Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt. Thomas Maissen

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aufgelegten Illustrierten Geschichte der Schweiz (1958–1961) wirkte Karl Schib kurz als Kantonsrat und Sigmund Widmer als langjähriger Stadtpräsident von Zürich. Sie fügten sich in eine lange Reihe von Parlamentariern und Bundesräten ein, die Werke zur kantonalen oder nationalen Geschichte verfassten, wenn auch nicht unbedingt Gesamtdarstellungen. Bei den Bundesräten führte diese Tradition von Emil Freys erwähnten Kriegstaten der Schweizer (1904) über Markus Feldmann, den Koordinator der genannten Schweizer Kriegsgeschichte (1915–1923), bis Georges-André Chevallaz (Le défi de la neutralité, 1995, deutsch 1997).41 Vom Widerstandsgeist gegen den italienischen Faschismus und Irredentismus geprägt waren Guido Calgari und Mario Agliati, die 1969 eine Storia della Svizzera vorlegten.

      Ihre Hauptwirkung verdankte die Nationalgeschichte, welche die Geistige Landesverteidung der 1930er-Jahre in den Kalten Krieg transportierte, allerdings weniger der Geschichtsschreibung, selbst wenn sie volkstümlich präsentiert wurde, als dem Schulunterricht und den pädagogischen Schriften etwa des Schweizerischen Jugendschriftenwerks SJW (so 650 Jahre Eidgenossenschaft, 1941). Der Lehrplan für die Berner Primarschulen, der von 1947 bis 1982 gültig war, hielt fest: «Die nationale Aufgabe erfüllt der Geschichtsunterricht in unserem Vaterlande dann, wenn er zum guten Eidgenossen erziehen hilft. Zum guten Eidgenossen gehört das eidgenössische Bewusstsein. Dieses beruht auf einer gewissen Kenntnis der Wesenszüge unseres Staates und unserer Geschichte, aber auch auf einem Empfinden der Unterschiede zwischen uns und den andern.»42 In einem für den Schulunterricht verfassten Buch, Wir wollen frei sein wie die Väter waren, forderte Franz Meyer 1961, den historischen Vorbildern zu folgen: «Auch wir sind bereit, für unser Vaterland Opfer zu bringen, für das Heimatland auf etwas zu verzichten, dem Lande einen Dienst zu erweisen und für die Heimat zu beten. Nur so verdienen wir es, in einem freien Lande leben zu dürfen.» Meyer rettete die mittelalterlichen Legenden zumindest in ihrem didaktischen Kern: «Wir wissen, dass die mündliche Überlieferung Fehler und Ungenauigkeiten enthalten kann. […] Und trotzdem sind diese Geschichten wahr. Das Volk der Hirten stand auf, starke Landammänner führten es, und mutige Helden setzten ihr Leben ein für die Freiheit dieses Volkes.»43 In der Wissenschaft waren solche Positionen nicht mehr haltbar, nachdem der Zürcher Professor Marcel Beck das Vorgehen Karl Meyers und seiner Schule zerzaust hatte. Der Beck-Schüler und Schriftsteller Otto Marchi popularisierte den Kenntnisstand 1971 mit seiner Schweizer Geschichte für Ketzer.

      In der Schule dagegen machte die heroische Verteidigung der Freiheit gegen die Habsburger und andere fremde Bedrohungen lange den Hauptteil des schweizergeschichtlichen Unterrichts aus. Die Moral aus der Masslosigkeit der Söldner und der Niederlage von Marignano war die Neutralität, die als aussenpolitischer Grundzug danach die Narration bestimmte, unterbrochen nur durch Napoleon, der die «Franzosenzeit» um 1800 repräsentierte. Die internen Gegensätze wurden gleichsam von der harmonischen Versöhnung her erzählt und aufgefangen: vom Stanser Verkommnis bis zum «Friedensabkommen» in der Metallindustrie von 1937. Die schweizergeschichtlichen Schulbücher begannen sich erst seit den 1970er-Jahren allmählich zu ändern. Die Schweiz wurde als Teil ihrer europäischen Umwelt vorgestellt, ihre Vergangenheit nicht auf das Militärische reduziert, und bei der Behandlung der Helvetik (1798–1803) kamen nun auch positive Aspekte zur Sprache.44

      Diese Veränderungen fügten sich in einen allmählichen Wandel, der greifbar wurde, wenn sich Brüche im nationalen Geschichtsbild auftaten. Ein politischer Reflex bestand dann jeweils darin, dass der Bundesrat in der internationalen Tradition der «Weissbücher» historische Fakten von Fachleuten abklären liess.45 So verfasste der frühere Basler Regierungsrat Carl Ludwig 1957 einen nach ihm benannten Bericht über die schweizerische Flüchtlingspolitik im Krieg, als die offizielle Publikation der Akten zur deutschen auswärtigen Politik in der Bundesrepublik belegte, dass der J-Stempel in Pässen deutscher Juden 1938 auf schweizerische Anregung eingeführt worden war. Als weitere Aktenpublikationen und ein Buch des englischen Journalisten Jon Kimche die Neutralitätspolitik im Krieg in ein fragwürdiges Licht stellten, veranlasste die Landesregierung einen prominenten Zeitzeugen, den Basler Geschichtsprofessor Edgar Bonjour, seine Geschichte der schweizerischen Neutralität zu verfassen. Er erhielt ungehinderten Zugang zu den Archiven, doch der Bundesrat willigte in die Veröffentlichung des Berichts ab 1967 erst ein, nachdem Medien und Parlamentarier dies eindringlich gefordert hatten. Die letzten drei Bände, die für die Kriegszeit relevant waren, erschienen auch auf Französisch. Bonjour zeigte sich durchaus kritisch gegenüber einzelnen Aspekten der bundesrätlichen Politik im Krieg. Ihre Gesamtbeurteilung konzipierte er allerdings als folgerichtige Fortsetzung seiner schon früher verfassten Darstellung der schweizerischen Neutralität, die er – wie Paul Schweizer 1895 – möglichst früh, nämlich mit Niklaus von Flüe beginnen liess. So konnte er das Fazit aus den Kriegsjahren ziehen, dass die Neutralität nicht nur mitentscheidend gewesen sei für die Wahrung der Selbständigkeit, sondern dass die Verpflichtungen, die sich aus ihr ergaben, gegenüber dem Ausland erfüllt worden seien.46

