Anatomie des Handy-Menschen. Matthias Morgenroth

Anatomie des Handy-Menschen - Matthias Morgenroth


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Smartphone – und die gibt es definitiv nicht. Und drittens müssten die Bedingungen für eine solch aussagekräftige Studie einigermaßen stabil bleiben, aber das tun sie nicht, denn laufend verändern sich wesentliche Teile dessen, was wir beobachten wollen, die Gadgets, also unsere technischen Lebensbegleiter, wie auch die Widgets, also die Benutzeroberflächen, sowie auch die Apps, also die unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten.5

      Dementsprechend läuft eine breite und zum Teil aggressiv geführte Diskussion darüber, welche Studien wie zu deuten sind, was nur zufällig gleichzeitig auftaucht und was kausal zusammenhängt, zumal wohl die finanzkräftigsten Unternehmen der Welt, die „Big Five“ Apple, Amazon, Google, Facebook und Microsoft, versuchen, die Stimmung zu ihren Gunsten zu steuern und nichts Nachteiliges über die scheinbar alternativlose digitale Entwicklung zu sagen. Sie verstehen sich mit geradezu religiösem Gestus als Weltverbesserer zu verkaufen.6 Logisch. Es ist ja ihre schöne neue Welt, und dass sie profitorientierte Unternehmen sind, deren Strukturen und Geschäftsmodelle Teil des Problems sein können, wird dabei gern vergessen. Dass etwa Facebook seit Neuestem an der TU München einen Lehrstuhl für Medienethik finanziert, erscheint in diesem Zusammenhang vielen wie ein Feigenblatt.7

      Und dann gibt es noch etwas, was einer nüchternen Betrachtung der Phänomene zuwiderläuft. Jede und jeder, du und ich, haben bestimmte Gefühle zu unseren digitalen Endgeräten entwickelt. Ja, Gefühle. Es muss ja nicht gleich Liebe sein, aber es geht schon in die Richtung. Es muss auch nicht gleich Sucht sein (die Diagnose Handysucht wurde 2018 von der WHO offiziell in den Kanon der anerkannten Krankheiten aufgenommen), aber auch das geht in die richtige Richtung, auch das Leugnen und Verstecken des Suchtmittels gehört ja schließlich zu den Symptomen von Sucht dazu. Was Verliebtheit und Sucht verbindet, ist, salopp gesagt, dieses: Beides macht blind, und das erschwert das Nachdenken und Erkennen von dem, was gerade mit uns und um uns passiert.

      Möglicherweise kann deshalb gerade die Tatsache, dass wir alle Anfänger sind, Mut machen. Wir alle können, sollen, dürfen und müssen mitreden, unperfekt und tastend, vielleicht manchmal blind. Das heißt aber auch: Wir alle müssen nicht alles glauben, was uns Spezialisten erzählen oder uns verkaufen wollen oder unhinterfragt praktizieren. Nein, wir dürfen und wir müssen mitreden, weil es um uns selbst geht. Um uns und unser Leben.

      • Wann hast du dein erstes Smartphone in der Hand gehalten? Was hast du gefühlt? Versuche, dich an eine Zeit vor dem Smartphone zu erinnern!

      • Wäre dein Smartphone ein Tier, als welches würdest du es sehen?

      • Welches sind die Lieblingseigenschaften deines digitalen Freundes in der Hand?

      • Wo liegt dein Handy gerade? Willst du nicht mal kurz einen Blick darauf werfen?

      Das Smartphone verändert unser Zeit-, Welt- und Selbstverständnis, mit oder ohne social distancing. Wir sind mitten drin in einer geistigen Metamorphose. Obwohl das, was passiert, auch ganz konkrete Auswirkungen auf unsere biologischen Körper haben kann, man denke an Kurzsichtigkeit durch Handynutzung, die neue Daumenkompetenz der digital natives oder nachweisbare Veränderungen im Gehirn.8 Oder, etwas kurioser, den Vormarsch der Läuse, weil wir die Köpfe über den Handys enger zusammenstecken,9 sowie die Lebensgefahr, in die sich die Leute beim Selfie-Schießen begeben, die Todesrate ist weltweit erfasst, in Deutschland ist allerdings bis 2017 nur ein Todesfall direkt aufs unachtsame Fotografieren mit dem Handy zurückzuführen.10 All das lassen wir beiseite.

      Die „Organe“ oder „Sinne“, die wir im Folgenden untersuchen werden, sind anderer Natur. Sie sind so neu, dass wir ihnen sogar erst noch Namen geben müssen. Uns sind Flügel gewachsen, wir tragen Hornhaut auf der Seele, haben einen Wisch-Welt-Daumen und eine Dunkellinse bekommen, einen Möglichkeitssinn und ein Vertrauensseelchen und noch einiges mehr.

