Erzählen (E-Book). Jörg Ehrnsberger

Erzählen (E-Book) - Jörg Ehrnsberger


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sondern vielleicht auch mein Herz.

      KOMMUNIKATIONSMODELLE

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      WO LERNEN WIR ERZÄHLEN?

      Unser Gehirn ist seit vielen Generationen äußerst erfahren darin, Erzähltes richtig zu entschlüsseln. Man muss hier gar nicht bis zu den in diesem Zusammenhang oft zitierten Neandertalern zurückgehen – doch für sie war es einfach von Vorteil, schnell zu verstehen, in welcher Richtung die Mammuts grasten, die ihr nächstes Abendessen werden konnten, und in welcher Richtung die Säbelzahntiger lauerten, für die die Neandertaler selbst zum Abendessen werden konnten.

      Aus dem Blickwinkel der Neurowissenschaft ist unser Gehirn ein System, das auf Mustererkennung optimiert ist. Und Erzähltes, Geschichten sind nichts anderes als eine Reihe von Informationen, die in einem bestimmten Muster angeordnet sind. Muster lassen sich umso besser erkennen, je mehr Vorlagen unser Gehirn hatte, um zu üben. In der Schule gibt es kein Fach zur Mustererkennung, das zweimal die Woche zwischen Deutsch und Mathe unterrichtet wird. Und trotzdem lernen wir auch in der Schule, Muster zu erkennen, wenn auch in den meisten Fällen, ohne dass wir es bewusst merken. Das Erkennen von Mustern in Geschichten geht sogar schon weit vor der Schule los und lange nach der Schule weiter. Jedes Mal, wenn wir eine Geschichte hören, gleicht unser Gehirn dieses Erzählmuster mit den anderen ab, die es bisher gehört hat. Und jedes wiederholte Muster verstärkt die synaptischen Verbindungen in unserem Gehirn. Wo aber begegnen uns nun diese ganzen Erzählmuster, an denen unser Gehirn so fleißig lernt? Ganz einfach: Wir sind ständig umgeben von Erzähltem. Unsere ganze Kultur ist darauf aufgebaut. Als Kinder hören wir von unseren Eltern Geschichten, wenn wir Glück haben, jeden Abend beim Einschlafen. Aber auch schon tagsüber und in Erklärungen: «Du kannst jetzt nicht noch ein Eis essen, sonst kriegst du Bauchweh, und wir müssen ins Krankenhaus.» Selbst wenn diese Geschichten nicht immer ganz wahr sind, weisen auch sie schon die für Geschichten typischen Muster auf: Wenn du dies tust, passiert das und dann wahrscheinlich das.

      Auch Kinder fangen schon sehr bald an, Geschichten zu erzählen: «Weißt du, mein Papa ist im Flugzeug zur Arbeit, und wenn er wiederkommt, krieg ich ein Geschenk.» Selbst wenn diese Form des Erzählten noch sehr simpel erscheint, enthält sie schon das Wesentliche an den in unserem Kulturraum üblichen Erzählmustern. Kinder lernen irgendwann lesen, in der Schule oft mit Geschichten. Selbst wenn sie nicht zu aktiven Leserinnen und Lesern werden, sind sie trotzdem weiter permanent von Erzähltem umgeben: Je nach Elternhaus sehen sie eine unterschiedliche Menge an Filmen und Serien, sie spielen Computerspiele, in denen sie selbst zu Handelnden der Geschichte werden. Sie dürfen oder müssen, je nach Vorerfahrung, bald in der Schule selbst komplette Bücher lesen. Sie erzählen einander vom Wochenende, sie hören, wie andere Kinder von ihren Erlebnissen erzählen.

      Sogar wenn die Kinder die Schule irgendwann verlassen, hören die Geschichten nicht auf. Als Erwachsene sind wir weiter von Geschichten umgeben, selbst wenn wir aufhören, Bücher zu lesen. Die uns immer stärker einhüllende Werbung, sei es auf Plakatwänden oder in Zeitungsanzeigen, sei es im Internet oder als Werbeunterbrechung bei YouTube. Geschichten umgeben uns als Kollegenklatsch auf dem Büroflur, auf der Party, wo jemand Geschichten über sich selbst erzählt. Wir sehen nach den Nachrichten gern den Film zum Wochenende oder suchen gezielt bei Netflix nach Filmen oder unserer Lieblingsserie.

      Auch in der Politik erleben wir immer mehr, dass uns Zusammenhänge in Erzählstrukturen präsentiert werden: Hier sind wir, die Guten. Dann kommt das Böse und will unser Glück, wie auch immer, bedrohen. Aber zum Glück sind wir ja die Guten und gewinnen.

      Wir können den Geschichten nicht entkommen: Selbst wenn wir ein Auto kaufen wollen, wird uns die Verkäuferin nicht nur mit den Zahlen, Daten und Fakten zum Auto langweilen, höchstwahrscheinlich wird sie uns in unserer Vorstellung erleben lassen, was wir alles mit dem Auto tun werden, was wir für tolle Dinge erleben können – wenn wir genau dieses Auto jetzt von ihr kaufen.

      Wir sind also permanent umgeben von Erzähltem. Aufgrund dessen sind wir und unser Gehirn darin trainiert, die Muster in Geschichten zu erkennen. Deshalb sind wir auch alle in der Lage – mal abgesehen von persönlichem Geschmack –, recht treffsicher zu beurteilen, ob ein Buch oder ein Film gut war und ob wir damit zufrieden sind. Wenn wir aus dem Kino kommen und das Gefühl haben, dass uns etwas fehlt, oder verwirrt sind, dann muss es also nicht daran liegen, dass wir den Film nicht begriffen haben – vielleicht hat uns der Film auch nicht alles erzählt, was wir zum Verstehen brauchen.

      WARUM ERZÄHLEN WIR?

      Schon vor Tausenden von Jahren haben sich Menschen Gedanken zum Nutzen von Geschichten gemacht. Horaz prägte im alten Rom ein paar Jahre vor unserer Zeitrechnung in seiner «Ars Poetica», in der er sich mit Theaterstücken der damaligen Zeit auseinandersetzte, das Begriffspaar «prodesse et delectare». Er meinte damit, dass Geschichten sowohl unterhalten als auch nützlich sein, das heißt uns neben der reinen Unterhaltung auch etwas Wichtiges für das Leben mitgeben sollen. Aristoteles, der um 335 vor unserer Zeitrechnung in seinem Werk «Poetik» die damals erfolgreichen Theaterstücke des antiken Griechenlands untersuchte, fand einen Nutzen von Theaterstücken, also auf der Bühne Erzähltem, darin, dass Zuschauer durch das, was sie auf der Bühne miterleben, von negativen Emotionen gereinigt werden (Katharsis). Wenn wir etwas auf der Bühne – oder heute auch im Fernsehen, in Büchern oder im Kino – miterleben, was uns emotional berührt, kann das unsere eigenen Emotionen aktivieren, auflösen und uns von ihnen befreien.

      Erzähltes kann also ganz direkt unsere Stimmung verändern und beeinflussen. Wenn wir das nicht wissen, sind wir manipulierbar. Wenn wir aber wissen, wie Erzähltes funktioniert, sind wir eher in der Lage, die Strukturen zu entdecken und uns zu schützen (beispielsweise bei Werbung).