Den Gottesfaden erkennen. Hermann Schalück

Den Gottesfaden erkennen - Hermann Schalück


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Wir leben in den Welterfahrungen der Jesusbewegung, die Verstand und Poesie, Rückgrat und Beweglichkeit, Charme und Begeisterungsfähigkeit hat. Auch Franz von Assisi war davon gepackt.

      Sich der Geschichte Gottes zu erinnern stiftet wahrhaft Leben, stärkt uns den Rücken, weitet den Horizont und gibt, bei aller Mutlosigkeit und Enttäuschung, eine ungemeine Kraft.

      1. Wurzeln und Visionen

      Vor vielen Jahren versuchte ein junger Taxifahrer bei einer Taxifahrt in Xian (China) in rudimentärem Englisch mein Alter zu schätzen. Ich war gerade fünfzig geworden. Er aber meinte: Du bist sechzig oder siebzig. Ich war irritiert. Sehe ich wirklich so alt aus? Sind seine Augen schuld? Der Chinese gab mir jedenfalls zu denken: Wie viel Leben hast du in dir? Welches Leben? Tragen dich noch gute Erwartungen, helle Ziele oder drücken dich schlechte Erfahrungen? Zeigt meine Lebenslinie aufwärts oder läuft sie nach unten? Was erwarte ich?

      Ein Eintrag in mein Tagebuch vom März 1999 lautet: „Warum ich eines Tages alle diese Bruchstücke meines Lebens zusammentragen werde? Ich möchte den roten Faden erkennen, den ich nicht immer sehe. Tiefenschichten möchte ich ausleuchten in all dem Lauten und Oberflächlichen. Die Spuren von Gottes Geist nachzeichnen. Auferstehen aus manchem dunklen Tal. Lass dir mit Christa Wolf sagen: ‚Wenn du aufhörst zu hoffen, kommt, was du befürchtest, bestimmt‘.“

      Ich lese immer wieder gern diese Zeilen von Hans Magnus Enzensberger: „Die Frage, ob es mit dem Strom oder gegen ihn zu schwimmen gilt, scheint mir veraltet, weil sie eine unerträgliche Vereinfachung voraussetzt. Ergiebiger scheint mir das Verfahren des Seglers zu sein, der sowohl mit dem Wind wie gegen ihn kreuzt. Ein solches Vorgehen, auf die Gesellschaft bezogen, erfordert extreme Aufmerksamkeit und stoischen Unglauben. Wer auch nur das nächste Ziel erreichen will, muss Zug um Zug mit tausend unvorhersehbaren Größen rechnen und darf sich keiner von ihnen anvertrauen.“1

      Thomas Merton unterscheidet einmal seekers von dwellers, d. h. Suchende von solchen, die einen festen Platz eingenommen haben.2 Die dwellers bevorzugen feste Plätze und fühlen sich eigentlich nur innerhalb ihres bekannten Territoriums sicher. Es ist für sie heilig, ihre Spiritualität bewegt sich in der Regel in Bahnen, die von der Tradition gesichert sind. Natürlich werden auch sie von Veränderungen berührt, aber sie bleiben fest verankert. Im Gegensatz dazu erkunden die seekers neue Perspektiven. Sie bewegen sich innerhalb alternativer und zuweilen unübersichtlicher Systeme des Glaubens und seiner Praxis. Das Heilige ist für sie fließend und übertragbar, Spiritualität ist ein Prozess, ein Zustand des ständigen Werdens. Ihre Sprache passt sich dieser Erfahrung an. Eine Vision ist eine Quelle neuer Dynamik und der Beginn eines neuen Aufbruchs.

      Paul Michael Zulehner ist überzeugt, dass die Vision die einzig wirksame Gegenkraft gegen Resignation ist.3 Visionen sind also alles andere als überflüssig. Sie sind notwendig, um immer wieder zu spüren, was in unserer Welt und in der Kirche nicht richtig und nicht gerecht ist. Zu spüren auch, dass wir manches aus eigenem Vermögen allein gar nicht ändern können. Sie sind – biblisch gelesen – Gottes Einladung, uns von der Dynamik des Reiches Gottes tragen zu lassen. Sie sind und bleiben damit auch eine Kraftquelle zur Veränderung dessen, was von Menschen verändert werden kann und muss, und zugleich eine Quelle der Hoffnung auf das, was nur Gott allein bewirken kann.

      Neben der westfälischen Heimat hat mich der Mittelmeerraum geprägt. Fast fünfzehn Jahre in Rom haben mich empfänglich gemacht für Nuancen des Lichtes und wahrscheinlich auch empfindlicher gegen innere und äußere Kälte und Dunkelheit. Ein besonders helles mediterranes Licht jener Jahre legt sich nicht auf Rom, sondern auf eine Insel – auf ein internationales Treffen des Ordens in Baħar iċ-Ċagħaq (Malta). Ich spüre noch immer die Nähe des Meeres und sehe vor mir das kristallklare Wasser, in dem ich in freien Stunden waten konnte. Die frühlingshaft kühle, salzhaltige, prickelnde Atmosphäre einer Insel kann so vieles – streicheln, besänftigen, von innerem Schmutz reinigen, ermutigen, aufwecken, Blicke weiten, spirituelle Koordinatensysteme in Erinnerung bringen. Die klare, noch nicht vor Hitze kochende und flirrende Luft und das klare Blau des Himmels luden zur Kontemplation der Schönheit von Gottes Schöpfung und zugleich zu verantwortungsvoller Arbeit an der Zukunft des Ordens ein.

