Ein Blick in die Schule und zwei dahinter. Jörg Ehrnsberger

Ein Blick in die Schule und zwei dahinter - Jörg Ehrnsberger


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zum Lesen kommt

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      Ich bin halt kein guter Leser. Mein Vater liest auch keine Bücher und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, sagt der immer.»

      Karl steht mit Jan vor dem grossen Plakat an der Wand, auf dem die Schülerinnen und Schüler der 3b die Bücher, die sie gelesen haben, eintragen: Für jedes dürfen sie ein kleines Buch aus Papier auf das Plakat kleben.

      Auch Jan sieht, dass sein Lesepartner, mit dem er sich über die gelesenen Bücher austauschen soll, eigentlich nicht sehr viele Bücher aufgeklebt hat. Zwei sind es, um genau zu sein, während Jan schon sechs hat und Cord-Hendrik, der Klassenbeste, über zehn.

      «Ich glaube, wenn du viel liest, dann wird das immer leichter», sagt Jan. «Bei mir war das so beim Fussball. Erst ging das gar nicht, mit dem Dribbeln, ich hab immer den Ball verloren, alle anderen waren immer besser. Aber ich hab trotzdem einfach weitergeübt, und je öfter ich es gemacht habe, umso leichter wurde es. Mein Trainer sagt immer: Wenn man sich anstrengt, wird man besser, egal worin.»

      «Lesen und Fussball ist ja wohl auch ganz was anderes», sagt Karl mit hängenden Schultern.

      Es klingelt und alle Kinder stürzen aus dem Raum, draussen scheint die Sonne und keiner will der Letzte sein, der nach dem langen Schultag ins Freie kommt. Frau Gomez, die Klassenlehrerin, sagt:

      «Karl, wartest du kurz noch?»

      «Ich hab doch gar nichts gemacht!»

      Gomez lacht: «Ich weiss. Ich wollte dich nur kurz was fragen … Unsere Schule macht ja dieses Projekt mit dem Hort, da brauche ich noch wen …»

      «Das mit den kleinen Kindern? Fussballspielen, immer dienstags? Klar, bin ich dabei.»

      «Schon mit kleinen Kindern … aber ich meinte eher das Vorleseprojekt …»

      «Lesen? Ich soll vorlesen? Nie und nimmer», ruft Karl und rennt aus dem Raum.

      Doch am nächsten Freitag ist Karl im Hort: «Ich soll hier was vorlesen», sagt er zu Frau Weick, der Erzieherin. «Das ist toll, dass du hier bist, wir haben jede Woche mehr Kinder, die jemanden suchen, der ihnen vorliest.»

      Vor Karl steht eine Gruppe von Erstklässlern, die alle ein Buch in der Hand halten. Schnell finden sich einige Pärchen von der letzten Woche zusammen. Die Hort-Kinder wissen genau, bis zu welcher Seite sie das letzte Mal gekommen sind, und schnell sind die Pärchen über den Raum verteilt und lesen in ihren Büchern. Karl steht noch da und sieht ratlos zu Frau Weick.

      «Komm, Karl, guck mal, da ist Lukas, der hat noch keinen festen Partner.» Sie wendet sich um: «Lukas, komm mal her, hier ist Karl, der kann dir vorlesen.»

      «Ich wollte doch erst mal nur gucken, ich kann doch gar nicht so gut lesen …», will Karl sagen, aber da steht Lukas vor ihm. Das Buch an seine Brust gepresst, die Arme verschränkt, guckt er ihn von unten an: «Das Buch geht um eine kleine Ente ...» Er schlägt das Buch auf und zeigt ein Bild von einer Ente. «Ich will, dass du mir vorliest, ich will gern wissen, wie das weitergeht.»

      Und ehe Karl es sich versieht, sitzt er mit Lukas auf einem Sofa zwischen den anderen Lesepaaren und hat das Buch in der Hand. Ihm ist heiss, sein Mund ist trocken, er weiss nicht, was er tun soll. Aber Lukas drückt ihm das Buch in die Hand und schlägt es auf der ersten Seite auf: «Guck mal, hier ist die Entenmutter, die sitzt da auf den Eiern, hier sind die kleinen Enten schon da und hier, auf der nächsten Seite, da gehen alle zum Wasser.» Jetzt drückt er das Buch Karl in den Schoss und wieder macht er diese grossen Augen. Karl hält das Buch in der Hand, er schwitzt, hat Angst, die Seiten zu durchfeuchten. Immerhin, die Buchstaben sind gross, es ist viel Abstand zwischen den Zeilen und er erinnert sich, dass er das Buch auch zu Hause hat. Ein Glücksfall, ein Zufall, es könnte also vielleicht tatsächlich klappen. «Er fängt an: Die … die Ente … die Ente lapft, nee, die Ent läuft …» Schweiss rinnt ihm den Rücken runter und er schielt zu Lukas, ganz in der Erwartung, dass er anfängt zu lachen oder einfach aufsteht und geht. Aber nein, Lukas schaut in das Buch und ist er nicht sogar etwas näher gerutscht? «… zum Teich mit … seiner … mit seiner Mama.» Lukas blättert um, strahlt und sagt: «Weiter.» Und Karl liest weiter. Auch das Klingeln unterbricht die beiden nicht, so versunken sind sie in das Buch über die kleine Ente.

