Warum leiden?. Stefan Kiechle
deuten, mit ihm umgehen, es gar »annehmen«? Warum werden Menschen böse? Wann ist ein Mensch schuldig? Wie kann man Schuld überwinden, von ihr frei werden? Was tut Gott dafür? Kann der Blick auf das Kreuz Jesu helfen? Ist die Welt erlöst? Wie wird sie erlöst? Wie werden wir ganz und heil und frei? Erfahren die Opfer der Geschichte, all die unschuldig Ermordeten, nach dem Ende Gerechtigkeit?
Um diese und ähnliche Fragen geht es in diesem Buch. Es will helfen, sich dem schwierigen Thema des Leidens zu nähern und mit ihm im Glauben umzugehen. Das Sprachproblem springt sofort ins Auge: Wie angemessen über diese so intimen und heiklen Erfahrungen sprechen? Keine begriffliche Aussage wird der Komplexität und Tiefe der Phänomene gerecht. Vor dem Leiden versagt die Sprache. Missverständnisse sind vorprogrammiert. Gegen jeden Versuch einer »positiven« Aussage kann man sofort abgründige Erfahrungen ins Feld führen, die das gerade gewagte Wort absurd erscheinen lassen, es widerlegen, ersticken. Mit paradoxen Formulierungen – ganz zu vermeiden sind sie nicht – löst man das Problem nur scheinbar, denn Widersprüche sagen wenig, die Sprache beginnt, sich selbst aufzugeben. Selbstverständlich steht hinter dem Sprachproblem ein Denkproblem: Unser Verstehen und Begreifen stößt an Grenzen, es erweist sich immer wieder als hilflos, ohnmächtig. Ich möchte daher zurückhaltend formulieren, mich dem Thema eher annähern, es umkreisen, manches andeuten, auf Denkwege verweisen, die man lesend dann selbst zu gehen hat. Oft geht es weniger um Gedanken, mehr um Gefühle, die ich vorsichtig anspreche. Manche Frage, die sich aufdrängt, wird erst später wieder aufgegriffen, manche bleibt unbeantwortet. Ich bitte um Geduld, wenn einiges im ersten Aussprechen Widerstand erregt und erst nach einem mühsamen Denkweg fassbarer wird. Ich bitte um Nachsicht, wenn trotz aller Mühe manches missverständlich oder allzu offen oder strittig bleibt. Alle Beispiele sind aus dem realen Leben, meist anonymisiert.
Einige Begriffe möchte ich vorläufig zu bestimmen versuchen:
- Ein Übel ist etwas, das aus sich eine schädliche Wirkung auf den Menschen hat und ihn leiden lässt. »Übel« ist ein subjektiver Begriff, weil er sich auf das empfindende Subjekt bezieht, und er ist seinsmäßig (ontologisch), weil er das Negative der Sache selbst meint.
- Böses ist der von jemandem verursachte, zugefügte Schaden, bei dem es Täter und Opfer gibt. Böses soll nicht sein. »Böses« ist ein moralischer (ethischer) Begriff.
- Alles Böse ist Sünde, insofern es der schöpfungsgemäßen Bestimmung zum Guten widerspricht und so den es verursachenden Menschen in eine Schuld gegenüber Gott und den Menschen führt. »Sünde« meint Böses in seiner theologischen Qualität.
- Leid(en) ist die im Menschen durch Böses (Sünde) oder Übel erzeugte schmerzhafte Empfindung.
- Schmerz ist das seelische und/oder körperliche Gefühl, das durch das Leiden erzeugt wird.
- Schuld ist zum einen (als lat. debitum) der »zu be-zahlende« Schaden, den die böse Tat (die Sünde) erzeugt; zum anderen (als lat. culpa) ist sie ein Schaden, der, weil er nicht mehr bezahlt werden kann, der (ohne Gegenleistung gewährten, also gnadenhaften) Vergebung bedarf. Nur wenn die Schuld bezahlt oder vergeben ist, kann das Böse als überwunden und vernichtet gesehen werden.
Diese Begriffe sind nicht randscharf zu trennen, und im Sprechen werden sie sich bisweilen überschneiden. Manches wird im Verlauf des Gedankengangs deutlicher werden. Doch ihre Bestimmung möge helfen, in der hier oft wirren Rede klarer zu sprechen.
Die folgenden Gedanken habe ich nach dem Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola aufgebaut. Die fünf Kapitel entsprechen in lockerer Weise den fünf Phasen des Exerzitienweges: Dieses erste Kapitel orientiert sich am »Prinzip und Fundament«, die folgenden vier an den jeweiligen »Wochen« der Exerzitien. Auf Ignatius komme ich gelegentlich zu sprechen, in Kapitel vier gibt es einen Exkurs zu ihm. Wer die Exerzitien kennt, kann das Buch auf diesem Hintergrund lesen; wer sie nicht kennt, wird auch ohne sie das Buch verstehen und seinem Weg folgen können. Thesenartig fasse ich jeden Abschnitt am Ende zusammen.
