Geist & Leben 1/2019. Verlag Echter

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Freiheit unseres Wahlvermögens eingeräumt und nicht verboten ist (…), einzig das ersehnend und erwählend, was uns jeweils mehr zu dem Ziele hin fördert, zu dem wir geschaffen sind.“ (EB 23) Den Begriff „indifferent“ übernimmt Ignatius vermutlich während seines Pariser Theologiestudiums von Thomas von Aquin, s.th. I q. 83 a. 2, wo dieser ebenfalls den Willen charakterisiert und nicht wie in der stoischen Philosophie und bei Cassian die Adiaphora, die ethisch neutralen Güter. Auch das Beispiel von Gesundheit und Krankheit findet Ignatius bei Thomas, s.th. I–II q. 13 a. 3, und vom „Prinzip und Fundament“ ist in s.th. I q. 82 a. 1 die Rede20. „Durch Ignatius scheint dieses Wort [‚indifferent‘] aus der philosophischen in die spirituelle Sprache eingeführt worden zu sein (…). Offenbar hat Ignatius bei Thomas genau den Begriff gefunden, den er für die Umschreibung des wählenden freien Willens suchte.“21

      In minutiöser Analyse verschiedener überlieferter Textvarianten des „Prinzips und Fundaments“ zeigt Leo Zodrow überzeugend, dass in einer von ihnen eine große Gefahr lauert: Die ignatianische Indifferenz kann dort als stoische Apatheia missverstanden werden. Und da diese fehlerhafte Textvariante, in der das „mehr“ im letzten Halbsatz fehlt, die am meisten verbreitete war, setzte sich das Missverständnis bis ins 20. Jh. als Standardverständnis durch. „Das Vokabular der ignatianischen Indifferenz, wie es von den spirituellen Autoren verwendet wird, gleitet unmerklich hin zu einer Apatheia-Indifferenz“22, zu einem inneren und passiven Zustand der Zustimmung zur Führung Gottes.

      Indifferenz bedeutet keine Leidenschaftslosigkeit, sondern eine Balance der Leidenschaften bzw. Begehren „von unserer Seite“ her. Im „Prinzip und Fundament“ steht nicht, dass der Mensch nichts, sondern dass er „X nicht mehr als Nicht-X“ begehren solle. Ignatius verwendet gerne das Bild von einer Waage, die sich im Gleichgewicht befindet (EB 15; 179). Nur die ungeordneten Leidenschaften (afecciones desordenadas) werden losgelassen, insgesamt aber das Leben einschließlich der Leidenschaften geordnet (EB 1). Ignatius verfügt sogar, dass der Übende, wenn er X anfänglich mehr begehrt als Nicht-X, nicht danach streben soll, das Begehren von X zu mindern oder zu eliminieren, sondern das Begehren von Nicht-X zu steigern (EB 16). So stehen später starke Leidenschaften zur Verfügung, um aus ganzem Herzen und mit aller Kraft das zu realisieren, was als Gottes Willen erkannt wurde.

      Zugleich verlangt Ignatius vom Übenden eine starke Leidenschaft für das Magis, ein Verlangen, das „Mehr“ zu realisieren: „einzig das ersehnend und erwählend, was uns jeweils mehr zu dem Ziele hin fördert, zu dem wir geschaffen sind.“ (EB 23) Von allen ethisch verantwortbaren Handlungsoptionen soll der Exerzitant also nicht irgendeine wählen, die ihn zum Ziel hin fördert, sondern jene, die ihn mehr, man könnte auch sagen: am meisten zum Ziel hin fördert. Im Zustand der Apatheia hingegen wäre keine Wahl möglich, denn diese braucht ein Verlangen als Maßstab für das Richtige: Das Verlangen nach dem Magis, nach dem, was den Menschen mehr zu Gott hinbringt. Und dieses Verlangen kann nur wirkmächtig werden, wenn alle anderen Leidenschaften in der Balance sind. Dann gibt das Magis den Ausschlag nach der einen oder der anderen Seite. Anschließend aber werden die Leidenschaften wieder gebraucht, um in die Tat umzusetzen, was der Exerzitant als richtig erkannt hat.

      Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten

      Den Weg zur Indifferenz charakterisiert Ignatius als ein Ordnen der Leidenschaften – nicht so sehr durch die Vernunft, sondern durch Gefühle wie „Zerknirschung (contrición), Schmerz, Tränen über ihre Sünden“ (EB 4) sowie „Beschämung und Verwirrung“ (EB 48). In der ersten Woche des Exerzitienprozesses geht es darum, sich der Sünden im Gedächtnis zu erinnern, sie mit dem Verstand zu durchdenken und die Affekte vom Willen her zu den genannten Gefühlen hin zu bewegen (EB 50). Das ist ein komplett anderer Weg als der stoische, der allein den Verstand in der Rolle des Steuermannes sieht. Für Ignatius sind die Gefühle die entscheidende Kraft. Mit ihrer Hilfe sollen die Übenden anschauen, wer sie sind – „eine Wunde und ein Geschwür“ – und wer Gott ist –Weisheit, Gerechtigkeit, Güte (EB 58–59) –, und dann über die Barmherzigkeit Gottes und der Mitgeschöpfe „mit stets steigendem Affekt“ staunen (EB 60–61). Die „Seelenbewegungen“, wie Ignatius die Affekte oft nennt, werden also kontinuierlich intensiviert und mittels sinnenhafter Vorstellungen in eine Ausrichtung auf Gott und die Mitgeschöpfe gebracht.

