Einsiedlerkrebs. Patrick Budgen

Einsiedlerkrebs - Patrick Budgen


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      Patrick Budgen:

      Einsiedlerkrebs

      Lektorat:

      Sophie Schagerl

      Alle Rechte vorbehalten

      © 2021 edition a, Wien

      www.edition-a.at

      Cover und Gestaltung: Isabella Starowicz

      ISBN gedruckte Ausgabe 978-3-99001-476-9

      ISBN E-Book 978-3-99001-477-6

      E-Book-Herstellung und Auslieferung:

      Brockhaus Commission, Kornwestheim

      www.brocom.de

      Für Mümi

      Charlie Brown: Eines Tages werden wir alle sterben, Snoopy!

      Snoopy: Stimmt, aber an allen anderen Tagen leben wir.

      MONTAG, 2. NOVEMBER 2020

      DIENSTAG, 3. NOVEMBER 2020

      Wo könnte man einen Allerseelentag passender beginnen als am Friedhof? Noch besser, am zweitgrößten Friedhof Europas. Es ist 5.45 Uhr, als ich im Stockdunkeln vor dem imposanten »Tor 2« des Zentralfriedhofes am Stadtrand von Wien ankomme. Es nieselt, es ist kalt, neblig und irgendwie gruselig. Nachdem die Halloweenparty coronabedingt heuer ausgefallen ist, hole ich sie eben hier nach. Verkleidet habe ich mich allerdings nicht. Es ist eine ziemlich unchristliche Uhrzeit, um einen christlichen Feiertag zu begehen.

      Aber ich habe ein Date. Besser gesagt, gleich mehrere. Mit Falco, Udo Jürgens, Beethoven und insgesamt sieben österreichischen Präsidenten. Zugegeben: Die Konversation bei dieser morgendlichen Zusammenkunft – ohne Kaffee, um diese Uhrzeit hat hier leider noch nichts geöffnet – werde ich allein am Laufen halten müssen. Aber das ist auch mein Job. Gemeinsam mit meinen Kollegen von Kamera und Ton melde ich mich gleich drei Mal live in unsere Frühstücks-TV-Sendung, um passend zum »Gedenktag an Verstorbene« von hier zu berichten. Meine Interviewpartnerin, eine junge Fremdenführerin, erzählt mir dabei viel Wissenswertes über den Friedhof und seine Bewohner. Etwa, dass er zu Beginn Imageprobleme hatte und man deshalb Promis aus anderen Friedhöfen der Stadt aus- und hier wieder eingegraben hat. Der Tod muss tatsächlich ein Wiener sein.

      Mittlerweile ist es neun Uhr vormittags. Meine Reportagen für heute sind beendet, die nächsten für morgen früh müssen organisiert werden. Das Thema liegt auf der Hand: Corona. So wie schon die letzten Monate kommt auch unsere Sendung nicht ohne das Virus und seine Auswirkungen aus. Der Anlass diesmal heißt »Lockdown light« – Gewicht zunehmen wird man in dieser Zeit wohl trotz des an kalorienarme Produkte erinnernden Namen. Weil die Infektionszahlen massiv in die Höhe schießen, hat die Bundesregierung die Gangart wieder verschärft. Geschäfte dürfen zwar offen bleiben, doch es gelten ab morgen Ausgangsbeschränkungen. Das heißt konkret: Zwischen zwanzig Uhr und sechs Uhr früh darf man sein eigenes Zuhause nur verlassen, wenn man wirklich muss, um zur Arbeit oder zum Arzt zu gehen.

      Für meine Freunde und Familie ist das eine echte Belastungsprobe. Schon wieder Lockdown. Schon wieder eingesperrt fühlen. Schon wieder so gut wie niemanden sehen. Ich bin wohl am gelassensten von allen. Denn mich kann so ein verordnetes Zuhausebleiben in diesem Jahr wahrlich nicht schrecken. Monatelang war ich quasi in meiner Wohnung eingesperrt. Ausgang hat es nur für Krankenhausbesuche gegeben. Dazu ständig die Gedanken daran, ob ich jemals wieder gesund werde, gepaart mit der optischen Verwandlung in einen glatzköpfigen Sumoringer – vermutlich dennoch ein leichtgewichtiger. Pah. Was kann mir da ein Lockdown schon anhaben? Und so bereite ich für den kommenden Morgen ein Gespräch mit einem Sprecher des Innenministeriums vor. Wann darf wer hinaus? Wie wird die Polizei das Ganze kontrollieren? Braucht man eine Bestätigung des Arbeitgebers? Alles Fragen, die mich und, so hoffe ich, auch das Publikum interessieren. Am frühen Nachmittag ist mein Arbeitstag vorbei. Das denke ich zu diesem Zeitpunkt zumindest. Tatsächlich wird es der längste meines Lebens gewesen sein.

