Deine Nase kann nichts dafür. Worseg Artur
einer Krise zur nächsten leben
Es konnte auch sein, dass Birgit Schwarz ein anderes Phänomen zu mir geführt hatte. Das Phänomen, dass eine Veränderung oft weitere Veränderungen bedingt. Es gibt eine Art Domino-Effekt: Wenn das Leben sich ändert, möchte unser Ich nicht so bleiben, wie es war. Manche kaufen sich dann neue Kleider. Manche lassen ihr Gesicht oder ihren Busen operieren.
Doch Veränderungen führen nie zu Dauerzuständen. Das Leben ist im Prinzip eine Serie von Veränderungen. Wer sich aus den falschen Gründen zwischendurch unter das Messer legt, muss sich später die Frage stellen, was aus dem erzielten Ergebnis bei der nächsten Veränderung wird. Passt es dann auch noch zum Leben? Und was, wenn nicht?
Schon ganz junge Menschen haben Probleme mit Veränderungen. Dann nämlich, wenn sich ihr Äußeres von dem eines Kindes oder Jugendlichen zu dem eines Erwachsenen verändert. Schlecht wahrnehmbare Nasenlöcher können sich dann wie eine bedrohliche Entstellung anfühlen. Dieser Eindruck ist wahrscheinlich später auf einmal weg. Vergessen, eingebildet, nie dagewesen. Aber was, wenn so ein Jugendlicher Eltern hat, die ihm in dieser Phase eine Operation bezahlen? Weil es der einfachste Weg zu sein scheint, das Problem prompt zu lösen?
Manche Erwachsene lachen vielleicht über solche juvenilen Probleme. Bis sie graue Haare bekommen. Vor allem Männer versetzt das erste Anzeichen dafür, dass sie vielleicht doch nicht unsterblich sind, in Panik. Und auf einmal sind die grauen Haare weiß. Irgendwann ist für reife Menschen beides selbstverständlich, aber es ist natürlich, wenn dazwischen Panik liegt, die es eben zu überwinden gilt.
Soziale Veränderungen kommen ebenso verlässlich wie die körperlichen immer wieder, und es ist nun einmal so, dass nicht alle davon positiv sind. Wenn sich ein Mensch zwischendurch zum Beispiel abgelehnt, weggelegt und überflüssig fühlt, kann das auch dazu führen, dass er sich nicht mehr schön findet.
Wenn zum Beispiel der Job weg ist oder die Kinder aus dem Haus sind, fühlen wir uns zumindest vorübergehend nicht mehr gebraucht. Auf einmal besteht das Alter nicht mehr nur aus zwei Ziffern, die die Anzahl der Lebensjahre angeben. Es wird zu einem Maß, das auch unser Aussehen qualifiziert. Je höher die Zahl ist, desto unattraktiver fühlen wir uns.
Eine Schönheitsoperation in so einer Phase ist schon deshalb das falsche Mittel, weil die Zeit, unter der wir so sehr zu leiden meinen, in Wirklichkeit ein hervorragender Therapeut ist.
Es gibt eine Art von Unzufriedenheit mit unserem Äußeren, die sich durch ein einfaches Mittel beseitigen lässt. Durch Geduld.
Zeit hilft uns, jedes Tief zu überwinden, einfach, indem sie vergeht. Alltag und Normalität knabbern an der Krise, bis sie zerbröselt und mit ihr alle Nebenerscheinungen. Die Schönheitsoperation, die vorher der einzige Ausweg zu sein schien, ist plötzlich kein Thema mehr.
Dumm nur, wenn wir aus so einem Tief mit einem operierten Gesicht auftauchen, das uns bei jedem Blick in den Spiegel an die Krise erinnert.
»Ich denke, wir sollten noch warten«, sagte ich zu Birgit Schwarz.
Sie hob die Augenbrauen. »Warum?«
Ein stabiler, gesunder und vernünftiger Mensch wie sie, dachte ich, würde die schwierige Phase, in der sie sich gerade befand, gut überstehen. Womöglich würde sie sogar gestärkt aus ihr hervorgehen. Deshalb hielt ich das Warten für den richtigen Vorschlag.
»Es ist nie gut, eine Schönheitsoperation in einer turbulenten Lebensphase durchzuführen«, sagte ich.
Die bereits erwähnte Fünf-Jahres-Studie über die Langzeitverbesserung nach kosmetischen Eingriffen gibt auch hier zu denken. Sie zeigt einerseits, dass sich Selbstwertgefühl und Zufriedenheit mit dem eigenen Äußeren bessern, wenn die Indikation und der Zeitpunkt der Operation stimmen, dazu aber später mehr. Psychische Auffälligkeiten wie Depressionen nach einer Operation treten dann nur kurzfristig auf. Beides deckt sich mit meinen Erfahrungen.
