Wie Traumata in die nächste Generation wirken. Udo Baer

Wie Traumata in die nächste Generation wirken - Udo Baer


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bei der Beschreibung des Traumaereignisses haben wir das Traumaerleben erwähnt. Die Art und Weise, wie ein Mensch sich und das traumatische Ereignis erlebt, muss mit einbezogen werden, um ein Ereignis als ein Traumaereignis zu identifizieren. Jede traumatische Erfahrung wird als Ohnmachtsgefühl erlebt. Die Betroffenen sind anderen Menschen, dem Krieg, der Gewalt, der Natur usw. ausgeliefert. Dies erschüttert bei vielen Menschen die Gewissheit, wirksam zu sein, und beeinträchtigt damit oft das Selbstwertgefühl. Dies erschüttert auch die Illusion unserer Unverletzlichkeit, der wir Menschen uns im Alltag so gerne hingeben. Bei den meisten traumatischen Erfahrungen werden die Schutzgrenzen, die die Intimität und Persönlichkeit bewahren, durchbrochen, insbesondere bei sexueller Gewalt. Zumeist ist zudem eine traumatische Erfahrung ein Beziehungserleben. Bei Überfällen, sexueller Gewalt etwa sind andere Menschen unmittelbar beteiligt, ebenso bei Kriegserfahrungen, Flucht, Vertreibung usw. Auch bei Verkehrsunfällen und Naturkatastrophen gibt es immer andere Opfer und sind andere Menschen „in der Zeit danach“ Teil der traumatischen Erfahrung, helfen und vermindern oder vergrößern die Not.

      All diese Aspekte führen dazu, dass wir sagen: Ein Trauma ist in erster Linie ein Erlebensprozess und ein Beziehungsprozess.

      Für den erlebenden Menschen hat die phänomenologische Philosophie den Begriff „Leib“ geprägt. Leib stammt aus dem indogermanischen „lib“ und bedeutet „lebendig“. Mit „Leib“ bezeichnen wir den sich und seine Welt erlebenden Menschen. (Deswegen bezeichnen wir auch unseren therapeutischen Ansatz als „Kreative Leibtherapie“ bzw. hier als „Leiborientierte Kreative Traumatherapie“. Doch dazu später.)

      Das Trauma ist also ein leiblicher Prozess. Dieser Erlebensprozess vollzieht sich auch als biologisch-neuronaler Prozess im Gehirn. Im Gehirn ist ein Mechanismus eingebaut, der das Überleben der Menschen in existenziell bedrohlichen Situationen sichern soll. Ein bestimmtes neuronales Teilsystem, die Amygdala, überprüft alle im Gehirn eingehenden Informationen daraufhin, ob sie potenziell bedrohlich sein können. Früher konnte dies das Brüllen eines Säbelzahntigers sein, heute sind es die vielfältigen anderen Elemente der erwähnten Traumaereignisse. Wird eine Information als Anzeichen für eine möglicherweise existenziell bedrohliche Situation eingestuft, tritt ein Notfallprogramm in Gang. Dies betrifft den gesamten Körper vom Denken bis zum Blutdruck. Im vegetativen Nervensystem wird ein Alarm-Stress-Modus aktiviert, um gegen den Säbelzahntiger zu kämpfen oder vor ihm zu fliehen.

      Doch bei den meisten traumatischen Ereignissen gibt es kaum Möglichkeiten, zu kämpfen oder zu fliehen, das traumatische Erleben eint das Merkmal der Ohnmacht und Hilflosigkeit. Deswegen bleiben viele Opfer traumatischer Erfahrungen in der Ohnmacht erstarrt und die Hochspannung und Hocherregung kann sich nicht oder nicht vollständig abbauen.

      Diese Reaktionen und damit ein traumatisches Erleben erleiden Menschen auch dann, wenn sie nicht unmittelbar betroffen, sondern nur mittelbar Zeugen eines Ereignisses sind. Wer bei einer Vergewaltigung, einem Unfall oder einem anderen traumatischen Ereignis zusieht, besonders als Kind, das die Tatsache und seine Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit noch nicht einzuordnen weiß, kann genauso traumatisiert sein wie die unmittelbar Beteiligten.

      Zu dieser biologisch-neuronalen Notfallreaktion gehört auch, dass die Teile des Gehirns, die für die kognitive Verarbeitung und Erinnerung des existenziell bedrohlichen Ereignisses zuständig sind, in einen Sparmodus gehen. Sie werden nicht gebraucht, um unmittelbar gegen den Säbelzahntiger zu kämpfen oder vor ihm zu fliehen, deswegen werden sie als zweitrangig behandelt. Dies führt dazu, dass die kognitiven Erinnerungen an traumatische Ereignisse oft lückenhaft, manchmal sogar gar nicht vorhanden sind, während der leibliche Modus des Erinnerns, das Leibgedächtnis, weiter die Erinnerung an das traumatische Ereignis aufrechterhält. „Ist die Erinnerung an die traumatische Situation verloren oder fragmentiert, so repräsentieren traumatische Reaktionen bzw. Prozesse diese Erfahrung als implizite Erinnerung, auf der Ebene des Körpergedächtnisses.“ (Fischer/Riedesser 2004, S.119)

      Wir ziehen aus der Analyse des Traumas als Erlebensprozess die Konsequenz, dass auch Hilfen bei der Traumabewältigung sich nicht auf rein verbale und kognitive Interventionen beschränken dürfen, sondern leibliche Prozesse, die auch das Leibgedächtnis ansprechen und verändern helfen, beinhalten müssen. Doch dazu ebenfalls später.

