Blutiger Spessart. Günter Huth
Pietro Vasselari hatte es nicht eilig. Er genoss die schöne Aussicht. Man konnte dabei sehr gut nachdenken.
Mallepieri war für ihn lediglich eine nützliche Marionette, die er in diesem Spiel an den Fäden hielt. Wenn der Consigliere seinen Paten beseitigte, hatte er ihm die Drecksarbeit abgenommen. Der Pate der Würzburger Mafiafamilie wollte auf keinen Fall mit der Beseitigung des Konkurrenten aus dem Spessart in Verbindung gebracht werden. Das hätte in alle Familien große Unruhe gebracht. Später Mallepieri zu beseitigen war sicher keine große Angelegenheit. Schon seit längerer Zeit hatte Vasselari ein Auge auf die Geschäftsbereiche Don Emolinos geworfen. Wie es aussah, steckte der Alte in Schwierigkeiten mit der Justiz. Das bedeutete, dass das Alphatier der Emolinofamilie schwächelte. Ein guter Zeitpunkt, um sich sein Revier anzueignen. Sollte Mallepieri versagen, konnte man immer noch andere Methoden ins Auge fassen, um Emolino vom Thron zu stoßen.
Renato Mallepieri hatte durch das Treffen mit dem Paten der Konkurrenzfamilie Vasselari einen Schritt getan, der nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Das war ihm voll bewusst. Er war jetzt ein Verräter. Er hatte sich auf ein höchst riskantes Unternehmen eingelassen, aber wenn er sein Ziel, nämlich an die Spitze der Familie aufzusteigen, erreichen wollte, gab es keinen besseren Zeitpunkt. Der Thron des schwer angeschlagenen Don Francesco Emolino wankte. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft in Würzburg hingen ihm seit fast zwei Jahren an den Fersen und hatten sich wie eine Meute Terrier an ihm festgebissen. Mallepieri war davon überzeugt, dass die Staatsanwaltschaft eher früher als später zuschlagen würde. Die Gefahr, dass der Alte auspackte, wenn er merkte, es ging ihm an den Kragen, durfte man nicht unterschätzen. In diesem Fall würden viele Köpfe rollen, unter anderem auch seiner. Deshalb war er sicher, dass er die meisten Mitglieder der Familie schnell auf seine Seite ziehen konnte, wenn Don Emolino etwas zustieß und er überraschend aus dem Leben schied. Und für die, die nicht kooperieren wollten, gab es andere Lösungen.
Don Pietro war keinen Deut besser. Ein gefährlicher weißer Hai, der in den Gewässern der Mafia schwamm und dort rücksichtslos auf Beute lauerte. Mallepieri hatte keinen Zweifel daran, dass er für den Alten nur Mittel zum Zweck war. Ein willfähriges Instrument, mit dessen Hilfe Vasselari sich die lukrativen Geschäfte im Revier von Emolino aneignen wollte. Dafür würde ihm jedes Mittel recht sein. Der Consigliere zuckte im Gehen mit den Schultern. Wenn er erst einmal an der Macht war, würde man über die Abmachung noch einmal reden müssen. Wer sagte denn, dass Don Pietro das ewige Leben hatte?
Wenig später hatte Mallepieri den öffentlichen Parkplatz der Festung erreicht. Wegen des schlechten Wetters rechnete man nur mit einer geringen Besucherzahl und hatte das Parkwärterhäuschen heute nicht besetzt. Folglich konnte man gebührenfrei parken. Auf dem Areal herrschte fast völlige Leere. Die wenigen Fahrzeuge, die über den ganzen Platz verstreut standen, waren unbesetzt. Mallepieri setzte sich in seinen weißen Alfa Romeo, 159 SW mit 200 PS und ließ den Motor kurz aufheulen. Er liebte den satten Sound der starken Maschine, dann legte er den Gang ein und rollte langsam vom Parkplatz. So schnell würde er nicht zur inneren Ruhe finden. Das, was er beabsichtigte, konnte ihm das Leben kosten oder ihm Macht und Reichtum verschaffen.
Zwei Stunden nach dem konspirativen Treffen auf den Festungswällen läutete das Mobiltelefon von Francesco Edoardo Emolino, dem Oberhaupt der Familie.
Er saß auf der linken Mainseite in Hofstetten in seiner etwas abgelegenen Villa und hatte sich gerade von seiner Haushälterin nach dem Essen einen Espresso servieren lassen. Seitdem seine Frau vor drei Jahren an Krebs gestorben war, lebte er allein in dem großen Haus mit zwei Stockwerken und zwölf Zimmern. Sein einziger Sohn Ricardo war schon lange ausgezogen und hatte eine eigene Wohnung. Im Haus wohnte noch sein Chauffeur, der ihm gleichzeitig als Leibwächter diente. Anna, seine Haushälterin, arbeitete nur tagsüber in der Villa; am Abend ging sie nach Hause. Emolino hatte ihr schon mehrfach angeboten, doch hier ins Haus zu ziehen, aber sie hatte immer abgelehnt. Sie fand, es gehöre sich nicht, mit einem Witwer zusammenzuleben.
