Vom Beten zur Kontemplation. Leonhard Lehmann
und jeder hat sicher schon Menschen beten gesehen, zumindest im Fernsehen. Meistens sind es Muslime, die beim Freitagsgebet in der Moschee gezeigt werden. Christen sind zurückhaltender geworden, wenn es um das Beten in der Öffentlichkeit geht. Zwar läuten morgens, mittags und abends die Glocken, und die eine oder der andere weiß noch, dass sie zum „Angelus“, zum „Engel des Herrn“, einladen; der eine oder die andere wird daheim, im Krankenhaus oder Altersheim der Einladung auch folgen und den Engel des Herrn beten, wie sie und er es von Kind auf gelernt haben. Doch ein öffentliches Gebet, bei dem früher die Arbeit unterbrochen wurde und die Männer den Hut abnahmen, ist es nicht mehr. In der Öffentlichkeit zu beten ist unüblich, ja unschicklich geworden, für manche gar verpönt; es gehört sich nicht. Als ich zur Schule ging, begann der Lehrer den Unterricht mit einem Gebet, in den höheren Klassen ließ er uns Schüler selbst vorbeten, wobei jeder einen Text wählen oder frei formulieren durfte. Am humanistischen Gymnasium in den 1960er Jahren erlebte ich dann, wie der Latein-Lehrer das Vaterunser auf Latein, der Griechisch-Lehrer dasselbe Gebet auf Griechisch mit uns betete, je nachdem, ob Latein oder Griechisch in die ersten zwei Stunden des Tages fiel; später, als wir auch Englisch dazubekamen, lernte ich vom evangelischen Lehrer das Vaterunser auch auf Englisch. Rituale wie das Morgengebet, das Entzünden der Kerzen am Adventskranz, das Basteln von Strohsternen, das Sternsingen, die Osterkerze, das Lernen von Liedern im Lauf des Kirchenjahres und vieles andere mehr gehörte zum Schulprogramm. Heute bin ich dankbar dafür; auch meine Schulkameraden sind es, oder wenn sie sich nicht lobend äußern, so sagen sie doch: „Es hat uns nicht geschadet.“
Was zu meiner Schulzeit noch selbstverständlich war, wurde dann ab der Studentenrevolte 1968 immer mehr in Frage gestellt, kritisiert, abgelehnt – im Namen der Freiheit, der Individualität, der Neutralität des Staates und der Toleranz gegenüber anderen Religionen. Das sind zweifellos hohe Werte. Sie schließen aber ein öffentliches Glaubensbekenntnis nicht aus, solange dieses andere Bekenntnisse neben sich zulässt. Die Religions-, Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit sind von unserem Grundgesetz garantiert. Sie gehören zur Demokratie.
Seitdem in der Französischen Revolution die Vernunft (ratio) auf den Altar gestellt wurde und die Wissenschaften nur zulassen, was vernünftig ist, was mit der Vernunft begründet und bewiesen werden kann, herrscht ein Rationalismus, der den Glauben an einen personalen Gott ins Hintertreffen geraten lässt. Der Staat übernahm die Führung und drängte die Kirche ins Abseits, in die Sakristei. Gottesdienste durfte sie feiern, aber nicht mehr in Schule und Staat mitmischen. Das führte ab 1803 zur bekannten Säkularisation: Der Staat nahm Grund und Boden von Bistümern, Abteien, Klöstern und Stiften an sich, enteignete die kirchlichen Institutionen, zuerst die reichen, dann auch die armen Klöster. Das hatte durchaus etwas Gutes an sich, indem die Kirche der weltlichen Macht beraubt wurde, aber insgesamt hatte die Allgemeinheit kaum etwas davon. Die Chance einer demokratischen Bodenreform wurde verpasst. Es bildete sich das Sprichwort: „Unter dem Krummstab (des Abtes oder Bischofs) lebt sichs besser als unter des Kaisers Krone.“
Von jener Säkularisation von oben, von der sich die Kirche relativ rasch erholt hat, ist die Säkularisierung zu unterscheiden, die seit den 1980er Jahren immer schneller um sich greift: Christinnen und Christen verabschieden sich von ihrer Kirche, bleiben lautlos weg, lassen ihre Kinder nicht mehr taufen. Wäre es nur eine Kritik an der bestehenden Kirche, dann würde man ja noch protestieren, alternative Formen suchen (die es ja auch gibt) und den Glauben auf neue Weise ausdrücken. Den Umfragen zufolge greift die Säkularisierung tiefer; sie trifft das Glauben an sich und den Glauben an Gott, d.h. immer weniger Menschen glauben an einen Gott und noch weniger an das, was christlicher Glaube beinhaltet: die Dreifaltigkeit, die Schöpfung, Erlösung und Wiederkunft Christi. Hat das Weihnachtsfest im deutschen Gemüt noch einen gewissen Stellenwert, so verflacht Ostern zu einem Frühlingsfest. Dass der Gottesglaube abnimmt, hat wohl durchaus mit dem zu tun, was uns seit Jahrzehnten vor Augen geführt wird: Krieg, Terror im Namen Gottes. Daran sei der Monotheismus schuld, der die eine Religion gegen die andere kämpfen lasse, ja zum Kampf auffordere. Dieser Erklärungsversuch kommt bei der gebildeten Mittelschicht gut an. Wie sonst lassen sich die hohen Verkaufszahlen von Peter Sloterdijks Buch Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen erklären? Nach seiner Auffassung enthalten die Schriften des Judentums, des Christentums und des Islams zu viele Passagen, die Gewalt rechtfertigen und provozieren, weil jede dieser Religionen behauptet, die einzig wahre zu sein. Außerdem präsentieren sie nach seiner Meinung einen Gott mit unerträglichen Eigenschaften wie Zorn, Eifersucht und Grausamkeit. Diese monotheistischen Religionen hätten politisch die Monarchie gestützt und religiöse wie weltliche Hierarchien herangebildet, die hinter uns zu lassen uns erst die Aufklärung gelehrt habe; diese habe den Menschen als Individuum und als autonom entdeckt. Die drei genannten Religionen, selbst wenn sie heute noch zahlenmäßig viele Anhänger hätten, würden sich also auf Dauer nicht halten, ja sie würden schmelzen wie Schnee in der Sonne. Kein Wunder, dass Sloterdijk auf sein Buch Gottes Eifer letztes Jahr ein weiteres folgen ließ mit dem Titel Nach Gott (Berlin 2017). Denn seiner Meinung nach bleibt auch nach dem langsamen Abschied von Gott etwas erhalten: die Religion. Eine Religion, mit oder ohne Gott, stiftet Sinn, erhellt die Existenz, hilft zu leben, bewahrt Kultur und bringt neue hervor. Religion also in der Nähe von Kunst und Fitnesstraining! In diesem Zusammenhang heißt es dann: Bete, wenn es dir guttut.
