Das Bessere zuerst. Ursula Dirmeier
Übergabe an den Willen Gottes und Beten ohne Unterlass
Mary Wards langjähriger Beichtvater, der Weltpriester John Mush (1552–1617), war der Spiritualität der Jesuiten zugetan. Allerdings ergriff er im Streit zwischen den Jesuiten und dem englischen Weltklerus für Letzteren Partei. In dieser Zeit gab ihr ein anderer Priester, man vermutet in ihm den für die Jesuitenmission im Norden zuständigen P. Richard Holtby (1552–1640), ein Buch zu lesen, das sie nach eigener Aussage sehr geprägt hat, den »Geistlichen Kampf« des Theatinerpaters Lorenzo Scupoli, den P. John Gerard ins Englische übersetzt hatte. Scupoli betont, dass die christliche Vollkommenheit weder in Bußübungen und Strenge gegenüber dem eigenen Leib noch in der Aneinanderreihung von mündlichen Gebeten besteht, auch nicht in Einsamkeit und Stille, sondern »in einem wahren Wissen um die Güte und Größe Gottes und unser eigenes Kleinsein oder Nichts und unseren natürlichen Hang zu allem Bösen, im Hass uns selbst gegenüber und in der Liebe zu Gott, in der völligen Verneinung unseres Eigenwillens und seiner Übergabe an den Willen Gottes«2. Für das Gebet fordert Scupoli die Haltung, »den Willen Gottes zu wollen und nicht den eigenen, sowohl im Erbitten wie im Erhalten dessen, was man erbeten hat, das bedeutet, dass man zum Gebet bewegt ist, weil Gott es will, und dass man wünscht, erhört zu werden, weil man hofft, dass das sein Wille ist«3. Inneres Gebet ist nach Scupoli das Erheben des Geistes zu Gott mit oder ohne Worte, auch ein einfacher »Aufblick des Geistes«, eine stille Erinnerung an ihn. Das könnte Mary Ward gemeint haben, wenn sie von jener Zeit in England schrieb, sie sei nach dem, was sie in diesem Buch gefunden und zu befolgen versucht habe, beinahe immer in der Haltung des Gebets gewesen (AB 6, 4).
Der Zwiespalt der Jesuiten
Die Exerzitienspiritualität wendet sich weder ausschließlich noch vornehmlich an Ordensleute, sie will vielmehr alle Christen dazu ermutigen, ihr Leben aus dem Geist Gottes und aus dem Glauben zu führen. Daher verbreitete sie sich rasch, und zwar bei Frauen ebenso wie bei Männern. Das wurde von den Jesuiten natürlich gefördert und begrüßt. Anders sah es aus, wenn Frauen sich der Gesellschaft Jesu anschließen oder Frauengemeinschaften einen Jesuitenpater als Beichtvater haben wollten. Da erhoben sich warnende Stimmen, die um das Ansehen und die Flexibilität der Gesellschaft Jesu fürchteten. Und in der Tat war die Aufgabe, geistlicher Leiter eines (klausurierten) Frauenordens zu sein, aufgrund des rigiden Kirchenrechts damals ein Fulltime-Job.
Dieser Zwiespalt der Jesuiten zeigte sich bei den Großen Exerzitien, die Mary Ward Ende des Jahres 1608 in Saint-Omer als Klarissen-Postulantin machte. Der für die englische Mission verantwortliche Jesuit Baldwin beauftragte P. Roger Lee SJ (1562–1615), der seit dieser Zeit Mary Wards Beichtvater war und an den sie sich sogar durch ein Gehorsamsgelübde band, die kleine Gruppe zu begleiten. Aus diesen Exerzitien existieren keine Aufzeichnungen. Sie hatten aber ein Nachspiel. Sei es, dass der Generalvisitator der Franziskaner daran Anstoß nahm, sei es, dass sich ein einflussreicher Gönner der Gesellschaft Jesu in England irritiert zeigte – der Jesuitengeneral verbot P. Baldwin eine solche spirituelle Hilfe. Das Verbot wurde nach einer Weile gelockert, später aber erneuert. Für die nächste Gründung Mary Wards, die »Englischen Jungfrauen«, erging von Anfang an die Weisung, die Schwestern sollten einen Weltpriester für ihre geistliche Leitung haben und dürften lediglich in der Kirche der Jesuiten zur Beichte gehen.
Ein bedeutsamer Brief
Gleichwohl sind in einem Büchlein etliche Ansprachen von P. Lee gesammelt, die er der Gemeinschaft in ihren Anfangsjahren hielt, unter anderem eine, mit der er die Schwestern auf die jährlichen Exerzitien vorbereitete. Da es für einige von ihnen die ersten waren, stellte er ihnen vor Augen, sie sollten sich zu Beginn nicht vornehmen, dieses oder jenes zu verbessern, sondern einzig darauf ausgerichtet sein, Gott zufrieden zu stellen und ihn immer mehr zu erfreuen (D 92 K). Die Betrachtungen selbst scheinen mit Hilfe von schriftlich gegebenen Punkten gemacht worden zu sein.
