Das Gesetz des Ausgleichs. Johannes Huber

Das Gesetz des Ausgleichs - Johannes Huber


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Tat nachgewiesen werden kann. Gestehen beide, erhalten beide wegen ihres Geständnisses eine hohe Strafe, aber nicht die Höchststrafe. Gesteht jedoch nur einer der beiden Gefangenen, geht dieser als Kronzeuge straffrei aus, während der andere als überführter, aber nicht geständiger Täter die Höchststrafe bekommt.

      Das Dilemma besteht nun darin, dass sich jeder Gefangene entscheiden muss, entweder zu leugnen, also mit dem anderen Gefangenen zu kooperieren, oder zu gestehen, also den anderen zu verraten, ohne die Entscheidung des anderen zu kennen. Das letztlich verhängte Strafmaß richtet sich allerdings danach, wie die beiden Gefangenen zusammengenommen ausgesagt haben und hängt damit nicht nur von der eigenen Entscheidung, sondern auch von der Entscheidung des anderen Gefangenen ab.

      Die auf Dauer für alle Beteiligten erfolgversprechendste Strategie ist die Kooperation. In Experimenten waren viele Mitspieler dazu auch bereit. In einem mit vierzig Mitspielern, die jeweils zwanzig Spiele paarweise absolvierten, betrug die Kooperationsrate im Durchschnitt allerdings doch nur relativ bescheidene 22 Prozent.

      Schon Aristoteles hielt allerdings in der Nikomachischen Ethik fest: »Die beste Art Freundschaft erfordert ein Verhältnis unter Gleichrangigen, das ein wechselseitiges Geben und Nehmen ermögliche.«

      Kooperation heißt demnach immer, dass wir einen Preis zahlen, um einem anderen einen Nutzen zu verschaffen. Auf diese Art erkaufen wir uns selbst Nutzen sowie Reputation. Reputation spielt dabei eine bedeutendere Rolle, als wir zunächst glauben würden.

      Wir opfern zum Beispiel wertvolle Zeit, um einem Fremden zu helfen und nehmen dafür in Kauf, zu einem wichtigen Termin zu spät zu kommen. Wir bauen so aber auf lange Sicht eine Reputation auf, die mehr wert ist, als sie an Zeit gekostet hat.

      Denn niemand verweigert gerne einer Person mit hoher Reputation Hilfe, das schadet der eigenen Reputation ganz besonders. Bei egoistischen Personen mit geringem Ansehen ist das etwas anderes. Ihre Bitte um Hilfe können wir viel eher unbeschadet ignorieren.

      Das gilt übrigens nicht nur für jeden einzelnen Menschen, sondern auch für Gruppen und für Gruppen von Gruppen bis hin zu Staaten. Wenn Griechenland Hilfe braucht, ist die Staatengemeinschaft zur Stelle. Wenn ein Schurkenstaat Hilfe braucht, wendet sie sich ab und denkt, dass die jeweilige Regierung besser die Lehren aus der Not ziehen sollte.

      Interessant ist hier übrigens auch der medizinische Zusammenhang von Kooperation und Kapital. Wenn wir uns mit etwas eine gute Reputation verschaffen, werden im Belohnungszentrum des Gehirns dieselben Schaltungen aktiv wie beim Geldverdienen. Reden ist Silber, Schenken ist Gold.

      Faule Kompromisse

      Hinter Kompromissen können sich also immer auch egoistische Abwägungen verbergen, was immer noch besser ist als Krieg. Allerdings gibt es auch faule Kompromisse, etwa zwischen Ethik und Pragmatik, zu denen es immer dann kommt, wenn der Zweck die Mittel heiligen soll. Kann der Zweck die Mittel überhaupt heiligen, und wenn ja, inwieweit heiligt er sie?

      Im Zuge der Corona-Krise etwa tauchte die Frage auf, ob individuelle Freiheitsrechte aus Gründen der Staatsräson beschnitten werden dürfen. Heiligt der Zweck wirklich die Mittel oder bekommen wir irgendwann auf jeden Fall die Rechnung dafür präsentiert, in Form einer Erosion unserer Zivilgesellschaft?

      Ein Beispiel aus der Vergangenheit ist die Exekution Osama bin Ladens. Die emotional verständliche, aber rechtsstaatlich fragliche Ermordung eines Terrorchefs, die per Video ins Oval Office von Barack Obama übertragen wurde, ist zumindest diskussionswürdig.