Der Freidenker Sloterdijk, der sich zu Jesus nur kühl, distanziert und ironisch äußert, ist ein typischer Vertreter des westlichen Bürgertums. In den Gesellschaften des Südens fände er nicht so viel Anklang; dort würde er mit seiner Religion ohne Gott nur Kopfschütteln hervorrufen. Doch für Nordeuropa scheinen mir seine Bücher symptomatisch: Die Aufklärung wird zu Ende gedacht, der Mensch tritt als Schöpfer kreativ an die Stelle eines vermeintlich machtlosen Gottes; er kann fast alles. Doch diese für die Moderne typische Euphorie hat sich doch längst umgekehrt in eine Skepsis gegenüber den Planern, Machern und Züchtern. Die Erkenntnis macht sich breit, dass der Mensch eben nicht alles darf, was er kann.
In der Folge immer größerer Freiheiten, des Klimawandels und der ökologischen Krise fand eine weitere Säkularisierung statt: von der Autonomie der Wissenschaften zur Autonomie der individuellen Praktiken von der Wiege bis zur Bahre. Wie geboren, geheiratet und gestorben wird, ist nicht mehr eingebettet in zum Teil jahrhundertealte religiöse Bräuche und Riten, sondern hängt vom Wunsch der Einzelnen ab. Hochzeiten im Park, in ehemaligen Klosterräumen, im Museum sind heute ebenso an der Tagesordnung wie Beerdigungen im Friedwald, Verstreuen der Asche unter einem Baum oder die See-Bestattung. Es geht dabei durchaus ernst und religiös zu; ausführende Bedienstete sagen, sie kämen sich wie Pfarrerinnen oder Pfarrer vor. Diese Säkularisierung des privaten Lebens bringt Probleme mit sich, die in der Bioethik diskutiert werden, denken wir nur an die Frage, wann menschliches Leben beginnt und wann es endet. Immer mehr Menschen wollen selber bestimmen, wie und wann sie sterben. Entsprechend wachsen der Zulauf bei Sterbehilfeorganisationen und die Nachfrage nach Sterbekliniken. Die Säkularisierung in Form einer Individualisierung des praktischen Lebens in der Post-Moderne hat so etwas wie eine „horizontale Religion“ entstehen lassen, die nicht mehr vertikal nach oben schaut, sich an ein Du jenseits unserer Vorstellungen richtet, sondern auf unserer Ebene bleibt und das Bestmögliche aus unserem Leben machen will. In dieser Diesseitsreligion finden wir erstaunlich viele Angebote zur Selbstfindung, zum Glücklichwerden, zum Umgang mit Leid, zur Annahme des Todes. Innerhalb dieses postmodernen Areopags stehen auch die Suche nach Innerlichkeit, die Meditation und das Gebet hoch im Kurs. Beten setzt hier nicht unbedingt den Glauben an Gott voraus, ist hier nicht immer ein Hören auf und ein Sprechen zu Gott.
Beten ist eine Praxis in allen Religionen, weil es menschlich ist. Weil der Mensch über sich hinaus fragt, kann er an Gott glauben und beten. Und selbst wenn er nicht (mehr) an Gott glaubt, interessiert ihn das Beten, und er möchte es vielleicht lernen. Es gibt im Menschen so etwas wie einen Instinkt zum Beten. Der Philosoph und Dichter Novalis aus der Zeit der Romantik wagt sogar den Vergleich: „Das Beten ist in der Religion was in der Philosophie das Denken ist.“1 Heruntergeschraubt auf unsere Situation, in der Religionen sich treffen oder aufeinanderstoßen, ist Beten als nahezu universelle Erfahrung ein großes Annäherungspotenzial über Kulturgrenzen hinweg. Wer betet, wird meistens respektiert, unabhängig davon, was und wie er betet.2
Beten ist christlich
In