Aussöhnung im Konflikt. Jörg Seiler
Versöhnungsbotschaft führt zu dem Befund, dass die in der Publizistik häufig anzutreffende Gleichsetzung der Datierung des Briefes vom 18. November 1965 mit dem Zeitpunkt seiner vermeintlichen Zustellung nicht den Tatsachen entspricht. Offenbar verzögerte sich auf polnischer Seite die Übergabe der Einladungen an die nationalen Episkopate, so dass der geplante Termin (am Rande der feierlichen Konzilssitzung am 18. November) nicht eingehalten werden konnte und die Überbringung schließlich fünf Tage später stattfand.41 Die Zeitspanne zwischen der Datierung vom 18. November und der Veröffentlichung der Botschaft durch den deutschen Episkopat am 30. November 1965 verleitete die zeitgenössischen Beobachter dazu, der Story von der „Zustellungspanne“ Glauben zu schenken, da diese die Zeitlücke seit dem 18. November plausibel zu erklären erschien.
3. Die Legende vom Malheur
Abschließend bleibt zu klären, was die Bischöfe Kominek und Hengsbach bewogen haben mag, das angebliche Missgeschick bei der Briefübergabe öffentlich zu exponieren. Bei Erzbischof Kominek dürfte die Unterstellung seitens der deutschen Bischöfe, er habe die Botschaft der Presse zugespielt, nachhaltig gewirkt zu haben. Dies umso mehr, als der Breslauer Oberhirte dafür gesorgt hatte, dass Kardinal Frings als noch amtierender Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz bereits einige Tage vor der offiziell geplanten Übergabe der Versöhnungsbotschaft (am 18. November) eine Vorabversion derselben erhielt. Am 27. November 1965 wies Kominek Döpfner erneut darauf hin, dass Frings „denselben Text […] schon vor etlichen Tagen“ zugestellt bekam, wobei sich Kominek hier auf die Fassung des oben erwähnten „Quasioriginals“ vom 1. November 1965 bezog. Von zwei kleinen sprachlichen Verbesserungen abgesehen, ist dieser Text identisch mit dem offiziellen, unter dem 18. November 1965 autorisierten Brief des polnischen Episkopats.42 Der Vorabtext vom 1. November stellt demnach den abschließenden und letztgültigen Entwurf der Botschaft dar, der im Anschluss an eine Rücksprache mit den deutschen Bischöfen der kleinen Kommission vom Ende Oktober entstand und welcher deren Verbesserungsvorschläge und Ergänzungen enthält.43 In den beiden ersten Novemberwochen gab Kominek den Brief zur weiteren Begutachtung einigen polnischen Geistlichen. Doch deren mündliche wie schriftliche Stellungnahmen und Anmerkungen konnten nicht mehr berücksichtigt und eingearbeitet werden.44 Kominek soll „um den 17.-18. November“ veranlasst haben, den Brief unverändert, d.h. in der Fassung vom 1. November, abzuschreiben und zur Übergabe vorzubereiten.45 Wahrscheinlich ahnte Kominek zu diesem Zeitpunkt, dass man den anvisierten Übergabe-Termin (18. November) verfehlen werde und ließ Frings vorweg den Brief mit Datum 1. November zukommen.46
Folgt man den Beteuerungen Komineks vom 27. November, wonach Frings „denselben Text […] schon vor etlichen Tagen“, also vor der Abgabe des offiziellen Schreibens, zugeleitet bekam, so wird verständlich, weshalb der Breslauer Erzbischof den an ihn gerichteten Vorwurf einer gezielten Lancierung der Botschaft an die Pressevertreter vehement von sich wies. Um dies zu bekräftigen, händigte Kominek am besagten 27. November Kardinal Döpfner und Erzbischof Bengsch sowie den drei deutschen Bischöfen der kleinen Kommission, Hengsbach, Spülbeck und Schröffer, eine Abschrift des polnischen Versöhnungsbriefes mit der Datierung vom 1. November (!) aus.47 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Kominek einerseits deutlich machen wollte, der Text der Botschaft sei noch vor dem Durchsickern an die Presse an den Vorsitzenden der Fuldaer Bischofkonferenz gegangen; andererseits wird ersichtlich, dass Kominek irrtümlicher Weise annahm, dass die Vorwegfassung – und nicht die offizielle Botschaft – in der Post von Kardinal Frings mehrere Tage unbemerkt gelegen habe. Daraus lässt sich konkludieren, dass nach Kominek die vermeintliche ‚Panne‘ bei der Übergabe des Briefes nicht das offizielle (vom 18. November datierte) Dokument betraf, sondern sich auf die Fassung vom Anfang November bezog.