      Zu strengeren Urteilen kamen in denselben Jahren um 1968 eine wachsende Zahl von Journalisten und Schriftstellern wie Walter Matthias Diggelmann, Christoph Geiser, Max Frisch und Niklaus Meienberg, die ihre publizistischen Finger in die unheroischen Wunden der Kriegszeit legten.47 Die Historikerzunft griff diese heiklen Themen etwas später auf, in den 1980er-Jahren, nachdem die Sperrfrist im Bundesarchiv auf 35 Jahre reduziert worden war und ab 1979 die zahlreichen Bände der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (von 1848 bis 1945, gegenwärtig fortgesetzt bis 1989) das dort gesichtete Quellenmaterial gedruckt zugänglich machten. Autoren wie Werner Rings oder Jakob Tanner untergruben die Doktrin, dass die wirtschaftliche Kooperation mit dem Dritten Reich nur den Geboten der Not gehorcht hatte. Markus Heiniger behandelte 1989 Dreizehn Gründe. Warum die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht erobert wurde. Seine Antwort liess sich auf die Formel reduzieren: wirtschaftliche Dienstleistungen und militärische Bedeutungslosigkeit. Georg Kreis und Hans Ulrich Jost sprachen vom «Helvetischen Totalitarismus», um das Vollmachtenregime und den Geist der Kriegsjahre zu charakterisieren.

      Aufsehen erregte dies auch deshalb, weil Jost diese Formulierung 1983 im Referenzwerk Geschichte der Schweiz und der Schweizer wählte. Es wollte das solide, aber stark ereignis- und verfassungsgeschichtlich angelegte Handbuch der Schweizer Geschichte (1972/1977) ergänzen, wenn nicht sogar ablösen. Ausländische Einflüsse, vor allem das Modell einer «histoire totale» im Sinn der französischen Annales-Schule, prägten das Konzept der Geschichte der Schweiz und der Schweizer, die auf Deutsch, Französisch und Italienisch erschien. Sie wertete die politische und militärische Geschichte der «grossen Männer» ab zugunsten der langfristigen Entwicklungen, die den Alltag der «normalen Menschen» bestimmten und möglichst mit quantitativen Quellen und statistischen Methoden erfasst wurden: Bevölkerungsentwicklung, Wirtschaft, sozialer Wandel, Mentalitäten. Für viele dieser Phänomene war der Nationalstaat Schweiz nicht der geeignete Darstellungsrahmen, weil es zwischen den Landesteilen sehr viele Unterschiede gab. Die Verschiebung der Erkenntnisinteressen trug dazu bei, dass die Nationalgeschichte im folgenden Vierteljahrhundert erheblich an Bedeutung verlor. Für eine «histoire totale» eigneten sich die Kantone besser, deren Geschichte zum Gegenstand eines eigentlichen Wettbewerbs um die gründlichste Erforschung und höchststehende Präsentation wurden. Sie integrierten weitere neue Ansätze, etwa die Frauen- und Geschlechtergeschichte. Beatrix Mesmer war eine Mitherausgeberin der Geschichte der Schweiz und der Schweizer, doch Beiträge aus weiblicher Hand zu schweizergeschichtlichen Gesamtdarstellungen finden sich erstmals im Handbuch Die Geschichte der Schweiz, das Georg Kreis 2014 herausgegeben hat.

      Praktisch alle diese neuen Schweizer- und Kantonsgeschichten umfassten mehrere Bände, in denen Experten die jeweiligen Epochen behandelten. Diese Spezialisierung war wie die neuen inhaltlichen und methodischen Interessen ein Zeichen dafür, dass die schweizerischen Geschichtswissenschaftler Anschluss an internationale Entwicklungen fanden. Schweizergeschichte war nicht mehr ein Geschäft für sich, das als Entfaltung der Nation über die Jahrhunderte hinweg verfolgt wurde, sondern unterteilte sich mit einem vergleichenden Blick auf ausländische Forschungen in eigenständige Epochen. In der universitären Lehre und in ihren Prüfungen waren nicht unbedingt Themen aus der Schweiz stark rückläufig, wohl aber solche der Nationalgeschichte. Der Internationalisierung entsprach es, dass die Zeitschrift für schweizerische Geschichte schon 1951 einen neuen Namen erhielt: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte. Das Historische


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