Aussöhnung im Konflikt. Jörg Seiler
früh. Auch der Besuch 1978 verlief zunächst noch in den alten Bahnen. Die vertrauten Themen der Vergangenheit wirkten immer noch wie eine nicht abgelöste Hypothek. Die Gespräche drehten sich um die Pflege deutscher Kriegsgräber und allgemein der deutschen Gräber in Polen, um die Möglichkeit zu deutschsprachiger Seelsorge, um gemeinsame Wallfahrten. Um das Problem der Kirchenglocken oder die Zusammenarbeit katholischer Wissenschaftler und Theologen aus beiden Ländern, sowie um die „facultates specialissimae“, die Sonderbefugnisse für Kardinal Hlond, die angeblich von den Päpsten Johannes XXIII. und Paul VI. gegenüber Primas Wyszyński erneuert worden waren.
Für den Erfolg des damaligen Zusammentreffens war dann entscheidend, dass es beiden Seiten – unterstützt durch das bei dieser Begegnung neu entstandene Vertrauen – doch noch gelang, den zukunftsgerichteten Auftrag der Kirche in beiden Ländern als Schwerpunkt herauszustellen. Die beiden Vorsitzenden der Bischofskonferenzen machten mehrfach deutlich, dass die Gestaltung der Zukunft wichtiger sei als der Streit um die Vergangenheit.
„Unsere Kirchen haben die Pflicht“, sagte der Primas zum Abschluss, „das Zusammenleben und die Zusammenarbeit der Nationen auf den Grundprinzipien der christlichen Sittenlehre aufzubauen. Man kann nicht immer in die Vergangenheit zurückblicken, obwohl man sich ihrer erinnern muss, um keine Fehler zu wiederholen.“65
In den Worten Kardinal Höffners hieß dies:
„Es ist unsere tiefe Hoffnung und Überzeugung, dass der Besuch des Primas von Polen bei uns in Deutschland der Ausgangspunkt für eine neue Epoche in unseren Beziehungen und für Europa ist.“66
Kardinal Wojtyła ließ ebenfalls keinen Zweifel:
„Wir sind heute da, um durch die vielen Jahrhunderte hindurch zu unserem gemeinsamen ‚Anfang‘ zu gelangen. […] Ich habe die Hoffnung, dass die Begegnung einen regeren und auch tieferen Austausch der Güter in Gang setzen wird, welche das Leben unserer Kirchen und unserer christlichen Völker formen. […] Ich bin überzeugt, dass dies zur Gestaltung eines neuen Antlitzes Europas und der Welt beitragen wird zur nahenden Jahrhundert- und Jahrtausendwende.“67
Die beiden Bischofskonferenzen vereinbarten damals – auf Vorschlag von Karol Wojtyła – eine bis zum heutigen Tag aktive gemeinsame „Kontaktgruppe“ einzurichten, um künftig die gegenseitige Information zu verstetigen und zu intensivieren. Wojtyła wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass er wegen Terminschwierigkeiten, die durch den Tod Papst Pauls VI. und das sich anschließende Konklave entstanden waren, seine Zusage nicht einhalten konnte, gemeinsam mit Mutter Teresa am Freiburger Katholikentag teilzunehmen (13.17.9.1978). Das Motto des Katholikentreffens lautete: Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben. Nur wenige Wochen später – am 16. Oktober 1978 – wurde Kardinal Wojtyła zum Papst gewählt. Der Besuch in Deutschland von 1978 markierte so auch aus weltkirchlicher Sicht nicht nur ein Ende, sondern auch einen in dieser Form völlig unerwarteten Anfang einer grundlegend neuen Phase vatikanischer Politik, deren Gestaltung der neue Papst sich selbst vorbehielt. Der neue Kardinalstaatssekretär Erzbischof Casaroli hatte Außenminister Genscher schon kurz nach dem Amtsantritt des polnischen Papstes gesagt:
„Herr Minister, wir brauchen uns jetzt über die Fragen, über die wir uns in der Vergangenheit gestritten haben, nicht mehr zu streiten. Bei diesem Papst werden Sie immer recht bekommen.“68
8. Papstbesuch 1980
Die Vorbereitungen für den Besuch Johannes Pauls II. 1980 verliefen nicht in allen Bereichen problemfrei und geräuschlos. Zurecht ging man von einer grundsätzlichen Sympathie der großen Mehrzahl der deutschen Katholiken für den Papst und für die Person Karol Wojtyła aus. In dem skandierten Ruf „Johannes Paul II. – wir stehen an Deiner Seite“ drückte sich bereits bei seiner Ankunft auf dem Flughafen eine spontane emotionale Zustimmung aus.