Die deutschen Bischöfe versäumten hingegen, rechtzeitig ein Antwortschreiben vorzubereiten. Die Mitglieder der sog. kleinen Kommission besaßen bereits seit Ende Oktober genaueste Kenntnis über den Inhalt der polnischen Botschaft, erkannten aber die Notwendigkeit, dass ihre Antwort noch vor Abschluss des Konzils abgefasst und übergeben werden soll, wohl zu spät. Es scheint, als ob sie von diesem Versäumnis mittels der bekannten Anekdote, die Bischof Hengsbach persönlich öffentlich kolportierte, abzulenken suchten. Womöglich bedienten sie sich dabei einer wahren Begebenheit, die sich am 24. November 1965 im Kreis deutscher Konzilsteilnehmer zutrug und die Hengsbachs Sekretär im Tagebuch festhielt:
„Hauptthema des Tages: Jagd nach dem Papstbrief an Frings wegen Adveniat. […] Leider sagte mir Dyba, daß er schon am Tag zuvor abgegeben sei. Ich habe dann heute in der Anima versucht herauszufinden, ob er bei der Post des Kardinals [Frings] lag (der ist in Köln, weil er sich überhaupt nicht erholt hat […]). Prälat Stöger hatte Schwierigkeiten in sein Zimmer zu gehen, Oberin wußte schließlich, daß Teusch alle Briefe kriegt, der war in Neapel […].“48
Die Erzählung vom angeblichen Malheur bei der Zustellung des Briefes half in der Folgezeit beiden Seiten. Erzbischof Kominek konnte durch den Verweis auf den seit „etlichen Tagen“ bei Frings befindlichen und unbemerkten Vorwegbrief sich dem Vorwurf entziehen, er habe den Text der Presse zugeleitet, bevor die Botschaft dem deutschen Episkopat übergeben wurde. Die deutschen Bischöfe, insbesondere Bischof Hengsbach, konstruierten mit dieser Begebenheit hingegen einen angeblichen Zeitdruck bei der Vorbereitung des Antwortschreibens und lenkten somit von ihrem Versäumnis ab, keine frühzeitigen Überlegungen hinsichtlich der erwarteten Entgegnung angestellt zu haben.
1 Vgl. K. Ruchniewicz, Versöhnung - Normalisierung - Gute Nachbarschaft, in: A. Lawaty / H. Orlowski (Hgg.), Deutsche und Polen. Geschichte - Kultur - Politik, München 2003, 95-107, hier 104.
2 Vgl. Erzbischöfliches Archiv München / Kardinal-Döpfner-Archiv (EAM/KDA), 43/1966, Kominek an Döpfner vom 22.1.1966.
3 Vgl. EAM/KDA, Sign. 43/1966, Döpfner an Kominek vom 20.1.1966, o.S.
4 Vgl. A. Stempin, W potrzasku polityki [In der Politfalle], in: ZNAK, Nr. 608/2006; W. Borodziej, „Wir gewähren Vergebung und bitten und Vergebung“. Entstehungsgeschichte und Nachwirkungen des polnischen Bischofsbriefes von 1965, in: Fr. Boll (Hg.), „Wir gewähren Vergebung und bitten und Vergebung“. 40 Jahre deutsch-polnische Verständigung (= Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung, H. 68), Bonn 2006, 21-32, hier 28; K.-J. Hummel, Der Heilige Stuhl, deutsche und polnische Katholiken 1945-1978, in: AfS 45 (2005), 165-214.
5 Vgl. E. Heller, Macht, Kirche, Politik. Der Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen im Jahre 1965, Köln 1992, 109.
6 Vgl. Wokół orędzia. Kardynał Bolesław Kominek. Prekusor pojednania polsko-niemieckiego [Im Umfeld der Versöhnungsbotschaft. Kardinal Bolesław Kominek. Wortführer deutschpolnischer Versöhnung], Red. W. Kucharski und G. Strauchold, Wrocław 2009, Dok. Nr. 35, 291.
7 Die Briefe der Bischöfe, in: Die Zeit, Nr. 51 vom 17.12.1965; Auch Weihbischof Schaffran berichtete öffentlich über das Missgeschick der Briefübergabe. N. Trippen, Josef Kardinal Frings (1887-1978), 2 Bde, Paderborn u.a. 2003, hier Bd. II, 496. Der Bischof von Hildesheim, Josef Homeyer, der seit 1982 für die DBK den Kontakt zum polnischen Episkopat unterhielt, hatte mehrfach diese „Panne“ bei diversen Anlässen wiedergegeben. Noch 2005 gab Homeyer in Form eines Zeitzeugen den vermeintlichen Wortwechsel zwischen Kominek und dem Direktor des Priesterkollegs S. Maria dell’Anima in Rom wieder, der sich am Abend der Briefzustellung zugetragen haben soll. Interview mit Bischof Josef Homeyer, in: B. Kerski / Th. Kycia /R. Żurek (Hgg.), „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe und seine Wirkung (Veröffentlichungen der deutsch-polnischen Gesellschaft, Bd. 9), Osnabrück 2006, 72.
8 Vgl. ebd., 72; Die Briefe der Bischöfe (wie Anm. 7).
9 Vgl. E. Heller, Macht, Kirche, Politik (wie Anm. 5), 109; R. Żurek, Odpowiedź biskupów niemieckich na Orędzie biskupów polskich [Die Antwort der deutschen Bischöfe auf die Botschaft der polnischen Bischöfe], in: Wokół Orędzia (wie Anm. 6), 124.
10 Vgl. E. Heller, Macht, Kirche, Politik (wie Anm. 5), 109.
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