Mit Engeln und Eseln. Andreas Knapp
sah, lächelte sie und erklärte Risgar in gebrochenem Kurdisch: „Das ist ein Feriste, ein Engel.“ – „Ein Engel?“, staunte Risgar ungläubig. Noch nie hatte er einen Engel gesehen. Und er dachte: Wenn Engel so aussehen, dann war auch Naze ein Engel gewesen. Sie hatte zwar keine Flügel. Aber oft hatte sie in der dunklen Hütte die Petroleumlampe angezündet und dann hatte ihr Gesicht immer so warm und hell geleuchtet. Bei diesen Gedanken musste Risgar weinen und Frau Krusche wurde für einen Augenblick unsicher, ob sie vielleicht etwas Falsches gesagt hatte. Doch Risgar weinte und lächelte zugleich. Da ahnte sie, dass er sich an jemanden erinnerte und dass noch ein großer Schmerz über das Verlorene in ihm wohnte. Frau Krusche blieb noch eine Weile schweigend sitzen und Risgar war ihr dafür dankbar.
Am nächsten Tag hatte Risgar seine Tochter nun doch bei der Nachbarin gelassen, um ins Stadtzentrum zu fahren. Am Hauptbahnhof stand er an einer Ampel und wusste zum Glück schon, wie eine solche funktioniert. Auf einmal trat eine rote Gestalt neben ihn, ein alter gebückter Mann mit einem riesigen weißen Bart und einer Mütze, unter der das ebenfalls schon silbergraue Haar in langen Locken hervorquoll. Auf dem gebeugten Rücken trug diese Gestalt einen großen Sack. Risgar war einen Augenblick lang verwirrt und unsicher. Dann wollte er ganz spontan dem Alten dabei helfen, den schweren Sack über die Straße zu tragen. Doch der Alte zog den Bart etwas beiseite und ein junges, lachendes Gesicht kam zum Vorschein. Jetzt war Risgar völlig durcheinander. „Ein Betrüger, der sich als alter Mann verkleidet!“, fuhr es ihm durch den Kopf. Er folgte der roten Gestalt in sicherer Entfernung, um zu beobachten, was dieser Mann wohl im Schilde führte. Als der Alte schließlich in ein Kaufhaus trat, eilte Risgar hinterher. Er sah, wie der rote Mann auf einer fahrenden Treppe nach oben entschwand. Flugs war auch Risgar auf dieser ungewohnten Treppe, doch da sah er mit Entsetzen, dass der Alte auf der anderen Seite schon wieder herunterkam. Jetzt verstand Risgar die Welt nicht mehr. Eben erst war der rote Mann dort oben um die Ecke herum verschwunden, und jetzt war er schon wieder nach unten gefahren. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen! Als Risgar oben ankam, sah er den Alten dort oben stehen. Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Das waren zwei rote Männer gewesen! Es handelt sich also um eine Bande. Aber was führen diese Betrüger im Schilde? Risgar konnte sich keinen Reim darauf machen. Da sich die roten Männer jedoch im Kaufhaus so ungeniert bewegten, war ihm klar, dass sie mit dem Chef des Einkauf-Centers unter einer Decke stecken mussten. Vielleicht handelte es sich um eine Art von Wächtern oder die roten Männer sollten einfach nur die Leute ins Kaufhaus locken. Das gelang ihnen anscheinend ziemlich gut, denn die Kaufhalle war brechend voll und alle Leute hasteten mit schweren Taschen beladen hin und her.
Als Risgar am Nachmittag ins Asylbewerberheim zurückkam, empfing ihn seine Nachbarin schon an der Haustür. Die beiden konnten sich zwar sprachlich kaum verständigen, aber Risgar sah am Gesicht der Sudanesin, dass etwas vorgefallen war. Schnell eilte er mit ihr zu Azade, die mit hochrotem Kopf in ihrem Bettchen lag. Risgar tastete nach der Stirn seiner Tochter und stellte fest, dass das Kind hohes Fieber hatte. Er rief sofort Frau Krusche an und die Nachbarin, die schon sehr gut deutsch konnte, erklärte der Sozialarbeiterin am Telefon, was vorgefallen war. Bald kam ein Kinderarzt und stellte fest, dass Azade wohl eine Grippe hatte, zum Glück jedoch nichts Gefährliches. Das Kind müsse jetzt im Bett bleiben, viel trinken und vor allem ein bestimmtes Medikament bekommen. Er schrieb den Namen der Arznei auf einen Zettel und war schon wieder verschwunden.