Die offiziellen diplomatischen Beziehungen verliefen ebenfalls korrekt. Das persönliche Verhältnis des protestantischen Bundeskanzlers Helmut Schmidt zu Karol Wojtyła war dagegen zumindest vorbelastet. Schmidt hatte im November 1977 Polen besucht und dabei auf Rat des Wiener Kardinals Franz König auch einen Besuch in Krakau eingeplant. Dabei habe der damalige Erzbischof von Krakau es „vorgezogen“, erinnert sich Schmidt, „statt eines von mir vorgeschlagenen ‚zufälligen‘ Treffens in seiner Kathedrale mich durch einen hohen Geistlichen begrüßen zu lassen“, „um nicht unnötig Konflikte mit der Regierung in Warschau heraufzubeschwören.“69 Helmut Schmidt fühlte sich dadurch so gekränkt, dass er die Episode mehrfach schriftlich und mündlich festgehalten hat und nach der Wahl des polnischen Papstes Johannes Paul II. und dem polnischen Staats- und Parteichef Gierek gratulierte.
Der Bundeskanzler konnte auch die Haltung Johannes Pauls II. in der Frage der Empfängnisverhütung nicht verstehen. Der Papst sei für seine Argumente unzugänglich geblieben, obwohl er ihm im persönlichen Gespräch mehrere Male versucht habe, „den Circulus vitiosus zwischen Bevölkerungsexplosion, Unterentwicklung und Massenelend zu erklären.“70 Helmut Schmidt fühlte sich gleichwohl und trotz seiner kritischen Bemerkungen „durch die Gottergebenheit und Warmherzigkeit“ des Papstes fasziniert und empfand „menschliche Sympathie.“71
Im deutsch-polnischen Verhältnis hatte im Dezember 1979 ausgerechnet ein katholischer Politiker durch ein Interview im Nachrichtenmagazin Der Spiegel heftige Angriffe provoziert, der zu den engagiertesten Vertretern der Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen gehörte: Hans Maier, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.72 Maier hatte nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundvertrag in seiner Eigenschaft als bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus darauf bestanden, dass in allen Karten in Schulbüchern dort, wo politische Grenzen eingezeichnet waren, die Grenzen des Reiches vom 31. Dezember 1937 markiert wurden, um deutlich zu machen, dass über die damalige staatsrechtliche Zugehörigkeit von z.B. Breslau oder Königsberg friedensvertraglich noch nicht entschieden war. Seine Kritiker in Polen und in Deutschland forderten dagegen, sich an die Empfehlung der deutsch-polnischen Schulbuchkommission anzuschließen und „von den gegenwärtigen Realitäten auszugehen.“73
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hatte seit dem Briefwechsel in der Konzilsaula 1965 zu jedem Katholikentag eine Delegation polnischer Katholiken eingeladen und begrüßen können – erstmals in Bamberg 1966. Einmalig 1980 – auf dem Berliner Katholikentag (4.-8. Juni 1980) – waren die polnischen Katholiken nicht mit führenden Repräsentanten vertreten – aus Protest gegen die Position Hans Maiers in der Frage der politischen Landkarten in den Schulbüchern.
Formeller Anlass der Papst-Reise war der 700. Todestag von Albertus Magnus, der am 15. November 1280 verstorben war und in Köln begraben liegt. „Er war einer der größten Geistesmenschen im 13. Jahrhundert. Er hat wie kaum ein anderer das ‚Netz‘ geknüpft, das Glaube und Vernunft, Gottesweisheit und Weltwissen miteinander verbindet.“74 Der Papst ehrte mit Albertus Magnus aber nicht nur den Wissenschaftler. „In ihm ehre ich zugleich den Genius des deutschen Volkes, ehre ich vor allem die katholische Kirche dieses Landes, die wie in der Vergangenheit bis in unsere Tage ein hoch angesehenes und lebendiges Glied der Weltkirche geblieben ist.“75 Das uneingeschränkte – „wie in der Vergangenheit bis in unsere Tage“ – aus dem Mund des ehemaligen Erzbischofs von Krakau, in dessen Diözese das Vernichtungslager Auschwitz lag und der freiwillig zum Zwangsarbeiter in Polen wurde, um der wahrscheinlichen Deportation ins Reich zu entgehen, überraschte in seiner Eindeutigkeit auch diejenigen, die um das Urteil des Zeitzeugen Wojtyła über die Vergangenheit besser Bescheid wussten.
Für Papst Johannes Paul II. überwogen die Hoffnungen auf die Zukunft die Ängste wegen der Vergangenheit. Er erinnerte auch jetzt noch einmal an den Besuch der polnischen Bischöfe in Deutschland 1978, der zu dem, wie sich inzwischen herausgestellt hat, nicht mehr umkehrbaren Paradigmenwechsel in den deutsch-polnischen Beziehungen von der Vergangenheit zur Zukunft geführt hatte, und rief dazu auf, in den Friedensbemühungen nicht nachzulassen,
„durch die auch Ihr Land zur weltweiten Völkerverständigung maßgeblich beizutragen sucht, mit besonderer Freude (hebe ich) die wachsende Verständigungsbereitschaft zwischen Ihren Bürgern und dem polnischen Volk hervor. Hierbei gebührt bekanntlich