Lebendige Seelsorge 6/2016. Erich Garhammer
in ihm auch ihr Eigenes zu bejahen und von ihm als „Vater im Glauben“ zu lernen. Umgekehrt müssen sich Protestanten dadurch nicht enteignet sehen: Luther in einer gewissen Distanz zu eigenen späteren Festlegungen zu sehen, kann vielmehr auch für sie Inspirationsquelle, kritischer Bezugspunkt und Verbindungsglied zur antiken und mittelalterlichen Kirche sein.
Klaus Unterburger
Prof. Dr., Professor für mittlere und neue Kirchengeschichte in Regensburg; beschäftigt sich gerne mit theologiegeschichtlichen Fragen; zu den Arbeitsschwerpunkten gehören die konfessionellen Konflikte des 16. Jahrhunderts und die Entwicklung des Katholizismus seit dem 19. Jahrhundert.
Natürlich ist die Frage nach einem vorkonfessionellen Luther interessegeleitet, jedoch nicht anders, als es die evangelischen und katholischen Lutherbilder vergangener Reformationsjubiläen ebenfalls waren. Hans-Georg Gadamer hat das interessierte Vorurteil ja als notwendige Voraussetzung des Verstehensprozesses erwiesen und gezeigt, wie Traditionsabbrüche der Anlass sind für den Versuch, die Vergangenheit neu zu erschließen: Im Folgenden sollen aus katholischer Perspektive zunächst wichtige Etappen der Wirkungsgeschichte bewusst gemacht werden, in der der Rekurs auf Luther steht. Ein zweiter Schritt soll Elemente einer Annäherung an den vorkonfessionellen Luther skizzieren. Gerade den fremden Luther wahr- und in seiner Theologie ernst zu nehmen, bildet die Chance eines neuen Verstehens, einer „Verschmelzung“ und damit Erweiterung des eigenen „Horizonts“ (Gadamer).
WIRKUNGSGESCHICHTE: KATHOLISCHE LUTHER-BILDER
Offizielle katholische Luther-Bilder gibt es natürlich nicht, sondern nur solche von Katholiken. Manche von ihnen waren aber doch so prägend und haben so sehr dem kirchlichen Selbstverständnis einer Epoche entsprochen, dass sie zum festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses geworden sind. Bekannt ist, wie die konfessionelle Polemik der Kontroverstheologen Luther in einer Frontalablehnung regelrecht dämonisiert hat. Die Acta et commentaria des Johannes Cochläus lieferten – wie Adolf Herte gezeigt hat – über die Jahrhunderte die biographischen Bausteine der Ablehnung Luthers. Ebenso wichtig ist, dass Luthers frühe katholische Gegner (es gab auch katholische Bewunderer) ihn unter zwei Vorzeichen verstanden, dem antihussitischen und dem libertinistischen: Wie die Hussiten Rebellen gegen die göttliche Ordnung und den Klerus gewesen seien, sich die Unzufriedenheit der Laien mit dem Klerus zunutze gemacht haben und sich dabei auf die Schrift beriefen, so Luther; dessen Rechtfertigungslehre führe zum Niedergang der Sitten, zu Ausschweifung und Verachtung der guten Werke; wie die Hussiten predigen deshalb auch die Lutheraner dem Klerus Wasser und trinken selbst Wein. Die Acta des Cochläus illustrierten dies an Luthers Biographie.
Eine Neubewertung der Reformation setzte in der katholischen Aufklärung ein; freilich galt diese kaum Luthers Theologie. Reform von Kirche und Sitten, Kampf gegen Aberglauben, nationaler Aufbruch gegen romanisch-kuriale Bevormundung waren Anliegen der Zeit, für die Luther als Kronzeuge galt, wenn auch viele Aufklärer eher mit Erasmus sympathisierten. Die Neukonfessionalisierung des 19. Jahrhunderts brachte dann wieder ein Aufleben der alten polemischen Kategorien. So versuchte der junge Ignaz von Döllinger aus den zeitgenössischen Quellen zu zeigen, wie Luther und die Reformation einen sittlichen Niedergang der Gesellschaft bewirkt hätten.
Einflussreich wurde dann der Dominikaner Heinrich Denifle, der Entdecker des lateinischen Werks Meister Eckharts: Wer wie er (und anders als die protestantische Forschung) mit der mittelalterlichen Theologie vertraut sei, erkenne, dass Luther die paulinische Gerechtigkeit aus Gnade gar nicht neu entdecken musste. Diese Behauptung Luthers sei der durchsichtige Versuch, den eigenen Bruch der Klostergelübde sekundär zu rechtfertigen: Triebhafte Unkeuschheit sei also der Schlüssel zum Verständnis Luthers. Eine verwandte materialreiche Lutherdeutung legte dann der Jesuit Hartmann Grisar vor, freilich mit einem anderen Akzent: Hinter der Heilsfrage Luthers und seinen Anfechtungen stecke eine Psychopathologie, eine krankhafte Neurose.