Risgar war ganz in Sorge. Die Nachbarin erklärte ihm, er müsse jetzt mit dem Zettel in eine Apotheke gehen, um das Medikament zu holen. Sie würde in der Zwischenzeit gerne auf Azade aufpassen. Schnell machte sich Risgar auf den Weg zur Apotheke in der Ratzelstraße. Doch diese war bereits geschlossen. Überhaupt fiel ihm jetzt auf, dass alle Geschäfte schon geschlossen waren. Dabei war gar kein Wochenende. Risgar fühlte sich auf einmal so schrecklich fremd in diesem Land, dessen Bräuche er nicht kannte und wo alles neu und ungewohnt war. Er kam sich ganz hilflos vor in dieser Nacht, in der zwar überall bunte Lichterketten leuchteten, die zugleich aber so kalt und unfreundlich war. Er brauchte jetzt das Medikament für seine Tochter und wusste nicht, wo er es finden sollte.
Da fiel ihm auf, dass irgendwo doch noch Licht brannte. Es war kein Geschäft, sondern ein merkwürdiger Laden, in dem die Männer immer an hohen, runden Tischen Bier tranken. Das Gebot Allahs verbot den Alkohol und daher hatte Risgar diesen Laden noch nie betreten. Jetzt aber öffnete er zaghaft die Tür und trat ein. Die wenigen Männer, die an einem der Tische standen, drehten sich um. „Ein Kümmeltürke!“, rief einer verächtlich. Risgar verstand den Ausdruck nicht, doch der Tonfall sagte ihm, dass er hier nicht willkommen war. Er wollte sich schon wieder umdrehen, als ein anderer Mann ihn ansprach: „Willst du ein Bier mit uns trinken?“ Risgar schüttelte den Kopf und streckte dem Fremden den Zettel hin. Dieser überflog das Rezept. „Die Apotheke hat schon geschlossen.“ Dann wandte er sich an die Bedienung: „Gib mir mal die Zeitung! Wegen der Bereitschaftsdienste.“
Nach kurzer Suche hatte er herausgefunden, welche Apotheke am 24. Dezember abends geöffnet war. Der Fremde zahlte sein Bier und ging Risgar voraus, der ihm mit unsicheren Schritten folgte. Sie bestiegen die Straßenbahn und eine Stunde später standen die beiden vor dem Asylbewerberheim. Risgar hatte das Medikament in die Tasche gesteckt. Einen Augenblick lang zögerte der Fremde, dann ging er mit hinein und brummte: „Wer weiß, ob hier jemand den Beipackzettel verstehen kann!“
Nachdem der Fremde die Anweisungen gelesen hatte, gab er Azade zwei kleine Löffel von dem merkwürdigen Saft aus der braunen Flasche, die sie in der Apotheke geholt hatten. Dann löschte Risgar das Licht. Der Fremde wollte gehen, aber Risgar lud ihn ein, mit in die kleine Küche zu kommen. Dort holte er ein Stück Brot und Käse aus dem Schrank und setzte Wasser für einen Tee auf. Die beiden konnten sich nicht unterhalten. Und doch spürten sie beim gemeinsamen Essen, dass sie in dieser Nacht etwas verband. Ein Kind hatte sie zusammengeführt und irgendwie waren sie einander nicht mehr fremd. Risgar blickte dankbar in die Augen des Fremden. Doch dieser zuckte nur mit den Schultern und lächelte. Auch Risgar lächelte. Dann wollten sie noch einmal nach Azade sehen. „Vielleicht schläft sie schon“, sagte der Fremde und deutete auf den Holzengel mit der Kerze. Risgar verstand sofort. Sie würden kein Licht machen, sondern nur mit der Kerze in das Zimmer von Azade eintreten. Leise schlichen die zwei bis ans Bett des Mädchens. Azade schlief. Im warmen Kerzenschein sahen die beiden, dass Azade ruhig und tief atmete. Die beiden Männer sahen lange in das Gesicht des schlafenden Kindes und Risgar spürte, wie sich seine Sorgen lösten. Dann schaute er in das Gesicht des Fremden, der die Holzfigur mit der brennenden Kerze in der Hand hielt, und dachte: „Jetzt weiß ich, wie ein Engel aussieht.“
adventskalender
tag für tag
schließt sich leise
ein türchen deines lebens
und deine möglichkeiten
fallen unwiderruflich
ins schloss
die verriegelte tür
in der mitte aber
du selbst
öffnest du dich
vielleicht schaut dich dann
überraschend ein kind an
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета