Lebendige Seelsorge 1/2021. Verlag Echter
nicht zuletzt aufgrund seiner positiven Sicht auf Migration.
Auch für ihn ist in der Linie von Erga migrantes caritas Christi Migration ein „Zeichen der Zeit“: „eine Herausforderung, die es beim Aufbau einer erneuerten Menschheit und in der Verkündigung des Evangeliums des Friedens zu entdecken und zu schätzen gilt“ (EM 14). EM postuliert überdies: „Der Übergang von monokulturellen zu multikulturellen Gesellschaften kann sich so als Zeichen der lebendigen Gegenwart Gottes in der Geschichte und in der Gemeinschaft der Menschen erweisen, da er eine günstige Gelegenheit bietet, den Plan Gottes einer universalen Gemeinschaft zu verwirklichen“ (EM 9).
Rassismus ist im Kontext von Migration demnach die Ablehnung eines „Zeichen[s] der Zeit“, d. h. die Weigerung, Migration nicht als Zuspruch und Anspruch Gottes anzuerkennen und daraus entsprechende ethische und politische Konsequenzen zu ziehen.
Nun kann man eine solche Sicht auf Migration nicht verordnen. Hannah Arendt hatte Recht, wenn sie meinte, es sei „in einer globalisierten Welt unmöglich, mit dem idealistischen Vokabular von Menschenwürde und Gleichheit die Bereitschaft für die nötigen praktischen und politischen Konsequenzen zu erzeugen“ (Arendt, 501). Zu tief sind rassistische Wahrnehmungsmuster im kollektiven Erbe verankert. Zu schmerzhaft ist die Selbstkonfrontation, ProfiteurIn einer rassistischen Ordnung zu sein (vgl. Diangelo). Krisen und Konflikte sind daher – wie bei jedem „Zeichen der Zeit“ – unvermeidliche Begleiterscheinungen im Kontext von Migration und dem damit einhergehenden Zusammenwachsen der Menschheit. Tatsächlich spalten sich angesichts von Migration auch die Kirchen: Jenem Teil der Gläubigen, die sich um die Aufnahme und Integration von MigrantInnen und Geflüchteten bemühen, steht ein Teil gegenüber, der dies rigide ablehnt.
Um Rassismus zu bekämpfen, genügt es daher nicht, allein an den moralischen Einstellungen zu arbeiten. Zur Disposition stehen eine tribalistische Weltsicht und politischhegemoniale Ordnungsvorstellungen. Rassismusbekämpfung kann daher nur eingebettet in pastoral ganzheitliche, d. h. spirituelle, mentale, ethische, politische und theologische Lernprozesse erfolgen. Pastoraltheologische Konzepte dafür stehen erst am Anfang, einige Ideen seien kurz skizziert:
Zunächst bedarf es einer entmoralisierenden Sensibilisierung für das Problem. Es gilt, das Phänomen in seiner geschichtlichen Genese und seinen sozialen und politischen Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft zu verstehen. Eine solche kognitive Einbettung kann entlasten, schmerzhaft bleibt es allemal. Auch eine spirituelle und theologische Begleitung kann helfen, die Unvereinbarkeit zwischen Rassismus und dem christlichen Glauben zu erkennen. Vor allem aber bedarf es positiver Erfahrungen des Zusammenlebens über ethnische, kulturelle und religiöse Grenzen hinweg: Regionale Nachbarschaftsprojekte sowie interkultureller und interreligiöser Dialog sind dafür bewährte Wege. Auch moderierte Begegnungen mit Menschen, die Rassismus am eigenen Leib erfahren haben, können das Interesse am gesellschaftspolitischen Einsatz für gerechtere gesellschaftliche und kirchliche Ordnungen wecken.
Nicht zuletzt braucht es alternative Narrative und Visionen, die die Sehnsucht nach und Freude auf eine inklusive Kirche, Gesellschaft und Welt wecken, in denen Diversität ‚normal‘ ist und Gerechtigkeit herrscht. Die biblische Tradition ist reich an solchen Erzählungen, Bildern und Verheißungen. Orte, an denen ein solch inklusives Zusammenleben die große Idee von der Einheit der Menschen bereits heute lokal und konkret erfahren und erahnen lässt, gibt es in Kirche und Gesellschaft längst. Holen wir sie ans Licht! Sie geben Hoffnung, dass eine Welt ohne Rassismus möglich ist.
LITERATUR
Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [Teil II: Imperialismus], München 31986 [1951].
Arts, Will/Halman, Loek, Value Research and Transformation in Europe, in: Polak, Regina (Hg.), Zukunft. Werte. Europa. Die Europäische Wertestudie 1990–2010: Österreich im Vergleich, Wien 2011, 79–99.
Diangelo, Robin, Wir müssen über Rassismus sprechen. Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft weiß zu sein, Hamburg 2020.
Geulen, Christian, Geschichte des Rassismus, München 2007.
Heitmeyer, Wilhelm u. a. (Hg.), Deutsche Zustände [10 Bände], Berlin 2002–2011.
Keßler, Tobias (Hg.), Lebenslänglich! Das Ringen von Migrierten und Geflüchteten um gleichberechtigte Partizipation in Gesellschaft und Kirche, i. E.
OSCE, OSCE Human Dimension Commitments and State Responses to the Covid-19 Pandemic; pdf-upload unter: https://www.osce.org/files/f/documents/e/c/457567_0.pdf.
Päpstliche Kommission Justitia et Pax, Die Kirche und der Rassismus [Arbeitshilfe Nr. 67], Bonn 1998.
PEW Research Center, Being Christian in Western Europe; abrufbar unter: https://www.pewforum.org/2018/05/29/being-christian-inwestern-europe.
Rosenberger, Sieglinde/Seeber, Gilg, Kritische Einstellungen: BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration, in: Polak, Regina (Hg.), Zukunft. Werte. Europa. Die Europäische Wertestudie 1990–2010: Österreich im Vergleich, Wien 2011, 165–190.
Zerger, Johannes, Was ist Rassismus?, Göttingen 1997.
[Links alle zuletzt eingesehen am 25.01.2021]
Deutsche Kirche – weiße Kirche?
Die Replik von Marita Wagner auf Regina Polak
Ich stimme Regina Polak in ihrem Argument, dass Rassismus nicht nur ein moralisch-individuelles, sondern darüberhinausgehend auch politisches Problem ist, welches insbesondere in der Migrationspolitik zutage tritt, zu. Mit Blick auf das Thema Rassismus scheint es besonders schwerzufallen, eine gesellschaftliche „Gesamtverantwortung“ (Arendt, 500) zu übernehmen, weil dies zunächst eine selbstkritische Auseinandersetzung und sodann einen verantwortungsbewussten Umgang mit den eigenen (weißen) Privilegien erfordert. Privilegierte Menschen erleben diese notwendige, ausstehende Umverteilung von unverdienten, qua Geburt erhaltenen Bevorzugungen oft als einen vermeintlich gesellschaftlichen Nachteil, wodurch sich das Gefühl einer ungerechtfertigten existentiellen Hinterfragung und daher der Bedrohung einstellt. Wie sähe vor diesem Hintergrund eine postkoloniale (Pastoral-)Theologie aus, die Beziehungen heilt, indem sie zu einer Globalisierung beiträgt, in der allen Menschen Gerechtigkeit zuteilwird (vgl. Mabanza)? Als kritischen Denkanstoß kann hier unter anderem der Roman von Abdourahman A. Waberi Die Vereinigten Staaten von Afrika dienen, in dem der Autor das eurozentrische Weltsystem gegen den Strich liest und beschreibt, wie eine Welle an Geflüchteten aus dem Globalen Norden an den afrikanischen Küsten wie Djerba und Algier stranden. Waberi zeichnet das Bild eines von Fortschritt, Entwicklung und einer wissenschaftlichen Bildungselite geprägten afrikanischen Staatenbundes, der sich aufgrund seiner Finanzstärke zu behaupten weiß – und gegenüber den Bedürfnissen und Nöten der von Armut geplagten europäischen Völker emotional eher unberührt bleibt.
Polak schreibt, dass Rassismus heute in der EU geächtet sei. Ein wichtiger öffentlicher Schritt in der Auseinandersetzung mit Anti-Schwarzem Rassismus ist sicherlich, dass die UN im Jahr 2015 eine Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft ausgerufen hatte, an deren Zielumsetzung auch Berlin beteiligt ist. Dazu zählen in erster Linie die Bekämpfung von Diskriminierung sowie die Aufarbeitung der eigenen kolonialen Vergangenheit. Ein Konsultationsprozess mit Selbstorganisationen Schwarzer Menschen in Berlin hat 2018 begonnen. Dass People of Color und deren Lebenswirklichkeiten in Deutschland bislang nicht genügend sichtbar, obwohl vorhanden sind, und daher meist immer noch negiert werden, zeigt die Debatte um die Frage, ob es einer Studie zu Rassismus in der Polizei und damit einhergehend rassistisch motivierter Polizeigewalt bedürfe. Nachdem Bundesinnenminister Horst Seehofer diese Forderung zurückgewiesen hatte und dafür in die Kritik geraten war, stimmte er der Studie doch zu – später dann allerdings stellte er zur Bedingung, die Fragestellung zu erweitern, indem Rassismus in der Gesamtgesellschaft untersucht werden