      Zunächst müssen wir uns noch kurz über das Instrumentarium dieser Anamnese verständigen: Nach welchen Methoden müssen wir vorgehen, um uns zu scannen? Welche Kurzschlüsse im Denken gibt es, zu welchen Verwechslungen neigen wir, wenn wir ans Handy denken und mit ihm zusammenleben? Welche Kontrastmittel müssen wir daher spritzen?

      Jeder von uns redet dabei von einem anderen Standpunkt aus mit. Hat andere Erfahrungen im Gepäck. Bei mir verhält es sich in Bezug auf diese Anatomie des Handy-Menschen so: Erstens erlebe ich in der tagtäglichen Arbeit als Reporter und Redakteur eines öffentlich-rechtlichen Senders, wenn ich mit dem Umsetzen von Nachrichten für Hörfunk, Fernsehen, Online und Social Media zu tun habe, wie sehr die Form den Inhalt bestimmt, wie sehr die neuen Rahmenbedingungen Inhalte verändern, Nachrichten neu formatieren und damit die Geschichten vorprogrammieren, mit denen wir versuchen, uns, die Welt und ihr aktuelles Geschehen zu erfassen. Zum Zweiten bin ich, anders als meine Kinder, ein Mensch, der beide Welten kennt, die vordigitale und die digitale. Meine Kinder können sich nicht vorstellen, dass es einmal eine Welt ohne WLAN-Hotspots und mobile Daten gegeben hat, so wie ich mir nur schlecht vorstellen kann, wie die Gesellschaft ausgesehen haben mag, als es noch keine Schrift und damit kein Überdauern von Sprache gegeben hat. Ich bin mir bewusst, dass ich daher Gefahr laufe, der Nostalgie des „früher war besser“ zu erliegen, glaube aber, dass darin auch gewisse Vorteile liegen können. Nämlich nicht alles allzu schnell als selbstverständlich oder gar als alternativlos hinzunehmen. Und drittens beobachte und beschreibe ich seit vielen Jahren das, was man mit dem Wort Spiritualität zu fassen sucht, den „gelebten Glauben“, das, wofür das Herz schlägt. Sendungen, Bücher und Aufsätze entstehen regelmäßig aus diesem Arbeitsbereich, und mit vielen der in diesem Buch zitierten Menschen habe ich durch meine Arbeit auch direkt diskutieren dürfen.

      • Welches sind deine Kompetenzen? Aus welcher Perspektive kommst du aufs Handy zu?

      • In welchen Momenten fühlst du dich abgehängt von anderen Usern, und um was beneidest du sie?

      • Woran hängt dein Herz?

      So. Nun können wir starten. Wichtige Vorbereitung: Bitte lege dein Smartphone nicht nur zur Seite, mache es am besten auch aus. Geht das? Kannst du das? Es ist wichtig, denn schon das neben uns gelegte oder im Raum befindliche Smartphone absorbiert, wie Experimente zeigen, unglaublich viel von unserer Aufmerksamkeit.11 Und das wäre schade. Zugegeben: Es ist beinah schon so etwas wie ein Abenteuer: Nicht googeln – selbst denken!

      1. Auf der Suche nach dem Selbstgefühl: Das Instrumentarium

      Der Mensch ist ein Mängelwesen. Wir sind nicht vollständig. Mängelwesen: So hat uns der Anthropologe Arnold Gehlen schon vor Jahrzehnten genannt.12 Der Mensch ist ein Mängelwesen – und das ist seine Stärke. Gemeint ist, dass wir, anders als die meisten anderen Lebewesen, ohne viele Hilfsmittel nicht überleben können und deswegen eine ungeheure Schöpfer- und Geisteskraft entwickelt haben. Wir haben kein Fell, also brauchen wir Kleidung. Wir haben keine Reißzähne, also erfinden wir Jagdwaffen. Wir haben keine Chance, ohne Mitmenschen zu überleben, also haben wir Familien, Clans und Gesellschaften, Sprache und Kultur. Wir haben, weil wir Beziehungswesen und uns unserer Sterblichkeit bewusst sind, Worte, Tätigkeiten und Institutionen entwickelt für Situationen, in denen es weder etwas zu sagen noch etwas zu tun gibt: Gesänge, Gebete, Rituale und Religionen. Sie geben uns Sicherheit im Angesicht von Zufall, Unfall, Glück und Unglück, im Angesicht des Todes.

      Mit dieser komplementären, heißt auffüllenden Sichtweise lässt sich tatsächlich die Geschichte der menschlichen Kultur gut beschreiben: Wir haben zu wenig mitbekommen auf diese Welt und bauen uns durch menschliche Kreativität Ersatz, eine zweite Natur.

      Wie bei allen Dingen, die der Mensch erschafft und sich als Gegenüber setzt, laufen wir Gefahr, uns der uns selbst geschaffenen Struktur zu unterwerfen, ohne es zu bemerken.13 Wir setzen uns zum Beispiel Regeln, die zunächst sinnvoll sein mögen. Wenn die Zeiten sich ändern und der Sinn der Regeln abhandengekommen ist, bleiben


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