Diese Lutherdeutungen korrespondierten mit einer Entwicklung, die zeitgenössisch meist mit „Ultramontanismus“ bezeichnet wurde. Zu diesem gehörte nicht nur die Abgrenzung gegen die Moderne, sondern auch massive Feindbilder, etwa das des Protestantismus als Ursprungssünde und erster Schritt hin zur Gottlosigkeit der Gegenwart. Zugleich war der Ultramontanismus aber Produkt der Modernisierung, Dynamisierung und Umgestaltung eines traditionalen Katholizismus. Dem entspricht der methodisch-wissenschaftliche Anspruch der ultramontanen Lutherdeutungen. Dagegen blieben nichtultramontane Katholiken wie der spätere Döllinger oder der Würzburger Kirchenhistoriker Sebastian Merkle mit ihren wohlwollenderen Lutherdeutungen Außenseiter.
Der entscheidende Umbruch im katholischen Lutherbild des 20. Jahrhunderts ging erst von einem Mann aus, der einerseits von reformkatholischen Lehrern geprägt war, andererseits aber in seinem antiliberalen Objektivismus auch zentrale Intentionen des Ultramontanismus transformiert fortführte, Joseph Lortz. Auf eine ganz charakteristische Weise kam er in den 1930er Jahren zu einer einflussreichen Neudeutung der Reformation. An einem idealisierenden Bild des Hochmittelalters und der Theologie des Thomas von Aquin orientiert konnte er in der spätmittelalterlichen Kirche nur Verfall und Subjektivismus erkennen; so habe sich der junge Luther an einer Theologie abgearbeitet, die eigentlich gar nicht mehr wirklich katholisch gewesen sei. Zugleich sei er aber selbst Kind des anhebenden Subjektivismus gewesen, in dem er seine Autorität über das objektive Urteil der Kirche gestellt habe. In Lortz‘ Reformationsdeutung konnten drei Anliegen Platz finden, ein ökumenisches, das dem jungen Luther berechtigte Anliegen konzedierte, ein ultramontanes, das im Ungehorsam gegen das kirchliche Amt die verhängnisvolle Neuerung Luthers ausmachte, schließlich der Antiliberalismus, der Lortz anfällig für den Nationalsozialismus machte.
Erst in der Schülergeneration von Lortz und im Umfeld des II. Vatikanischen Konzils haben dann katholische Lutherdeutungen den Subjektivismusvorwurf hinter sich gelassen. Bei ihnen – und parallel bei protestantischen Forschern – wurde die Einsicht leitend, dass sich Luther aus spätmittelalterlichen Traditionen heraus entwickelt hat und sein Anliegen mit Subjektivismus jedenfalls nicht getroffen ist. Vielmehr konnten Otto Hermann Pesch, Peter Manns und andere, etwa der hinter den Publikationen „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ stehende Ökumenische Arbeitskreis zeigen, wie der Widerspruch zwischen Luther, den Bekenntnisschriften und den Trienter Beschlüssen, aber auch zwischen Luther und mittelalterlichen Theologen wie Thomas von Aquin mitunter nur ein terminologischer gewesen ist und keine wechselseitigen Anathematisierungen rechtfertigt.
Die Schuld am Bruch wurde so auf beide Seiten verteilt, wobei die Weichenstellungen seit dem 19. Jahrhundert insofern fortwirkten, als man den entscheidenden Scheidungsgrund in den Aussagen Luthers zu Papst, Konzil und Kirche sieht, zu denen er auch durch seine frühen Gegner gedrängt wurde. Dies korrespondiert mit dem ökumenischen Dialog der Gegenwart: Missstände und Reformbedarf und damit berechtigte Anliegen Luthers werden heute von Katholiken umso leichter zugegeben, als sich die Sozial- und Finanzstruktur des kirchlichen Lebens ohnehin grundlegend geändert hat; Papstamt und Kirchenverfassung erweisen sich hingegen heute als Hauptprobleme der Ökumene, während die Rechtfertigungslehre eine Art Mittelposition einnimmt, da sie zwar vielfach bejaht und dann doch in der Gegenwart eher nur modifiziert vertreten wird.
MARTIN LUTHER – ANSTOSS ZU KATHOLISCHER SELBSTKRITIK
Man kann konstatieren, dass die allmähliche Revision des katholischen Lutherbilds mit einer wirkungsgeschichtlichen Krise des Ultramontanismus als Erben der forcierten konfessionellen Abgrenzung einherging. Die konfessionellen Denktraditionen sich bewusst zu machen, um den fremden, vorkonfessionellen Luther als Gesprächspartner ernst nehmen zu können, ist so ein wichtiges Anliegen des gemeinsamen Wortes zum Reformationsjahr. Wird Luthers Theologie aus ihrer Genese verstanden, so verteilen sich Tradition und Innovation, die eben beide bei ihm und bei seinen „alt“gläubigen Gegnern zu finden sind. Hierüber besteht ein weitgehender Konsens auch in der evangelischen Lutherforschung. Welche Elemente der Theologie und Frömmigkeit Luthers aus welchen Quellen aber übernommen wurden, wie sich seine eigene theologische Entwicklung vollzog, wie Theologie und Ablassstreit zusammenhängen und schließlich, wodurch der ekklesiologische Bruch bedingt ist, darüber gibt es nach wie vor eine lebhafte Diskussion.
Sechs Aspekte, die wichtig erscheinen, um eine katholische Selbstkritik der eigenen konfessionellen Festlegungen zu befördern und Luther als „Vater des Glaubens“ für