Man versucht zu fliehen, weil der „Himmel einstürzt“, die Grundfesten des Weltbildes ins Wanken geraten. Nach Matthäus öffnen sich beim Tod Jesu die Gräber und „die Leiber vieler Heiliger, die entschlafen waren, wurden auferweckt. Nach der Auferstehung Jesu verließen sie ihre Gräber, kamen in die Heilige Stadt und erschienen vielen“ (Mt 27,52f.). Das liest sich wie ein Horrorszenario. Sind wir in einer Welt der Wiedergänger angekommen? Man darf sich von der Faszination der apokalyptischen Bilder nicht zu einer konkretistischen Imagination verleiten lassen und den so genannten Weltuntergang darin abgebildet sehen. Die apokalyptischen Passagen in den synoptischen Evangelien (vgl. Mk 13; Mt 24; Lk 21,5-36) müssen anders gelesen werden: Als Bearbeitung einer krisenhaften Erschütterung, die mit apokalyptischen Motiven versprachlicht und gedeutet wird. Apokalypse bedeutet: Gott bringt die alte Welt zum Einsturz und schafft eine neue. Der Sturz der Himmel steht jedoch nicht erst bevor, sondern ist bereits eingetreten mit der Auferstehung des Gekreuzigten von den Toten. Nicht auf ein zukünftiges Weltende schaut der verstörte Blick der Erzählgemeinschaft, sondern auf das Beben von Ostern, das ihre Welt zum Einsturz gebracht hat und das immer noch nachbebt. Die Erschütterung der Auferstehung spiegelt sich in den Aussagen über das Kommen des Menschensohnes, die die Unvorstellbarkeit und Bildlosigkeit des Geschehens mit apokalyptischen Sprachbildern füllen: „Aber in jenen Tagen, nach der großen Not, wird sich die Sonne verfinstern, und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Dann wird man den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken kommen sehen“ (Mk 13,24-23). Die Auferstehung wird im Markustext nicht narrativ repräsentiert, sondern im Sprachmodus der vollmächtigen Ankündigung Jesus selbst in den Mund gelegt, als Ansage eines apokalyptischen Widerfahrnisses. Meine Frage ist, ob es nicht der Schock dieses Widerfahrnisses war, die Auferstehung des Gekreuzigten von den Toten, die die neutestamentliche Theologie des abwesend anwesenden Herrn hervorgebracht hat.
LEBEN IM TRANSIT
Die Briefe des Paulus zeigen, wie ein Mensch durch die Begegnung mit dem Auferstandenen in einen krisenhaften Dauerzustand gerät, in ein Leben an der Schwelle, im Dazwischen: Existenz im Transitbereich. Er kann nicht zurück ins Alte, doch das Neue ist ihm nicht verfügbar. Der Glaube erscheint als Drahtseilakt, als Gang über dem Abgrund zwischen Alptraum und höchster Virtuosität (vgl. Mk 6,45-52; Mt 14,22-33). Das Symbol für den Transit, das die Christen festhalten, ist das Untergetaucht-Werden, das Ertrinken oder Ersäufen des alten Menschen im Wasser der Taufe. Paulus beschreibt diese Transformation als tägliches Sterben und Auferstehen, als beständiges Leben im „Osterdurchgang“ (Roger Schutz): Er hält den Schatz seiner Christuserkenntnis „in irdenen Gefäßen“, indem „wir allezeit das Getötet-Werden Jesu an unserem Leib herumtragen, damit auch das Leben Jesu an unserem sterblichen Leib offenbar werde“ (2 Kor 4,10).
DIE KRISE DER ABWESENHEIT DES HERRN
„Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr“ (Lk 24,31). Der Auferstandene lässt sich nicht festhalten, er entzieht sich. Die Jünger „haben“ ihn nicht; die Auferstehung wird als real, aber als nicht verfügbar dargestellt. Zweifel und Unglaube, Furcht und Überforderung sind auch nach der Auferstehung nicht verschwunden (vgl. Lk 24,38f.). Selbst die Not des Glaubensverlustes, in apokalyptischer Sprache (vgl. Mk 8,38) als Glaubensabfall angesichts des „Gräuels“ (Mk 13,14) bedrängend vor Augen gestellt, war nach der Auferstehung keineswegs gebannt.
Die Auferstehung geschieht „im Entschwinden“. Ist sie deshalb ein flüchtiges Ereignis, das wie eine Seifenblase zerplatzt, wenn man es berühren will? Das Markusevangelium stellt sich dieser Frage mit besonderer Eindringlichkeit. Es endet wie ein modernes Theaterstück: offen, mitten in einer Krise. Das spiegelt, so die Markusforschung, die Krise, aus der heraus der Text des ältesten Evangeliums entstanden ist und auf die er eine Antwort geben will. Die Ursachen der Krise werden in unterschiedlichen Faktoren gesucht: im Trauma der Tempelzerstörung während des blutig niedergeschlagenen jüdischen Aufstands, im Traditionsabbruch durch das Sterben der Augenzeugen der Gründungsereignisse, in der Enttäuschung über die ausbleibenden Wiederkunft des Herrn oder in den Schwierigkeiten, die das Leben als Minderheit in den Städten des römischen Reiches mit sich brachte.
Die größte Krise bedeutete jedoch die Abwesenheit des Herrn. Wurde in der älteren Exegese die Anwesenheit des Auferstandenen als Grunddynamik im Neuen Testament betont, so spricht die gegenwärtige Exegese immer klarer von der Bewältigung der fundamentalen Abwesenheit des Herrn, die die urchristliche Theologie zu leisten hatte (vgl. Toit; Hübenthal). Der älteste Evangelist wird als besonders radikaler Theologe der Abwesenheit gesehen. Er ist es, der den Todesschrei Jesu als Schrei der Gottverlassenheit überliefert (vgl. Mk 15,34). Gottesnacht als grausame Realität. Seine Ostertheologie setzt diesem Schrei jedoch kein Happy End entgegen. Der Schock der Frauen am Grab wird nicht in einer Begegnung mit dem Auferstandenen aufgelöst – kein „er ist wieder da“ –, sondern durch das gesamte Evangelium hindurch gedeutet. Das folgt der Notwendigkeit, den Jesus, den man doppelt verloren hatte, sinnstiftend zu erinnern und erzählend zu vergegenwärtigen. Indem die Evangelien das Leben Jesu erzählen, umtasten sie das Geheimnis von Ostern. Die Evangelien geben dem Abwesenden einen literarischen Körper.
Indem die Evangelien das Leben Jesu erzählen, umtasten sie das Geheimnis von Ostern.
Der Engel schickt die Frauen nach Galiläa: „Dort werdet ihr ihn