      Es ist kurz nach zwanzig Uhr, als ich mich gemütlich ins Bett kuschle. Herrlich. Bei diesen Frühdiensten werden Erinnerungen an die Kindheit wach. Während ich mich damals mit Händen und Füßen gewehrt habe, so zeitig schlafen zu gehen, genieße ich es heute umso mehr. Es bleibt mir auch keine Wahl. Wenn der Wecker um 4.15 Uhr läutet und ich halbwegs ausgeschlafen aussehen will, heißt es um spätestens 20.30 Uhr »Gute Nacht« sagen. Wie immer vorm Schlafengehen checke ich am Handy noch die Nachrichtenlage. Auch auf Twitter. Plötzlich, um exakt 20.13 Uhr, poppt auf dem Account eines bekannten heimischen Journalisten folgende Nachricht auf: »Heftige Schießerei am Schwedenplatz. Polizeigroßeinsatz«.

      Okay. Was ist da los? Der Journalist in mir ist auf einmal überhaupt nicht mehr müde. Ganz im Gegenteil. Sofort rufe ich den Chef unserer Nachrichtensendung »Wien heute« an, um ihm von dem Vorfall zu erzählen. Nach einem kurzen Telefonat steht fest: Ich fahre in die Innenstadt, um mir das genauer anzusehen. »Dann kann ich das in der Frühsendung gleich authentisch schildern. Das wird wohl das Thema sein, statt der neuen Lockdown-Regeln«, sage ich ihm, während ich aus dem Bett steige und mir ein weißes Hemd und Jeans anziehe, Socken auch, ein bisschen schwierig mit dem Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Was mich in dieser Nacht erwartet, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nicht einmal ansatzweise. Ich schnappe mir ein paar leere Blätter Papier, einen Kugelschreiber, werfe mir meinen Mantel über und rufe mir ein Taxi. In den Schlagzeilen um 20.30, die gerade im Radio laufen, als der Wagen mich Richtung Tatort bringt, ist noch nichts von einer Schießerei zu hören. In den sozialen Medien, die ich am Handy abrufe, tauchen aber immer mehr Bilder, Videos und Infos auf. Von großräumigen Absperrungen ist die Rede und auch von Menschen, die sich vor Schüssen in Lokale gerettet haben. Als ich diese Zeilen lese, merke ich, wie mein Puls steigt und Blut in meinen Kopf schießt.

      Das klingt plötzlich nicht mehr nach einer Schießerei zwischen verfeindeten Banden, woran ich zuerst dachte, sondern offenbar nach einem Amoklauf oder Ähnlichem. Der Taxifahrer, der erst merkt, dass etwas nicht stimmt, als wir ständig von Einsatzfahrzeugen überholt werden, lässt mich vor einer Polizeiabsperrung neben dem Ringturm aussteigen. »Bringen Sie sich sofort in Sicherheit. Sie können hier nicht bleiben!«, schreit mich ein uniformierter, junger Beamter an, als ich mich nach meinem Kameramann umschaue. Er hatte Rufbereitschaft und sollte hier irgendwo bereits erste Aufnahmen machen. Als der Polizist merkt, dass ich beruflich hier bin, senkt sich seine Aufgeregtheit merklich. Die Anspannung ist ihm aber nach wie vor anzumerken.

      Als ich meinen Kollegen gefunden habe, legen wir sofort los. Doch mehr als Aufnahmen von Absperrbändern, vorbeirasenden Einsatzfahrzeugen und Polizisten in Uniform bekommen wir hier nicht. Mein Handy läutet. Eine Regieassistentin der »Zeit im Bild«, der wichtigsten Nachrichtensendung des Landes, ist dran. »Es läuft gerade eine Sondersendung. Wir möchten zu dir schalten. Bist du bereit?«, fragt sie mich, während bei ihr im Hintergrund laute und aufgeregte Stimmen zu hören sind. Das war wohl eher eine rhetorische Frage. Noch bevor ich sie beantworten konnte, hatte ich auch schon die Stimme von Armin Wolf im Ohr. Der in Österreich bekannteste Nachrichten-Anchorman fasst gerade die wenigen Informationen zusammen, die es zu dem Zeitpunkt gibt, ehe ich schon meinen Namen höre. »Für uns in der Innenstadt ist Patrick Budgen. Was ist Ihr aktueller Wissensstand?«, höre ich durch meine Bluetooth-Kopfhörer, die mit meinem Handy verbunden sind. Zum Glück habe ich kurz davor einen Pressesprecher der Polizei erreicht, der mir erste Ermittlungserkenntnisse bestätigen konnte. Und so konnte ich Armin Wolf und den Zusehern zu Hause von »mehreren bewaffneten Tätern« und »einem Toten« berichten. Außer meinen persönlichen Eindrücken von der bedrückenden und aufgeladenen Stimmung in der Innenstadt war noch nicht viel mehr drin. Trotzdem habe ich gefühlt zwei Minuten lang gesprochen und geschildert, bis die Stimme am anderen Ende der Leitung mit einem »Danke, Patrick Budgen aus der Innenstadt« signalisiert, dass ich nicht mehr auf Sendung bin. Das wäre also geschafft.

      Während ich meine mit ersten Notizen beschmierten Zettel zusammensammle, wird mir die Tragweite dieses Ereignisses langsam bewusst. Es handelt sich offenbar


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