Unter Ultras. James Montague
Ruf haftete etwas Ironisches an, denn er hasst Gewalt, allerdings hielt er sich anscheinend ständig zu nah am Geschehen auf. Auch sein nächstes Spiel in Buenos Aires, eine Drittligapartie in einem nördlichen Außenbezirk, endete mit Auseinandersetzungen und Gummigeschossen der Polizei. Dabei war er nur dorthin gefahren, um ein Foto der Pyroshow zu schießen. Um seine Haut zu retten, verbarg Mikael sich hinter einem alten Mann, der von der Tribüne humpelte.
»Wie hinter einem menschlichen Schutzschild?«, fragte ich ihn.
»Nein!«, erwiderte er, offenkundig peinlich berührt, wie das klang. Doch seine Logik war bestechend gewesen. Auf einen alten Mann, so hatte er überlegt, würde kaum geschossen werden. »Aber direkt vor mir hat es eine junge Frau erwischt. Sie ist einfach zusammengesackt, und jemand hat sie rausgetragen. Da ist mir schon ein bisschen mulmig zumute geworden.« Mikael klaute höchstens einmal eine gegnerische Fahne, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. »Und wer hat daran nicht seinen Spaß?«, meinte er, als wäre es das normalste der Welt. »Ich bin oldschool. Ich will mich nicht mit jemandem prügeln. Alles, was ich will, ist hinterher in der Kneipe ein kühles Bier trinken und mit meinen Freunden quatschen.« Für ihn hatten die Jüngeren einen Irrweg eingeschlagen. An erster Stelle hatte immer und unter allen Umständen der Verein zu stehen. Er blieb ein Jahr in Argentinien, knüpfte Kontakte und tauchte tief in die örtliche Fankultur ein. Die Choreografien in den argentinischen Stadien suchten weltweit ihresgleichen. Die barras schufen riesige Banner, die ganze Ränge verhüllten. Die ausgesprochen kunstvollen telon (Vorhänge) waren beispiellos, und die großartigsten machten nicht selten weltweit Schlagzeilen, etwa als die barra des Zweitligisten Godoy Cruz einen riesigen, einhundert Meter breiten telon mit den Porträts von Maradona, Papst Franziskus (der übrigens ein großer San-Lorenzo-Fan ist) und Messi schuf, versehen mit der Aufschrift »Dios, el Papa y el Mesias« – »Gott, der Heilige Vater und der Messias«. Die argentinischen Gesänge wurden in ganz Südamerika kopiert und gelangten schließlich auch nach Europa, wo sie in die Landessprachen übertragen wurden, um die Lokalhelden zu feiern. Und irgendwann erinnerte sich niemand mehr an ihren Ursprung. Ultras aus ganz Europa pilgerten wie Mikael nach Argentinien, um von den barras zu lernen und das ein oder andere mit zurück in die Heimat zu nehmen.
Doch die Leidenschaft hat auch eine dunklere Seite. Seit den 1980er-Jahren kontrollieren die barras bravas die argentinischen Stadien – und noch einiges andere daneben. Die Gewalt im argentinischen Fußball hat weltweit nahezu beispiellose Ausmaße angenommen. Jedes Jahr sterben Dutzende Fans durch Gewalttaten, und seit 2013 sind keine Gästefans mehr in den Stadien zugelassen. Die nationale Initiative Salvemos al Fútbol führt eine Liste mit allen bei argentinischen Fußballspielen getöteten Menschen.25 Der erste derartige Todesfall datiert auf 1922. Der argentinische Soziologe Amílcar Romero, der bahnbrechende Studien zur Gewaltkultur im argentinischen Fußball durchführte, sieht als einen entscheidenden Wendepunkt den Tod eines Fans von River Plate 1958 vor dem Estadio Amalfitani von Vélez Sarsfield, nachdem ein Polizist eine Tränengasgranate abgefeuert hatte. In der Folge seien die Fußballfans zunehmend radikaler gegen die Autoritäten, insbesondere die Polizei, aber auch gegen die gegnerischen Fans vorgegangen.26 Laut Romero hat sich die Gewalt in den Jahren von 1958 bis 1983 verändert. Verantwortlich dafür macht er zum einen die gestiegenen finanziellen Mittel, die in die barras gepumpt wurden, zum anderen das aufgewühlte gesamtgesellschaftliche Klima mit Arbeiter- und Studentenprotesten, Staatsstreichen, Massakern und einer Diktatur, in deren sogenanntem »Schmutzigen Krieg« Tausende Linksaktivisten, Journalisten und Künstler »verschwanden«. Romero sah in den barras das Es einer unglücklichen und gespaltenen Gesellschaft. In den Jahren von 1922 bis 1958 wurden insgesamt 16 im Zusammenhang mit dem Fußball stehende Todesfälle verzeichnet. Für die Jahre von 1958 und 1983 kommt Romero auf durchschnittlich fünf Tote pro Jahr (allerdings einschließlich der 71 Opfer der Tor-12-Tragödie im Estádio Monumental im Anschluss an das Spiel Boca gegen River Plate 1968).