      Wir hatten in Malta die Aufgabe, die vergangenen Jahre zu evaluieren und für alle Brüder ein Dokument vorzubereiten, das in frischer Weise aufzeigen sollte, zu welchen zeitgemäßen Formen des Dienstes und „zu welcher Hoffnung“ franziskanisch inspirierte Menschen in der gegenwärtigen Zeit berufen sind (vgl. Eph 1,18). Eine Insel ist ein geeigneter Ort, um weite Horizonte in den Blick zu nehmen. Ich sagte zu Beginn: „Visionen sind wie Sterne im Dunkel. Du kannst sie nie erreichen. Aber wir können uns auf sie als Wegweiser verlassen.“ Meine Grundüberzeugung damals wie heute noch ist ja: Visionen im biblischen Sinn sind mehr als klug erdachte menschliche Pläne. Visionen kommen aus der Tiefe, aus „Geistes Gegenwart“ in jedem Menschen. Eine Vision ist eine Quelle neuer Dynamik und der Beginn eines neuen Aufbruchs.

      Helle Andenken aus der Kindheit – Lerchen in azurblauen sommerlichen Morgenstunden. Irgendwo zwischen Gras, Korn und Pflanzen schaffte mein Vater im weiten Areal. Ich träumte gern vor mich hin, schliefim Heu und lauschte auf die Laute und Stimmen ringsum. Immer wieder stieg eine Lerche mit einer jubelnden Melodie senkrecht in die Höhe, verweilte wie an einem Faden hängend Momente in der Luft, die vor Hitze zu zittern begann, um sich dann wie ein Stein fallen zu lassen und sich wieder irgendwo am Boden unsichtbar zu machen. Momente vollkommenen Daseins, reiner und ungetrübter Gegenwart, sinnlicher Erfüllung. Sie fließen in der heutigen Erinnerung dahin wie von Schwingen getragene sanfte Klaviermusik von Chopin oder Rachmaninow. Das ist wohl das wahre Glück, nicht nur der frühen Jahre – ich bin in der Welt, und die Welt ist in mir. Alles ist gut. Gott ist nicht fern. Wie eine warme Sonne umhüllt er seine Welt – und auch mich.

      Aus meiner Kindheit und Jugend im Dorf klingt auch oft das Lied vom Auferstehungsgottesdienst am ganz frühen Ostermorgen um fünf Uhr herüber: „Der Leib ist klar – klar wie Kristall – Rubinen gleich – die Wunden all.“ Auch von meinem Leben in meiner Ordensgemeinschaft und meinen Pilgerfahrten auf den Straßen der Welt nehme ich unzählige Momente von Licht und Glück und Erwartung und Lebensbejahung mit. Zuweilen scheint es mir, dass ich wieder auf einem Flug nach China bin, und vor meinen Augen tut sich ein Schwindel erregendes Bild auf, ein „Durchblick“ durch gewaltige, von der Morgensonne beschienene Wolkengebirge, auf die hohen Gipfel und in die tiefen Schluchten des Himalaya. Dann wieder höre ich noch heute das unaufhörliche Geplauder des kleinen afrikanischen Bruders Kizito, Student an der Fakultät des Ordens in Lusaka. Er wollte mich unbedingt beim Jogging am Rand der Savanne begleiten, „damit du“, wie er bibelfest erklärte, „nicht auf Schlangen trittst und deinen Fuß nicht an einem Stein verletzt“ (Ps 91,11 f.). Da ist weiter die Erinnerung an den Novizen Luis Martín, der am Pool in Querétaro (Mexiko) über mein Wohlergehen zu wachen hatte, während ich mich von den Reisestrapazen erholte. Oder jene Miniklinik in David, einer Kleinstadt in Panama, wo mir am Abend ein argentinischer Chirurg (der mich sogleich freundschaftlich duzte) eine schmerzhafte Entzündung behandelt hatte und wo ich darauf eine ruhige Nacht verbrachte. Der afro–amerikanische Bruder, Francisco – genannt „el negrito“ – war in jener Nacht mein Schutzengel.

      Ja, viele freundliche Gesichter von Männern und Frauen, viele Erfahrungen von befreiender Gnade begleiten mich bis heute. Mit zunehmendem Alter besuchen mich jedoch auch andere Bilder, Erinnerungen an Wunden im eigenen Leben wie von Welt und Kirche. Da ist stellvertretend jenes unbeschreibliche Bild von Schlamm und zerstörten Häusern und weit ins Land gespülten Schiffen, das ich bei einem Besuch unmittelbar nach dem Tsunami vom Jahre 2004/2005 in Banda Aceh (Sumatra) vor mir sah. Meine nächtlichen Traumbilder sind unruhiger geworden. Sind das Assoziationen an imaginäre, vielleicht innerlich befürchtete Tsunamis und andere Katastrophen, in meinem Leben, in meiner Familie, in Kirche und Orden? Manchmal sehe ich Labyrinthe und verschlossene Türen, schwarze Löcher und wirres Durcheinander.

      Wahrscheinlich ist Innehalten, d.h. ein kontemplatives Ver-Innerlichen, das der ständigen Gegenwart des Geistes gewiss ist, der beste Weg, helle wie


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