      Die Gefühle haben aber nicht nur anspornenden, handlungsantreibenden Charakter, sondern sind zugleich ein Maßstab der Orientierung, der die Barmherzigkeit Gottes ebenso hervortreten lässt wie die eigene Wandlungsbedürftigkeit. Welche große Bedeutung Ignatius den Gefühlen zumisst, wird in EB 63 deutlich: „Erstens, dass ich eine innere Durchdrungenheit von meiner Sünde und einen Abscheu davor in mir spüre. Zweitens, dass ich die Unordnung meiner Handlungen fühle, damit ich dieselbe verabscheuend mich bessere und mich ordne. Drittens bitten um Erkenntnis der Welt, damit ich mit Abscheu die weltlichen und eitlen Dinge von mir entferne.“ Das erinnert an Ignatius‘ eigene Erfahrung in Manresa: Erst als ihn Abscheu vor seiner gesamten Lebensführung erfüllt, kann er einen neuen Weg beginnen (PB 25). Spüren, fühlen, empfinden – das sind die Mittel, mit deren Hilfe Ordnung in die Leidenschaften kommt. Die ignatianische Unterscheidung der Geister ist eine Kritik der Gefühle durch Gefühle23.

      Personale Ganzhingabe als Ziel des geistlichen Lebens

      Der Schlüssel des ignatianischen Weges ist die Indifferenz. Deren innerste Bestimmung ist die Bereitschaft zur vorbehaltlosen Hingabe. Das berühmte „Suscipe“, das Gebet der Selbstübereignung an Christus (EB 234), ist Herzstück und Ziel des Exerzitienprozesses wie auch allen spirituellen Suchens. Gotteserfahrung, so die dahinterliegende Annahme, ist nur möglich in der liebenden, restlos vertrauenden Übereignung des ganzen Menschen „mit Haut und Haaren“ an das Du Gottes: Mit Freiheit und Willen als den emotionalen Kräften, mit Gedächtnis und Verstand als den rationalen Kräften. Zugleich will die „Betrachtung zur Erlangung der Liebe“ (EB 230) „Gott mit allen Fähigkeiten und in allen Dingen finden (…). Ignatius (…) lässt diese nicht ‚zur Ruhe kommen‘, sondern stellt sie aktiv in den Dienst Gottes“24.

      Mystische Wahrnehmung des Lebens

      Generell geht es in den Exerzitien darum, das Leben Jesu ebenso wie das eigene Leben von innen her zu verspüren und verkosten („sentir y gustar de las cosas internamente“, EB 2). Das meint einerseits ein ganzheitliches Geschehen, in das rationale und emotionale Kräfte des Menschen gleichermaßen eingebunden sind. Es bedeutet andererseits ein Durchdringen der äußeren, kategorialen Ereignisse und ein Wahrnehmen ihrer Innenseite: Wie „schmeckt“ Jesu Umgang mit den Menschen? Welchen „Geschmack“ haben die eigenen Aktivitäten und Erfahrungen? Wo lässt sich in beiden das Geheimnis Gottes erahnen?

      Das Verkosten geschieht durch die Anwendung aller fünf Sinne (EB 65–72; 121–126) als Teil jeder Kontemplation bzw. Meditation25. Nach einem Vorbereitungsgebet geht es um den „Aufbau des Schauplatzes“ (EB 47; 49), d.h. die Vorstellung des Ortes und der Umstände, die ein bestimmtes Geschehen ausmachen, vor dem inneren Auge. Nachdem man erbeten hat, was man in der konkreten Betrachtung begehrt, folgt die eigentliche Meditation mit allen vorhandenen geistigen und emotionalen Kräften: Mit Gedächtnis, Verstand und Willen (EB 45–54). Die in EB 2 angezielte Innerlichkeit wird also durch eine bestimmte Gestaltung der äußerlichen Wahrnehmung vermittelt. Ungegenständliche Gotteserfahrung ereignet sich nach Ignatius nicht nach, sondern in gegenständlicher Welterfahrung. „Solche indiferencia wird zu einem Gott-in-allen-Dingen-suchen.“26 Das ist eine pointiert neue Sicht christlicher Kontemplation.

      Ignatius nennt drei Weisen zu beten (EB 238–260): Die „erwägende und überlegende“ (EB 241) Betrachtung eines Schrifttextes – eine stark verstandesgesteuerte Methode (EB 238–248); das Betrachten des Sinnes eines einzigen Wortes, das bedacht, verkostet und in seinem Trostpotenzial empfunden wird – eine ganzheitliche Methode, die rationale und emotionale Kräfte umfasst und letztlich auf den Trost zielt (EB 249–257); und das Verinnerlichen eines Wortes, indem man es im Rhythmus des Atems betet – eine Variante des Jesus-Gebets, die vor allem die emotionalen Kräfte zum Zug kommen lässt (EB 258–260). Dabei geht es nicht um eine „prozessuale Steigerung der Methodik, wie Jalics (…) erschließt“27, so dass das Jesusgebet die höchste und eigentliche Form des Betens wäre.


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