P. Lee wurde 1614 nach Löwen strafversetzt. Er sollte anschließend nach England gehen, kam daher im Herbst 1615 noch einmal nach Saint-Omer, wo Mary Ward bei ihm Exerzitien machte, und verstarb im Dezember in Dünkirchen. Über den äußeren Ablauf dieser Exerzitien notierte sie: »Einige acht Tage vor Allerheiligen 1615 schrieb ich an meinen Beichtvater (denn er war damals schwach …) über meinen Wunsch, in diesen acht Tagen Besinnung zu halten, mit der Bitte, … zur entsprechenden Zeit meine Halbjahres-Beichte zu hören, falls seine Gesundheit das erlaube. Er gewährte beides. Mein Gesundheitszustand war damals sehr schlecht, meine Sorgen waren zahlreich, der Institutsplan musste verfasst werden, um unverzüglich nach Rom gesandt zu werden. Dennoch fühlte ich in mir eine solche Fähigkeit und Kräfte, dass ich früh aufstehen und vier Gebetsstunden halten konnte (…), dennoch weiß seine [Gottes] Güte allein, wie nachlässig ich die ersten vier oder fünf Tage zubrachte. Ich beichtete und nahm mir anschließend vor, die kommenden zwei Tage gesammelter und sorgfältiger zu sein. Nachdem ich am Vigiltag von Allerheiligen die Kommunion empfangen hatte …« (D 124).
Was sie hier nicht ausführte, ist in dem Brief enthalten, den Mary Ward an Allerheiligen 1615 an P. Lee schrieb, der ihn aber wohl nicht mehr erreicht hat. Traditionell spricht man vom »Brief von der Gerechten Seele« (D 125), einer Seele oder einer Person, wie sie die Exerzitienspiritualität hervorbringen will: mit Gott verbunden im Gebet und in allen Handlungen, ihm ganz gehörend; frei und eingeladen, alles zu Gott zurückzubringen, das Schöne und das Schwere, die Fähigkeiten und die Grenzen, das Versagen und das Verlangen, Gott zu erfreuen; wachsam und offen für das, was Gott getan haben will, mitwirkend mit Gottes Anregungen zum Guten, frei von Abhängigkeiten, bereit und fähig, sich in Dienst nehmen zu lassen von der Not der Menschen; bereit und fähig zum Guten, gerecht und aufrichtig, glücklich.
Drei Exerzitienreihen
Es gibt von Mary Ward keine systematische Abhandlung zu den Exerzitien. Erhalten sind drei Reihen von Aufzeichnungen über Exerzitien, die sie in der Begleitung von P. John Gerard alias Tomson (1564–1637) in Lüttich innerhalb von anderthalb Jahren machte. Die Notizen aus den Exerzitien im April 1618 umfassen zehn Betrachtungen (D 172), drei über das Fundament und sieben über die Sünde.
Von den Exerzitien im Oktober 1619 sind mehrere Überblicke über Gebetsweisen und Vorsätze (D 212) erhalten sowie Aufzeichnungen über eine Fundamentbetrachtung, zwei Sündenbetrachtungen, den ersten Grad der Demut und die Früchte der Buße (D 213).
Dazwischen liegen die Exerzitien vom April 1619 (D 196, 198). Sie führten über eine Fundamentbetrachtung und zwei Sündenbetrachtungen zu einer Meditation über den Tod. Damit war Mary Ward bei dem angekommen, was sie existentiell umtrieb. Eine Mitschwester hatte nämlich behauptet, von Gott eine andere Weisung erhalten zu haben als die von Mary Ward vorgegebene. In der Betrachtung über den Tod rang Mary Ward um die Indifferenz, das heißt die innere Freiheit, ihr Werk unvollendet in andere Hände übergeben zu können. Dabei machte sie den Vorschlag, den sie P. Tomson in einem Brief darlegte (D 197), die Konkurrentin könne einen Institutsplan schreiben, damit mehr Klarheit in die Sache käme. Anschließend gingen die Exerzitien weiter mit Betrachtungen über den Vergleich Christi mit einem irdischen König, die Menschwerdung und Geburt Jesu, die Hindernisse der Vollkommenheit, die drei Grade der Demut und die Berufung der Apostel. Die Aufzeichnungen enden mit dem Gebet im Garten Gethsemani.
Von manchen dieser Gebetsstunden ist nur die Überschrift notiert, manchmal ergänzt durch den Hinweis, dass viel zu berichten wäre. In anderen Gebetsstunden führte Gott Mary Ward zu ganz anderen Themen als den angegebenen. Weil das so ist, gehen Exerzitienbegleiter(innen) heute zum Teil nicht mehr nach der Reihenfolge der vier »Wochen« des Exerzitienbuches vor, sondern orientieren sich an den Lebensthemen, die die Exerzitant(inn)en mitbringen. Vielleicht würde Ignatius heute lieber von den vier »Dimensionen« sprechen, die im Leben wie in den Exerzitien immer wiederkehren.