Andererseits reagiert das Selbstwertgefühl, ein Hauptargument für eine Schönheitsoperation, langfristig gesehen nur träge bis gar nicht auf optische Veränderungen. Auch wenn Patienten mit ihrem neuen Äußeren zufrieden waren, steigt ihre Selbstachtung deshalb nicht nachhaltig. Ebenso wenig tritt die erhoffte grundlegende Veränderung der Lebensqualität ein, und auch depressive Symptome, die sie vor der Operation hatten, verschwinden eher nur kurzfristig.
Was zusammengefasst bedeutet, dass Operationen aus den richtigen Gründen, in der richtigen Situation und mit der richtigen Erwartungshaltung Sinn machen können. Doch in allen anderen Fällen ist Vorsicht geboten.
Für Birgit Schwarz schien mir eine weitere Erkenntnis der gleichen Studie noch wichtiger zu sein. Je länger sich Patienten mit ihrer Entscheidung für die Operation Zeit ließen, desto größer war die Zufriedenheitsrate danach. Wer sich dagegen spontan dazu entschloss oder dabei von anderen beeinflusst wurde, musste damit rechnen, dass er langfristig eher unzufrieden mit der Operation sein würde.
Nachdem ich ihr diese Dinge kurz dargelegt hatte, nickte Birgit Schwarz. »Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte sie.
Viele Patienten sind durchaus realitätsbezogen, was ihren Wunsch nach einem neuen Äußeren betrifft. Sie lassen sich von ihren Emotionen treiben und landen bei mir. Aber sie ahnen selbst, dass es tieferliegende Gründe für ihre Veränderungswünsche geben könnte, die sie sich ansehen sollten.
Ich passe meine Argumentation an meinen Eindruck an, den ich von dem Menschen, der vor mir sitzt, habe. Rundheraus lehne ich eine Operation nie ab. Sagen wir, fast nie. Die große rote Stopptafel taucht für mich immer dort auf, wo Patienten klar und eindeutig wollen, dass ich sie glücklich mache. »Da sollten Sie sich etwas anderes überlegen«, sage ich dann.
Was immer noch nicht heißt, dass ich am Ende nicht doch operiere. Würde ich alle Patientinnen wegschicken, die nicht nur wegen eines schöneren Busens, sondern auch auf der Suche nach Glück zu mir kommen, müsste ich meine Klinik schließen. Ganz abgesehen davon, dass ich sie mit einem Nein, wie gesagt, nicht von ihrem Vorhaben abhalten könnte. Auch in meiner Branche gibt es immer einen oder eine, der oder die weniger Skrupel hat und zum Skalpell greift, ohne lange zu fragen.
Bei Birgit Schwarz war ich mir allerdings sicher, dass sie, sollte sie sich doch noch für eine Operation entscheiden, zu mir zurückkommen würde. Sie stand auf, warf noch einen Blick auf den nüchternen Besprechungstisch und die wenigen Bilder an den Wänden, dann gaben wir uns die Hand und verabschiedeten uns.
Operation vergessen, Patient glücklich
Ich sah Birgit Schwarz nur einmal wieder. Durch Zufall, an einer Tankstelle an der Donau. Sie fuhr ein Cabrio und trug eine dazu passende weite Bluse, die keine Konturen erkennen ließ. Doch ich vermutete keine Sekunde lang, dass sie sich wider Erwarten doch noch anderswo operieren hatte lassen. Sie war guter Dinge und wirkte nicht verlegen, als sie mich sah, im Gegenteil. Sie schien sogar erfreut zu sein. Sie kam auf mich zu, und wir plauderten kurz, aber offen.
Sie war inzwischen in einer glücklichen Beziehung. Der Ex-Partner ihrer ehemaligen besten Freundin war Geschichte. Den neuen Mann musste sie kurz nach ihrem Besuch in meiner Klinik kennengelernt haben. Sie redete über ihn, als wären die beiden einander schon recht vertraut. Eine Schönheitsoperation war für sie jetzt wirklich kein Thema mehr. »Das war damals eine wirre Zeit«, sagte sie nur, und klang nun doch ein wenig verlegen. Es schien ihr peinlich zu sein, mich da irgendwie mit hineingezogen zu haben. Dann lächelte sie, gab mir die Hand, setzte sich ins Auto und rauschte ab.
Raphaëls und Aurelies Familiennase
Warum zwei Geschwister ihre Nasen nicht mochten und wieso ihr Vater daran schuld war.
Ich hätte den Notizzettel meiner Empfangsdamen nicht gebraucht, um den französischen Namen wiederzuerkennen. Mademoiselle Boulanger. Auf Deutsch wäre sie eine »Frau Bäcker« gewesen. Diesmal saß nicht Raphaël Boulanger vor mir, sondern seine um zwei Jahre jüngere Schwester Aurelie. Der Grund, warum sie zu mir kam, war aber derselbe.