Bei dem Handy handelte es sich um ein unregistriertes Prepaidmobiltelefon, das nicht so einfach abgehört werden konnte. Über seinen Festnetzanschluss liefen nur noch völlig harmlose Anrufe. Schon seit Monaten wusste er, dass er von der Polizei überwacht wurde.
»Pronto!«, meldete er sich kurz. Obwohl er schon seit Jahrzehnten in Deutschland lebte, pflegte er im Umgang mit seinen Landleuten nach wie vor die italienische Sprache. Die Nummer auf dem Display war ihm bekannt. Er wusste, wer anrief, und lauschte einige Zeit wortlos in den Hörer. Seine Miene veränderte sich im Laufe des Gesprächs dramatisch; war sie am Anfang angespannt gewesen, wechselte sie nun schlagartig in Betroffenheit und schließlich in Wut. Als der Anrufer schließlich schwieg, fragte er knapp: »Und daran gibt es keinen Zweifel?«
Die Antwort bestand offenbar nur aus einem Wort.
»Grazie«, gab Don Emolino zurück, dann unterbrach er das Gespräch und legte das Handy zurück. Schweren Schrittes ging er zu der breiten Fensterfront. Geraume Zeit starrte er wie versteinert hinaus. In der Ferne auf der gegenüberliegenden Mainseite konnte er, etwas versetzt, die Häuser von Langenprozelten erkennen.
Er setzte sich an den Schreibtisch zurück. Sein Espresso war mittlerweile kalt. Beiläufig schob er die Tasse zur Seite.
Es war ein Schock, wenn man erfuhr, dass ein Körper, den man für völlig gesund gehalten hatte, plötzlich von einem Krebsgeschwür befallen war. Bei seiner Frau hatte er dies auf dramatische Weise erleben müssen. Auch die Familie war nach seinem Gefühl so eine Art Organismus. Wie er soeben gehört hatte, schien sich auch hier ein Krebsgeschwür eingenistet zu haben.
Schließlich gab er sich einen Ruck, griff erneut zum Telefon und wählte eine Nummer. In solchen Fällen half nur eine schnelle, rigorose Operation, um den Tumor zu entfernen, bevor er auf den ganzen Körper übergriff. Er wählte die Nummer eines ausgezeichneten »Chirurgen«, der auf solche Eingriffe spezialisiert war.
Wenig später hörte er unten im Hof den Motor eines Fahrzeugs. Den Klang kannte er genau. Sein Consigliere hatte einen Zahnarzttermin in Würzburg gehabt, wie er Don Emolino erklärte.
Nach kurzem Anklopfen betrat Mallepieri das Arbeitszimmer.
»Hat in Würzburg alles geklappt?«, wollte Emolino wissen. Er musterte seinen Vertrauten mit prüfendem Blick.
»Alles klar«, gab Mallepieri locker zurück, »irgendwann werde ich mir wohl einen Weisheitszahn ziehen lassen müssen. Aber das hat noch Zeit, solange er nicht rebellisch wird. Liegt noch was an? Ansonsten würde ich nämlich nach Hause fahren.«
Don Emolino schüttelte den Kopf und sagte leise: »Nein, du kannst gehen. Morgen benötige ich dich erst gegen Mittag.«
Mallepieri nickte und verließ mit einem kurzen Gruß das Zimmer.
Don Emolino sah ihm lange hinterher. Die Sache mit dem Weisheitszahn dürfte sich erledigt haben.
Am nächsten Morgen verließ Renato Mallepieri sein Haus in Gemünden am Main, das in der Nähe der Scherenburg lag, und öffnete seine Garage. Er entriegelte seinen Wagen mit der Fernbedienung und wollte sich gerade hinter das Steuer setzen, als ein maskierter Mann um die Ecke bog und auf ihn zurannte. Trotz des sommerlichen Wetters trug er einen langen schwarzen Ledermantel. Für eine Schrecksekunde lang fühlte sich Mallepieri wie gelähmt. Keinen Augenblick zweifelte er an den Absichten des Vermummten.
In den nächsten Sekunden überschlugen sich die Ereignisse.
Mallepieris Hand fuhr zum Gürtel, wo unter dem Jackett eine durchgeladene Beretta steckte. Ehe er jedoch die Waffe greifen konnte, zog der Maskierte blitzschnell eine kurze Pumpgun unter seinem Mantel hervor und brachte sie in Hüftanschlag.
Wie aus dem Nichts stürmten fast zeitgleich zwei ebenfalls vermummte Männer mit Helmen auf dem Kopf in die Garage und brüllten den Angreifer an: »Polizei! Lassen Sie sofort die Waffe fallen!« Der Maskierte war aber offenbar so verblüfft, dass er die Gefährlichkeit der Lage nicht schnell genug einschätzen konnte. In den Ansatz einer Drehung hinein ertönte der scharfe Knall eines Schusses, und der Mann stürzte wie vom Blitz getroffen gegen die weiße Garagenwand. Dort bildete sich ein von weißer Gehirnmasse durchsetzter, blutroter Fleck,