Tatort Oberbayern. Jürgen Ahrens
Meeresspiegel, so hoch lag München. Bergtouren konnte sie ebenso wenig abgewinnen. Dabei geriet sie nur ins Schwitzen und bekam eine feuerrote Birne. Dann lieber Eier-Diät, statt auf solch anstrengende Art Kalorien zu verbrennen.
Aufgrund dieser Überlegungen entschied sich die Archivarin dagegen, einen der verlockenden »Auszognen« zu verspeisen, die vor ihr auf einer weiß-blau rautierten Porzellanplatte dufteten. Sie liebte zwar Fettgebackenes jeder Art, überschlug aber sofort, dass ein Stück mindestens 400 Kalorien hatte, und verzichtete.
Gott sei Dank öffnete sich in diesem Moment wieder die Flügeltür und Frau Michlbichler bat sie ins Büro des Chefs.
In einem riesigen Raum stand ein Mann Anfang 30 mit blau kariertem Hemd und einer Lederhose, vermutlich aus Hirschleder. Dazu trug er hippe blaue Sneaker, nicht etwa altmodische Haferlschuhe. Jan Wendelin hatte dunkelblonde Haare, dazu gut gebräunte Gesichtshaut. Birgit ging ihrer Rolle entsprechend schüchtern auf den Naturburschen zu, der sie anstrahlte:
»Servus Frau, äh …«
»Moosbacher, Herr Wendelin, Andrea Moosbacher. Danke, dass Sie sich die Zeit für mich nehmen, wo es um eine rein private Angelegenheit geht.«
»Aber Frau Moosbacher, fast alle Leute kommen hierher in privaten Angelegenheiten, that’s my business, das ist mein Job, wissens. Setzen Sie sich«, forderte Wendelin sie auf und ließ sich selbst auf einen blau-weiß rautierten Sitzsack fallen. Für Andrea zeigte er auf einen riesigen Ledersessel, der als Armlehnen und Stuhlbeine Stücke von Hirschgeweih hatte, Imitat, wie Birgit unschwer erkannte.
»Äh, gern«, sagte Andrea schüchtern und setzte sich mit eng zusammengepressten Beinen auf den Hirschsessel, die Handtasche hielt sie auf dem Schoß umklammert. Zwischen ihnen stand ein zur Tischplatte umfunktionierter Baumstamm. Darauf: Brezeln, Butter, Obazda.
»Greifens zu, Frau Moosbeier.«
»Moosbacher«, korrigierte Birgit höflich und schüttelte den Kopf. »Nein, danke, ich muss auf meine Linie achten.«
»Aber ein Mineralwasser werdens nehmen, oder?« Jan Wendelin grinste sie jovial an und holte eine Flasche »Alpenwasser medium« aus einem gigantischen Kühlschrank, dessen Front eine saftig grüne Alpenwiese zeigte. Birgit hatte langsam genug von der Bayern-Deko, aber sie bewahrte die Fassung und nahm höflich das Wasserglas – selbstverständlich mit weiß-blauem Rautenaufdruck – entgegen.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Moosbauer?« Wendelin hatte sich wieder gesetzt und nahm einen kräftigen Schluck aus dem vor ihm stehenden Weißbierglas. »Alkoholfrei, nicht dass hier ein falscher Eindruck entsteht.«
Birgit lächelte schüchtern, nahm einen Schluck von ihrem Wasser und begann ihre Recherche.
»Da hams ja ein unternehmungslustiges Bürscherl daheim, Frau Moosbrauer.« Jan Wendelin hatte sich bierschlürfenderweise Birgits ganzes Märchen vom Sohnemann, der Robert Adelhofers Bergwinter nachmachen wollte, angehört. Birgit hatte längst aufgehört, ihren ohnehin falschen Nachnamen zu korrigieren. Herrn Wendelins jovial-gönnerhafte Art ging ihr gewaltig gegen den Strich, aber sie musste durchhalten.
»Herr Wendelin, kann der Junge das schaffen? Er will genau wie Robert Adelhofer nur Ausrüstung für eine Tagestour im Winter mitnehmen, eine warme Jacke, keinen Schlafsack, keine Campingausrüstung, nichts.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Wendelin seufzte. »Wir haben hier oft Anfragen von irgendwelchen Verrückten, die diese Adelhofer-Nummer nachmachen wollen. Und ich hab bisher allen gesagt: Lasst’s die Finger davon. Der Adelhofer is’ a verrückter Hund, außerdem is’ er in den Bergen aufgwachsen. Ich würd niemandem raten, das nachzumachen. Und Sie sehen ja, Frau Moorbader« – er deutete selbstgefällig auf die Plakate an den Wänden, die die durchgeknallten »Alpenliebe«-Events zeigten, »dass wir nicht zimperlich sind, in den Bergen einen loszumachen.«
Birgit hoffte, dass es ihr gelang, noch besorgter auszusehen.