Bis heute sind seit 1922 in Argentinien insgesamt 332 Menschen durch fußballbezogene Gewalt gestorben, Zehntausende weitere wurden verletzt. Romero erklärte: »Bei uns hat die organisierte Gewalt aus dem Fußball auf die übrige Gesellschaft übergegriffen. In Europa war es genau andersherum.«27
Der bis dato letzte Todesfall ereignete sich am 9. Dezember 2018, als im Anschluss an das Finale der Copa Libertadores (dem südamerikanischen Gegenstück zur Champions League) der 21-jährige River-Plate-Fan Exequiel Neris von zwei Boca-Fans erstochen wurde. Der sogenannte superclásico zwischen River Plate und Boca ist Schauplatz einer der weltweit erbittertsten Rivalitäten, und in jenem Jahr standen sich die beiden Vereine erstmals im Finale der Copa Libertadores gegenüber. Als im Verlauf der Copa 2018 der super-superclásico immer wahrscheinlicher wurde, breitete sich Panik unter den Verantwortlichen aus. Im Halbfinale trafen beide Teams auf brasilianische Gegner, was den amtierenden argentinischen Präsidenten Mauricio Macri zu der Aussage verleitete: »Ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, dass sich ein brasilianischer Klub durchsetzt, als dass es zu diesem Finale kommt, das uns drei schlaflose Wochen bescheren würde. Ist Ihnen der Druck klar, der da entsteht? Der Verlierer würde sich erst in 20 Jahren davon erholt haben.«28 Macri wusste, wovon er sprach. Sein erstes größeres Amt war das des Boca-Juniors-Präsidenten gewesen. Im Jahr 1995 war er mit knapper Mehrheit von Bocas Mitgliedern – den socios – gewählt worden und hatte seine erfolgreiche zwölfjährige Amtszeit (unter anderem mit vier Copa-Libertadores-Titeln) als Sprungbrett zu einer politischen Karriere genutzt, die ihn zunächst zum Bürgermeister von Buenos Aires und 2015 zum argentinischen Präsidenten werden ließ. Eine vertrauliche, von Wikileaks veröffentlichte US-Geheimdienstdepesche von 2010 schildert, wie Macri als Bürgermeister bei einem Mittagessen gegenüber der damaligen US-Botschafterin Vilma Socorro Martínez ganz offen seine Präsidentschaftsambitionen und Bocas Bedeutung für seine politische Karriere darlegte:
Er [Macri] sprach von seiner Zeit als Präsident des Fußballklubs Boca Juniors als einer hervorragenden politischen Lehrzeit (hinsichtlich Themen wie der Regelung des Zugangs zu Presseräumen und der Umkleidekabine, der Besetzung von Posten und die Durchsetzung geschäftlicher Entscheidungen gegenüber 15.000 Mitgliedern). Er sagte, dass die landesweite Fanbasis des Vereins sein bedeutendster politischer Aktivposten sei: »Jegliche politische Unterstützung außerhalb von Buenos Aires verdanke ich zu 90 Prozent meiner Tätigkeit bei Boca und zu zehn Prozent meinem Posten als Bürgermeister von Buenos Aires.«29
Wie ihn die Erfahrungen aus seiner »politischen Lehrzeit« zurecht hatten vermuten lassen, wurde der super-superclásico 2018 in der Tat zu einem Desaster für Argentiniens Image. Das Rückspiel musste abgesagt werden, da der Boca-Mannschaftsbus auf dem Weg ins Estádio Monumental von River-Plate-Fans attackiert wurde und die Polizei Tränengas einsetzte, das mehrere Boca-Spieler einatmeten. Twitter-Videos des Klubs zeigten, wie sie sich in der Kabine übergaben. Wegen der angespannten Sicherheitslage wurde beschlossen, das Spiel an einem neutralen Ort auszutragen.30 Die Wahl fiel auf Madrid – eine gewaltige Demütigung für Südamerika, denn eigentlich ehrt der Name des Wettbewerbs die Kämpfer für die Unabhängigkeit von Spanien und Portugal. River Plate gewann den Titel, und der südamerikanische Fußballverband CONMEBOL beschloss anschließend, dass der Wettbewerb künftig stets durch ein einziges Finalspiel an einem neutralen Ort entschieden würde.
Seit einigen Jahren sinkt immerhin die Zahl der von gegnerischen Gruppen getöteten Fans. Inzwischen gehen die meisten Todesfälle auf Abrechnungen innerhalb einzelner barras zurück, vornehmlich, weil sie ihre geschäftlichen Tätigkeiten stark ausgeweitet haben – auf Ticketschwarzhandel, Parkgebühren, Schutzgeld und Drogen – und mittlerweile eher mafiösen Organisationen als Fanclubs gleichen. Bocas bedeutendste barra La Doce erlebte in den vergangenen zehn Jahren unzählige solcher Abrechnungen. Der Präsident Rafael di Zeo ist einerseits ein Showman, andererseits ein gefürchteter Boss. Seit Mitte der 1990er-Jahre hat er La Doce zu einer beeindruckenden und mächtigen Gelddruckmaschine mit weitreichenden Beziehungen zum politischen Establishment des Landes umgebaut. Doch Geld und Macht riefen Rivalen auf den Plan. Als Rafa, wie er gemeinhin genannt wird, wegen seiner mutmaßlichen Rolle bei den Krawallen von 1999 zwischen den Fans von Boca und Chacarita Juniors 2007 zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, nahm mit Mauro Martin einer seiner Unterbosse seinen Platz ein. Und dieser weigerte sich, den Posten zu räumen,