Trauma und interkulturelle Gestalttherapie. Colette Jansen Estermann

Trauma und interkulturelle Gestalttherapie - Colette Jansen Estermann


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die schlussendlich über ein Projekt oder einen Kredit entscheiden, woran sie ganz bestimmte Bedingungen knüpfen. Obwohl man in der Theorie keinen Paternalismus oder Erpressung betreiben möchte, stößt man in der Praxis immer wieder auf solche Dynamiken. Schließlich wollen die ausländischen Mächte nicht nur ›gut‹ sein, sondern vertreten auch ihre eigenen Interessen und setzen diese durch. Dabei sitzen die Bolivianer am kürzeren Hebel: Sie müssen nehmen, was sie bekommen können und noch dazu »Danke« sagen.

      In der bolivianischen Gesellschaft existiert eine starke Tendenz, die jeweilige Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder sozialen Gemeinschaft deutlich hervorzuheben und sich somit von den übrigen Gemeinschaften abzugrenzen. Im gleichen Sinne wird an jeder Schule und Universität das Gemeinschafts- und Identitätsgefühl der Studenten geweckt, z. B. mittels eigener Tanzgruppen, die an öffentlichen Anlässen teilnehmen, oder bestimmter Feindbilder in Bezug auf die anderen. Dieses segmentierte Gesellschaftssystem schafft zwar eine gewisse Ordnung im Chaos und somit eine gewisse Sicherheit, leistet aber auch den Vorurteilen und einem latenten Rassismus Vorschub. Diese Segmentierung scheint als Introjektion innerlich verankert zu sein. Wenn man z. B. arm ist, so meint man, lebenslang arm zu bleiben und bleiben zu müssen.

      In Europa bekommt das Thema der Interkulturalität neuerdings große Aufmerksamkeit, was wahrscheinlich auf die Reisefreudigkeit und Migration unserer globalisierten Welt zurückzuführen ist. Hoffentlich ist sie jedoch mehr als eine Modeerscheinung. Vergleichsweise redet man in Bolivien, vor allem seit der Errichtung des ›plurinationalen‹ Staates, von dem Reichtum der Mannigfaltigkeit (la riqueza de la diversidad). Da es zahllose unterschiedliche Kulturen gibt, die ich nicht hierarchisch als mächtiger oder wichtiger aufgliedern möchte, ziehe ich den Begriff der ›Inter-Kulturalität‹ vor. Das bedeutet konkret, dass ich mich ›zwischen den Kulturen‹ sehe. Ich identifiziere mich mit meiner holländischen Herkunft, die in der westeuropäischen Kultur verwurzelt ist, und trete in einen respektvollen Dialog mit der lateinamerikanischen – insbesondere der bolivianischen, und noch genauer der andinen13 – Kultur. Wenn wir uns ernsthaft auf diesen horizontalen Dialog einlassen, beeinflussen wir uns gegenseitig und sind nach der Begegnung nicht mehr diejenigen, die wir vorher waren.

      Das Führen eines solchen Dialoges ist aber keineswegs problemlos, erzeugt vielfach Missverständnisse, Frustrationen, Irritationen und Ohnmacht. Denn manchmal gelingt es trotz größter Anstrengung nicht, den interkulturellen Graben der Andersartigkeit zu überbrücken. Mir erscheint es wie ein Ausdruck der Arroganz zu meinen, nach einem Aufenthalt von sechs Monaten in dem Land kenne man seine Kultur und verstehe die Menschen. Vor allem in den Supervisionsstunden mit kürzlich eingereisten Fachpersonen aus Europa, die intensiv auf ihre Zeit in Bolivien vorbereitet wurden, sind die Anpassungsschwierigkeiten, die keineswegs unterschätzt werden dürfen, ein Thema. Es kommt mir oft vor, als hätten sie in den Vorbereitungskursen zwar von der Andersartigkeit ›gehört‹, sie aber trotzdem nicht ›verstanden‹, weil ihnen noch die Erfahrung gefehlt hat. Anscheinend muss Interkulturalität erlebt werden, um verstehen zu können, was ich meine. Es braucht ein großes Maß an Flexibilität und Vertrauen, um die verunsichernde Anfangszeit in einem fremden Land auszuhalten. Im Grunde genommen begegnet man in dieser schwierigen Etappe nicht nur den Anderen, sondern auch sich selbst. Anschließend braucht es viele Jahre, um einige Sachen verstehen zu lernen und in anderen Sachen fremd zu bleiben.

      Viele interkulturelle Aktivitäten finden allerdings noch immer unter dem Diktat europäischer oder nordamerikanischer Vorstellungen statt, wobei es vorrangig um deren Interessen oder Kriterien geht. Deren weltweite Vorherrschaft ist nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf wissenschaftlichem Gebiet bestimmend, obwohl China diese Machtverhältnisse allmählich ins Wanken bringt. Aufjeden Fall spielt ein sogenanntes Dritte-Welt-Land wie Bolivien keine ernst zu nehmende Rolle auf dem Marktplatz Welt. Bei dem Unterfangen, in Bolivien eine Dissertation zu schreiben, wobei ich selbstverständlich den geltenden wissenschaftlichen Normen genügen sollte, bin ich auf einen rigiden Europa- oder USA-Zentrismus gestoßen. Die Realisierung des Forschungsprojektes wurde von mehreren strukturellen Schwierigkeiten erschwert, die nicht beseitigt werden konnten, aber unentwegt im Auge behalten werden mussten.