»Der Kevin will das unbedingt. Ich kann gar nichts dagegen tun. Wenn ich es ihm verbiete, haut er mir ab. Drum habe ich halt gedacht, dass es besser ist, unauffällig dafür zu sorgen, dass er sich gescheit auf diesen Blödsinn vorbereitet.«
Wendelin grinste etwas unsicher – mit Muttergefühlen war er in seinem »Business« offenbar nicht oft konfrontiert. Ihre Situation schien ihm dennoch nahe zu gehen.
»Also, Frau Moosberger, schreibens mal auf.«
Wendelin räusperte sich verlegen und holte einen – natürlich blau-weiß rautierten – Schreibblock aus einer Schublade im Baumstamm und legte ihn mitsamt rautiertem Kuli vor Birgit hin.
»Er muss Fallen stellen können, damit er was zum Essen hat, ein totes Tier ausnehmen natürlich, Fell abziehen und gerben, damit er Felle als Decken und Unterlagen verwenden kann. Feuermachen sowieso und mindestens einen Topf herstellen, zum Beispiel aus Baumrinde. Wozu der Adelhofer nie was gesagt hat, ist, ob er ein Smartphone dabeigehabt hat mit zusätzlichem Ladegerät. Zumindest für die ersten Tage hätte er dann Wetterprognosen abrufen können, wenn’s denn einen Empfang gegeben hat, da, wo er war. Das weiß ja niemand so ganz genau. Schauns einfach, dass ihr Kevin ein Smartphone mitnimmt, zur Not stecken Sie’s ihm heimlich in den Rucksack. Damit kann man ihn in jedem Fall orten, falls was wär’.« Wendelin schaute prüfend Richtung Birgit. Wahrscheinlich wollte er checken, ob die Formulierung »falls was wär’« zu viel war für das leidgeprüfte Mutterherz. Birgit versuchte gleichbleibend besorgt zu schauen.
»Die Gegend, in die er will, muss er natürlich wie seine Westentasche kennen, jede Höhle, jeden Felsvorsprung, unter dem er Schutz suchen könnt’, Wasservorräte, kleine Seen. Welche Tiere gibt’s, sind die gefährlich? Er sollt’ wissen, welche Wurzeln man ausgraben und essen kann. Er muss prüfen, ob’s genug Möglichkeiten gibt, Holz zum Feuermachen zu finden. Er muss die Wettersituation der letzten Jahre genau studieren. Also, Frau Moosbauer, ganz ehrlich, ich beneid’ Sie nicht.«
Birgit starrte Herrn Wendelin aus – wie sie hoffte –schreckgeweiteten Augen an.
»Wissens, ich hab mich auch bei dem Adelhofer gfragt, wie der des gschafft hat, allein schon des mit dem Holz zum Feuermachen. Des Holz ist im Winter feucht. Er muss Unmengen irgendwo in eine Höhle geschleppt haben, in der es trocken ist. Und es brennt halt nicht jedes Holz gleich gut. Ist absolut nicht einfach. Versuchens noch mal mit Ihrem Kevin zu reden. Vielleicht will er zum Testen bei einer von unseren Touren mit, ich tät Ihnen einen Sonderpreis machen.« Wendelin grinste jovial.
»Das ist ein nettes Angebot, Herr Wendelin, vielen Dank. Ich werde es dem Kevin vorschlagen. Nur noch eine Frage: Glauben Sie, dass es überhaupt möglich ist, so einen Winter in den Bergen zu überleben, oder hat der Adelhofer hauptsächlich Glück gehabt?«
Wendelin überlegte kurz: »Glück ghört schon dazu, Frau Moosbierer.«
Montagnachmittag,
Redaktion »Fakten«, München
»Mit Holz vor der Hüttn kennt er sich bestimmt aus. Ob er gut und schlecht brennendes Holz kennt, das ist eine interessante Frage.« Katharina saß an ihrem Schreibtisch, ihr gegenüber Andrea Moosbacher. Als Birgit Wachtelmaier ging sie derzeit definitiv nicht durch.
»Frau Langenfels, wo haben Sie diese Machosprüche her?« Birgit grinste ihre Freundin an. »Holz vor der Hüttn«, der bayerische Ausdruck für eine beeindruckende Oberweite, passte nicht in Katharinas Vokabular.
Katharina stand auf und ging hinter ihrem Schreibtisch auf und ab. »Das ist super, wie viel du herausgefunden hast.«
Frau Moosbacher-Wachtelmaier errötete geschmeichelt. »Als Nächstes werde ich noch mit einem Biologen sprechen, wie man sich im Winter in den Bergen ernähren kann. Habe schon einen Telefontermin. Und du?«
»Ich muss mit den Eltern Adelhofer reden. Vielleicht wissen die was über die Bombe, die Lukas hat platzen lassen wollen auf der Pressekonferenz. Ich glaube es aber nicht. Und ansonsten muss ich …«
»Oliver wird sie schon nehmen«, kam es von jenseits ihres Schreibtischs.