      Die Woche danach ist Karl wieder da und er liest Lukas vor, ebenso wie die Woche danach, die beiden finden sich und ohne viele Worte sitzen sie in der Ecke und lesen. Karl hat sich für heute extra ein Buch von seinem älteren Freund geliehen, das deutlich mehr Text als Bilder hat. Einige Zeit später spricht Frau Gomez Karl nach dem Unterricht an: «Sag mal, ich hab gehört, dass du dem Lukas jetzt immer vorliest.»

      «Ja», ist alles, was Karl sagt.

      «Und, wie läuft das?», will sie weiter wissen.

      «Ach, gut.»

      «Und was lest ihr so?»

      «Zuerst haben wir was über eine Ente gelesen oder was Lukas so wollte, aber jetzt lesen wir ein Buch über sechs Kinder, die immer so Abenteuer erleben. Das heisst ‹Die Kinder aus Kullerküh› oder so ähnlich. Das ist ganz spannend.»

      Frau Gomez staunt nicht schlecht. Ein Buch mit wenig Bildern, vielen Seiten, das hätte sie nicht gedacht: «Das ist ja toll. Aber ist das nicht ziemlich lang?»

      «Ach, wir machen das einfach Stück für Stück und wir gucken uns ja auch die Bilder an, wenn wir eine Pause brauchen. Aber ich hab das Gefühl, es geht jedes Mal irgendwie leichter, je öfter wir das machen», sagt er und lächelt.

      «Wenn du willst, kannst du die Bücher auf das Plakat eintragen.»

      Karl hält einen Moment inne: «Och nö, die lese ich ja im Hort. Das zählt ja nicht.» Er zögert einen Moment. «Aber ich lese da gerade zu Hause so ein Buch von Harry Potter, wenn wir das vielleicht dahinschreiben können? Das ist auch so richtig dick.»

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      Cord-Hendrik, der Klassenbeste aus der 3b, hat schon über zehn Bücher für die Leserallye gelesen. Jan hat sechs. Karl nur zwei. «Ich bin kein guter Leser», meint er. Jan dagegen ist überzeugt, dass man das selbst in der Hand hat: «Wenn man sich anstrengt, wird man besser, egal worin.» Karl widerspricht: «Lesen ist nichts für mich und da ändert sich auch nichts dran.»

      Nach Karls «Ich-bin-so»-Überzeugung stammt Erfolg von Dingen, die er – Pech gehabt – leider nicht mitbekommen hat. Karl hat kein Talent fürs Lesen. Sein Vater hat ja auch keines. Nach Jans «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Überzeugung ist Erfolg dagegen eine Frage der Anstrengung.

      Es geht hier gar nicht darum, wer von beiden zu welchem Teil recht hat. Es geht um etwas Spannenderes. Darum, was passiert, wenn man das eine oder das andere glaubt. Wissenschaftler um Carol Dweck von der Stanford Universität untersuchten die Wirkung dieser Überzeugungen. Was passiert, wenn jemand glaubt, dass Erfolg mit Anstrengung zu tun habe? Und was passiert, wenn jemand das nicht glaubt?

      Amerikanische Schüler wurden nach solchen Überzeugungen gefragt. Manche meinten, dass man ein bestimmtes Mass an Intelligenz habe und nichts tun könne, um das zu ändern. Das waren die Karls. Andere meinten, jeder Mensch könne im Laufe seines Lebens schlauer werden. Das waren die Jans. Die Schüler wurden weiter befragt. Dachten sie, je mehr man sich anstrenge, desto besser werde man auch? Oder eher, wenn du in irgendetwas nicht gut bist, hilft es auch nichts, sich anzustrengen? Wie reagierten sie auf schulische Misserfolge? Dachten sie, «ich bin eben nicht gut», und nahmen sie sich vor, beim nächsten Mal einfach zu schummeln? Oder glaubten sie, dass sie sich mehr anstrengen und beim nächsten Mal besser vorbereiten müssten?

      Die Studie begleitete die Schüler durch das siebte und achte Schuljahr und sammelte ihre Mathenoten. Die Jans in dieser


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