      So stellt ein Fachbuch oder eine Zeitschrift einen Luxus dar, den sich kaum jemand in La Paz oder El Alto leisten kann. Folglich gibt es in beiden Millionenstädten keine einzige Buchhandlung, die sich auf Fachliteratur spezialisiert hat. Nur zwei Personen der zehnköpfigen Forschungsequipe haben zu Hause einen Computer, aber niemand hat einen privaten Internetanschluss: sie gehen ab und zu in ein Internetcafé. Da sie eine staatliche Schule besucht haben, sind ihre Englischkenntnisse rudimentär, irgendwelche Deutschkenntnisse gar nicht vorhanden, sodass sie sowieso keinen ausländischen Wissenschaftsbericht lesen können. Während die Equipemitglieder die Studenten nach ihren traumatischen Erfahrungen fragten, waren sie selbst auch in einem bestimmten Maß sowohl direkt als indirekt14 von den potenziell traumatisierenden Ereignissen betroffen. Hinzu kam der Mangel an Sicherheit auf allen Ebenen, der eine genaue und detaillierte Planung unmöglich machte, während der Anspruch auf Effizienz und Zeitmanagement bloß heftige Gefühle der Frustration ausgelöst hätte. In der Zeitspanne von 2007 bis 2009 gab es wegen der soziokulturellen und politischen Umwälzungen große Unruhen unter der Bevölkerung und zahllose Konflikte im Land, wobei mehrere zu Tode fielen.

      Zudem möchte ich darauf hinweisen, dass eine wissenschaftliche Arbeit nach dem aristotelischen Prinzip des ›Entweder-Oder‹ im andinen Raum ein Fremdkörper ist. Sie birgt die Gefahr in sich, gewisse Schlüsse am Lebensverständnis der Einheimischen vorbei zu ziehen. Denn die Menschen in La Paz und El Alto leben nach dem Empfinden des ›Sowohl-als-auch‹. Sie sagen selten gerade heraus ›Nein‹, denn dies wäre ein Affront. Sie möchten niemanden vor den Kopf stoßen, schließlich könnte es immer noch anders kommen. Diese Möglichkeit, man könnte irgendwann in der Zukunft aus irgendwelchen Gründen doch noch zustimmen, wird ständig offen gehalten. Dieses Lebensgefühl des ›Sowohl-als-auch‹ schlägt sich auch auf der psychologischen Ebene nieder, indem man dazu neigt, die Grenzen zwischen mir und den Anderen, zwischen Wirklichkeit und Wunschdenken, zwischen Vergangenheit und Aktualität zu verwischen. Die Grenzen des Selbst oder der Realität sind keineswegs fest und klar, sondern äußerst flexibel und durchlässig.

      »Zusammenfassend können wir festhalten, dass der bevorzugte Zugang des andinen Menschen zur ›Wirklichkeit‹ nicht der Intellekt ist. Vielmehr sind es eine Reihe von nicht-rationalen (die deshalb nicht etwa ›irrational‹ sind) Fähigkeiten, von den klassischen fünf Sinnen, von Gefühlen und Emotionen bis hin zu ›parapsychologischen‹ gnoseologischen Sinnen (Ahnung, psychosomatische Phänomene, ›telepathische Kommunikation‹). Das ›logische‹ Argument, dass eine Apfelsinen-Verkäuferin einen größeren Gewinn erlangen könnte, wenn sie gleich alles, was sie hat, verkaufen würde, entspricht nicht der ›Logik des Herzens‹, die besagt, dass man für alle Fälle immer etwas zurückbehalten soll.« (Estermann 1999: 116)

      Eine interkulturelle Psychotherapie, welche sich der kulturellen Andersartigkeit vom Gegenüber verpflichtet fühlt und Recht tun will, steckt wahrscheinlich noch in den Kinderschuhen. Diesbezüglich ist die Tatsache, dass das allgemein angewandte Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders15 (DSM) sein Leserpublikum nicht einmal auf die Möglichkeit, geschweige denn Notwendigkeit einer soziokulturellen Kontextualisierung und Relativierung hinweist, vielsagend. Und auch der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD)16 fehlt es, trotz ihres Anspruchs auf weltweite Anwendbarkeit, an einer nuancierten interkulturellen Betrachtungsweise. Im Kreis angesehener Psychotherapeuten bemüht man sich anscheinend nach wie vor, die psychischen Störungen und diagnostischen Kriterien zu verallgemeinern, obwohl dieser Anspruch auf Universalität nicht ohne Weiteres geltend gemacht werden kann. Die Psyche des Menschen mag zwar weltweit den gleichen Gesetzen und derselben Dynamik unterliegen, die prägende Wirkung der jeweiligen Geschichte und Umgebung auf die Psyche führt aber zu beachtlichen Unterschieden. Leider wird der interkulturelle Ansatz auch in der Psychologie-Forschung nur selten als Bereicherung gesehen und dementsprechend verfolgt.

      Allerdings gibt die Gestalt-Psychotherapie zu verstehen, prinzipiell offen für den interkulturellen Ansatz zu sein. Schließlich bietet ihre Grundhaltung eine dialogische, humanistische, kreative


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