Zum Thema gibt es seit Jahrhunderten eine umfassende, nicht nur theologische Literatur. Kein lesender Mensch wird sie ganz überblicken. Ausführlich auseinandersetzen werde ich mich in diesem Essay nicht mit ihr, ich füge jedoch gelegentlich Hinweise und Zitate ein. Einigen Werken verdanke ich viel, im Anhang wird auf sie verwiesen.
Schmerzhaft springt es ins Auge, das Leiden der Menschheit. Allen Versuchen, es zu erklären oder zu minimieren oder zu verdrängen, zum Trotz fordert es den denkenden, glaubenden, hoffenden, spirituell suchenden Menschen heraus. Aus ignatianischer Inspiration, sprachlich vorsichtig und ohne den Anspruch fertiger Lösungen will dieses Buch einen Weg zeigen, sich dem Leiden anzunähern und mit ihm im Glauben umzugehen.
Das Leid wahrnehmen
Ob man Leiden wahrnimmt – bei sich selbst, beim Nächsten, beim Fernen –, hängt an der Aufmerksamkeit dafür. Aufzumerken, achtsam zu sein ist die Grundhaltung des spirituellen Menschen, die wir ein Leben lang einzuüben und zu pflegen haben.
Leiden wegzuschieben oder ihm zu entfliehen ist ganz einfach. Die moderne Welt bietet eine unglaubliche Vielfalt von Mechanismen dafür, platte und subtile, direkte und indirekte, verlogene und ehrliche, sinnliche und geistige, kleinkarierte und großspurige, teure und billige und kostenlose. Was hilft zum Verdrängen? Konsum und Kommerz, die schöne heile Welt der Medien und das Wohlgefühl des Rausches; das Plappern und das Bloggen und das Twittern, das Simsen und das Surfen, das Schaffen und das Shoppen, das Essen und der Sex und das Hetzen, das Schönsein und das Wichtigsein; das abgeschottete Eigenheim oder der Luxusurlaub, die Flucht in ästhetischen Genuss oder die in spirituelle Sonderwelten; bisweilen auch – ganz subtil – die Flucht in Ressentiments und ins Rechthaben oder das Baden in Verletztheit oder umgekehrt – und manchmal zugleich – in Schuldgefühlen. Allerdings: Ein gewisses Maß an Verdrängung brauchen wir, sonst könnten wir den Alltag nicht bestehen; die Seele kennt hierfür selbsttätige und gesunde Wege. Würde jedoch alle dunkle Wirklichkeit verdrängt, wäre das Leben eine Lüge. Menschen mit Anlage zum Depressiven schaffen es zu wenig, das Leiden zu verdrängen, sie lassen sich durch jedes Übel »runterziehen«, dann jammern sie und klagen, manche nur nach innen, zu ihrer eigenen Qual, andere nach außen, zum Verdruss der Mitmenschen. Hingegen schaffen narzisstisch Veranlagte das Verdrängen des Leids umso besser, denn sie nehmen vor allem sich selbst wahr und kümmern sich sehr effizient darum, dass ihre Schmerzen minimiert und ihre Bedürfnisse gestillt werden; doch leiden sie danach selbst unter den Folgen ihres Narzissmus – unsere modern-postmoderne Lebenskultur ist in hohem Maß narzisstisch geprägt. Das Leiden wahrzunehmen heißt, es in Wahrheit zu nehmen: ehrlich die dunklen Gefühle anschauen, betroffen und verwirrt und hilflos sein dürfen, dunkle Fragen nicht gleich beantworten, schmerzhafte Wahrheit zulassen und annehmen. Um Leiden wahrzunehmen, sollten wir gelegentlich eine gute Zeitung lesen, im Bekanntenkreis den Gescheiterten und Kranken und Verzweifelten eben nicht aus dem Weg gehen, über die offene Drogenszene am Hauptbahnhof nicht hinwegschauen, eine arme, im Heim abgestellte alte Frau besuchen, die Fernsehreportage über den Südsudan nicht wegzappen, die Karfreitagsliturgie nicht überspringen, die Angst vor dem Sterben nicht mit coolen Sprüchen wegschieben, die manchmal in uns schreiende Stille nicht zudecken – das Leiden wahrzunehmen heißt meist, nicht wegzuschauen.
Meist sind Gut und Böse ja nicht so klar durchschaubar, nicht so einfach getrennt. Meist ist die Wirklichkeit vielschichtig, ambivalent: Was sich oben als gut und heilsam präsentiert, ist darunter doch gefährlich, doppelbödig, es kann leicht kippen in Unheiles und Krankes und Böses; das Gute hat oft eine Rückseite des Üblen. Umgekehrt hat manches, das wir als böse oder nur als langweilig bekämpfen, einen guten Kern, den wir nicht vorschnell entsorgen dürfen. Oft durchschauen wir dies nicht oder zu spät und laufen ins offene Messer, also wirft uns das Übel oder Böse umso stärker nieder. Wer sich aber getäuscht fühlt, ist in seiner Ehre verletzt, also gedemütigt; nun wird er argwöhnisch und misstrauisch, jähzornig und bitter. Aufmerksam sein müssen wir auf das Ambivalente und auf das Hintergründige, auf das zu Grobe und auf das zu Feine, auf das zu Sture und auf das zu Wachsweiche, auf die Verschiedenheit der Geister und auf die Strategie