      Wird das Erleben eines Traumas unaushaltbar, können Menschen im Interesse ihres psychischen Überlebens dieses Ereignis oder manche Aspekte dieses Erlebens dissoziieren. Eine Dissoziation ist mehr als ein Vergessen, sie ist ein weitgehendes Auslöschen von Erinnerungen und damit verbundenen Erlebensqualitäten, an deren Stelle eine Leere tritt. Doch nicht alles ist „verschwunden“: Die Leerstelle ist spürbar und es gibt häufig Phänomene, die auf das Traumaereignis hinweisen, aber von den Betroffenen mit dem Dissoziierten nicht in Verbindung gebracht werden. Für den Romanhelden Austerlitz in W. G. Sebalds gleichnamigem Roman war der Verlust seiner Eltern und seiner Heimat ein traumatisches Ereignis. Seine Eltern hatten ihn als jüdischen Jungen 1937 im Rahmen eines Hilfsprogramms nach England geschickt, damit er dort vor den Nazis in Sicherheit sei.

      Diese Erfahrung hatte der Junge dissoziiert, doch wie es in jeder Dunkelheit einen kleinen Lichtspalt geben kann, so gab es auch hier Phänomene, die die innere Verbindung zu diesem traumatischen Ereignis aufrecht erhielten. Austerlitz verband den Schrecken seines Heimat- und Elternverlustes unbewusst mit dem Bahnhof, auf dem er in England eintraf. Auch an diesen Schrecken erinnerte er sich nicht mehr, aber er studierte Zeit seines Lebens Bahnhöfe, war fasziniert von deren Architektur usw.

      Zum Traumabegriff gehört auch der Aspekt der Traumabewältigung. Manche Menschen, die einen Unfall erlebt haben, sind davon erschüttert, steigen aber wieder ins Auto und bewältigen allmählich den Schrecken des Ereignisses. Andere können nie wieder mit einem Auto fahren und leiden jahre- oder jahrzehntelang unter den Folgen. Das Gleiche gilt für Lokomotivführer, die mit ihrem Zug einen Menschen überfahren haben. Auch wenn ihr Verstand sagt, dass sie nichts dafür konnten, ja dass die Opfer sterben wollten, so können viele von ihnen nie wieder einen Zug besteigen und schrecken jahrzehntelang nachts mit Bildern dieses Ereignisses aus dem Schlaf auf. Andere können das gleiche Ereignis aus welchen Gründen auch immer in relativ kurzer Zeit verarbeiten und ihrem Beruf weiter nachgehen. Ob ein Traumaereignis zu einem Trauma mit nachhaltigen Folgen wird, hängt also nicht nur davon ab, wie es erlebt wird, sondern auch davon, wie die Bewältigungsmöglichkeiten sind. „Wie die verschiedenen somatischen Systeme des Menschen in ihrer Widerstandskraft überfordert werden können, so kann auch das seelische System durch punktuelle oder dauerhafte Belastungen in seinen Bewältigungsmöglichkeiten überfordert und schließlich traumatisiert/verletzt werden.“ (Fischer/Riedesser 1999, S.19)

      Ein Trauma beinhaltet folglich immer auch die Diskrepanz zwischen dem Erleben eines traumatischen Ereignisses und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten. Wie groß diese Diskrepanz ist, hängt zum einen von der Schwere und der Dauer der existenziellen Bedrohung durch das traumatische Ereignis ab. Bei bestimmten Qualen, wie Folter oder sequenzielle, sich häufig wiederholende sexuelle Gewalt, reichen keine menschlich vorstellbaren Bewältigungsmöglichkeiten aus, um anhaltende Schädigungen zu vermeiden. Die Art und Weise der Traumabewältigung hängt zum anderen auch von der „Zeit danach“ ab, davon, ob Menschen Schutz, Trost und Verständnis finden oder ob sie allein gelassen oder gar beschuldigt werden und im Schweigen erstarren (müssen). Auch das Befinden vor dem traumatischen Ereignis ist wichtig.

      Jemand, dessen Identität geschwächt und brüchig ist, der von Selbstzweifeln angefüllt ist und sich einsam und unbeachtet erlebt, wird wahrscheinlich nach einem traumatischen Ereignis weniger heilungsfördernde Bewältigungsstrategien zur Verfügung haben (können) als ein Mensch, der sich in seiner Identität als gefestigt und in sozialen Beziehungen aufgehoben fühlt.

      Und schließlich gehören zum Traumabegriff auch die Traumafolgen. Einige dieser Folgen haben wir schon erwähnt, vor allem die Erschütterungen von Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl. Wer in seinem Beziehungsvertrauen z. B. durch eine Gewalterfahrung tief verletzt wurde, wird in Zukunft zumeist misstrauischer an neue Beziehungen herangehen als jemand, der diese Erfahrungen nicht gemacht hat. Wenn einem Menschen eine traumatische Erfahrung widerfahren ist, wird das Leibgedächtnis über den beschriebenen neuro-biologischen Alarmprozess besonders geschärft,


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