Der Schoppenfetzer und das Riesling-Attentat. Günter Huth
zuviel. Ihm fehlte die Abgebrühtheit eines Profis, und seine Nerven lagen ziemlich blank.
Er suchte die Toilette, die, wie er wusste, in einem der Seitengänge untergebracht war. Hier konnte er wenigstens ungesehen Licht anmachen und musste nicht in tiefster Dunkelheit ausharren. Der Strahl der Taschenlampe fand den Lichtschalter. Eine Sekunde später blendete ihn die grelle Deckenbeleuchtung. Er drehte den Wasserhahn auf und nahm einen Schluck Wasser. Sein Hals war ziemlich trocken. Anschließend öffnete er eine der Toilettenkabinen und ließ sich auf dem Klodeckel nieder. Nicht gerade bequem, aber besser, als auf dem kalten Fliesenboden zu sitzen.
Vorsichtig holte er den Bocksbeutel aus der Stofftasche und betrachtete das schon leicht verwitterte Etikett: 1937er Würzburger Stein Riesling Spätlese. Oben in der Mitte des Etiketts prangte der Reichsadler.
Während er den eiskalten Hauch der schlimmen Geschichte seiner Stadt spürte, dachte er darüber nach, was ihn, einen anständigen Studenten, dazu bewegt hatte, diesen Wein zu entwenden.
Gunnar van Jochem, der Eventmanager des Staatlichen Hofkellers, letzter Spross des aus dem deutsch-holländischen Grenzgebiet stammenden Handelsgeschlechts der van Jochem-Elten-Gummersbach, schaltete seinen Computer aus und streckte sich. In seinem Job, einem bayerischen Staatsweingut nach außen den Ruf eines fortschrittlich gemanagten Weinvermarktungsunternehmens zu verleihen, ließ es sich leider nicht vermeiden, Überstunden zu machen.
Er suchte auf seinem Schreibtisch nach seinem Terminkalender. Dieser war allerdings nirgendwo zu finden. Van Jochem dachte einen Augenblick nach. Verdammt, bestimmt hatte er den Organizer heute früh liegenlassen, als er im Fasskeller mit einem Verantwortlichen des Bayerischen Rundfunks über eine Veranstaltung im Keller des Weinguts verhandelt hatte. Er seufzte. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als noch einmal hinunter in den Weinkeller zu gehen. Er verließ sein Büro und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefe des Gebäudes. Eilig durchschritt er den Verbindungsgang.
Wenig später schlugen ihm die Kühle und der vertraute Duft des Weinkellers entgegen. Er schaltete das Licht ein und eilte durch die Gänge. Der Kalender lag tatsächlich auf dem kleinen Tisch am Kopfende des Fasskellers, an dem er mit dem Vertreter des Bayerischen Rundfunks ein Glas Sekt getrunken hatte. Er schnappte sich den Ringordner und machte kehrt.
Als er auf dem Rückweg an den Toiletten vorbeikam, stutzte er. Durch eine der Türritzen erblickte er einen Lichtschimmer. Offenbar hatte jemand vom Personal vergessen, in der Herrentoilette das Licht auszuschalten. Van Jochem öffnete die Tür und ging hinein. Sicherheitshalber sah er in die Kabinen hinein. Es war gelegentlich schon vorgekommen, dass Besucher des Kellers, die bei einer der großzügigen Weinproben zu tief ins Glas geschaut hatten, auf der Toilette eingeschlafen waren.
Ehe sich Van Jochem versah, kam aus einer der Kabinen eine männliche Person gestürmt und stieß ihn heftig gegen die Wand. Van Jochem seinerseits verfügte aber über ausgezeichnete Reflexe. Seine Hand schnellte instinktiv nach vorne und packte den Angreifer am Arm. Als der sich wehrte, fasste Van Jochem nochmals beherzt zu und zwang den Mann in den Schwitzkasten.
Der Angreifer war in seiner Gegenwehr sichtlich gehandicapt, weil er nur eine Hand einsetzte. In der anderen hielt er krampfhaft eine Stofftasche fest. Ein zusätzlicher Vorteil für den Manager. Wenig später gab der Fremde keuchend auf.
Van Jochem war ebenfalls ziemlich atemlos. „Sie bleiben hier und rühren sich nicht von der Stelle!“, stieß er erregt hervor. „Ich werde jetzt die Polizei verständigen.“
Der junge Einbrecher nickte, dann ließ er sich wie ein Häuflein Elend an den Kacheln der Wand herunterrutschen und blieb mit angezogenen Knien sitzen.
Van Jochem verließ die Toilette und schloss die Tür hinter sich ab. Dann eilte er zu einem der im Keller angebrachten Telefone und verständigte die Polizei.
Wie sich später bei der Vernehmung herausstellte, handelte es sich bei dem Straftäter um den sechsundzwanzigjährigen Studenten der Betriebswirtschaft Thorsten Fiedmann, mit festem Wohnsitz in Würzburg. Andere Angaben als die zu seiner Person machte er auf Anraten seines Anwalts nicht.
Es blieb also weiterhin ein Rätsel, warum der bisher unbescholtene junge Mann diesen merkwürdigen Einbruchdiebstahl begangen hatte. Da er einen festen Wohnsitz nachweisen konnte, wurde er nach der Vernehmung wieder auf freien Fuß gesetzt.
Der entwendete Bocksbeutel wurde als Beweisstück sichergestellt und wegen seines Wertes in einem Tresor der Polizeidirektion verwahrt. Kurze Zeit später landete die Anzeige gegen Thorsten Fiedmann nebst Beweis-Bocksbeutel bei der zuständigen Staatsanwaltschaft in Würzburg.
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