      Natürlich hat bin Laden die freiheitliche Seele der Welt verletzt. Amerika drängte darauf, die Mordopfer von 9/11 zu rächen. Aber ein Todesurteil, und das ist der Punkt, kann nicht das Weiße Haus verhängen und, außerhalb von Kriegszeiten, auch nicht das Militär. Natürlich wäre seine Übergabe an ein Gericht der korrekte Weg gewesen. Inwieweit machen sich sogenannte zivilisierte Staaten mit so einem Vorgehen selbst zu Schurkenstaaten, zumindest schleichend? Interessanterweise waren die, die dabei am meisten applaudiert haben, die amerikanischen Medien selbst. Gut so, meinten sie. Yes we can.

      Ein anderes Beispiel. Der Dichter Hans Magnus Enzensberger nahm 2013 gemeinsam mit dem deutschen Journalisten Frank Schirrmacher an einer Diskussion teil. Dabei ging es auch um die Frage, ob Staaten Terroristen überwachen dürfe. »In jeder Verfassung der Welt steht das Recht auf Privatsphäre«, sagte er dazu. »Dieses Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung wird abgeschafft. Das heißt, wir befinden uns nicht mehr in einem demokratischen Zeitalter.«

      Für Enzensberger heiligt also auch der Schutz der Rechtsstaatlichkeit nicht jedes Mittel. So drängt sich auch nach der Veröffentlichung des sogenannten Ibiza-Videos, an dem 2019 die österreichische Bundesregierung zerbrach, die Frage auf, ob hier der Zweck tatsächlich die Mittel geheiligt hatte. Ob es tatsächlich Ziele gibt, die so bedeutend sind, dass sie die Verletzung des Datenschutzes beziehungsweise der Privatsphäre rechtfertigen. Im Falle von Politikern scheint das Medienrecht das zu bejahen.

      Wobei es hier im medienrechtlichen Detail nicht darum geht, dass dieses Video veröffentlicht wurde, sondern wie. Jene Passagen, die Empörung auszulösen in der Lage waren, standen mit Bild und Text im Vordergrund, jene Passagen, in denen die Inkriminierten, vor allem der ehemalige österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache, betonten, dass sie nichts tun würden, dass gegen die Gesetze sei oder Österreich schaden würde, standen im Kleingedruckten. Die unter medialem Applaus gefeierte Gewichtung Enzensbergers und Schirrmachers der Privatsphäre fanden dabei jedenfalls keine Berücksichtigung.

      Heiligt der Zweck die Mittel? Bertolt Brecht, ein einflussreicher deutscher Dramatiker, beschäftigte sich ebenfalls mit dieser Frage. 1930 wurde sein Stück Die Maßnahme uraufgeführt. Darin findet sich der Schlüsselsatz: »Wer eine bessere Welt will, muss töten können.« Und zwar mit gutem Gewissen und auch ohne Gerichte.

      Die Frage, wie weit die Revolution moralische und rechtliche Grundsätze verletzen darf, um Ausbeutung und Unterdrückung wirksam zu bekämpfen, die Brecht damit aufwarf, war eigentlich an die marxistische, menschenverachtende Terrorherrschaft Lenins und Stalins gestellt. Heute ließe sich der Schlüsselsatz aus Die Maßnahme so formulieren: Wer die Welt von politisch Andersdenkenden befreien möchte, dem sind keine ethischen Grenzen gesetzt, auch nicht in den sozialen Medien und beim Dirty Campaigning.

      Heiligt der Zweck die Mittel?

      Auch Thomas Mann befasste sich in seinem großen Bildungsroman Zauberberg damit. Anhand der düsteren Figur des Fanatikers Leo Naphta zeichnet er eine Gestalt, die bemüht war, allen Unmenschlichkeiten eine dogmatische Grundlage zu geben. Er schuf damit eine »zweite Ethik«, die den Terror rechtfertigt, wenn damit das Ziel erreicht wird.

      Auch heute scheint es eine Tendenz zu geben, die eigene politische Meinung über demokratische Grundlagen zu stellen und so den Zweck die Mittel heiligen zu lassen. So verbot die linke Stadtregierung in Berlin, wo Demonstrationen zum Stadtbild gehören, Corona-Großdemonstrationen und vermischte dabei virologische und weltanschauliche Bedenken. Die Argumente des SPD-Senators Andreas Geisels waren fragwürdig. »Sie wecken Zweifel an der Verfassungstreue des rot-rot-grünen Berliner Senats. Und sie nähren den Verdacht, der Kampf gegen die Pandemie werde missbraucht, um missliebige Meinungen zum Schweigen zu bringen«, hieß es dazu in einem Kommentar der Neuen Zürcher Zeitung.24

      Das alles sind Hinweise darauf, dass wir uns auch als Gesellschaft nie selbstgefällig unseres Gutseins sicher sein dürfen. Auch wir haben den Charakter-Fitness-Parcours dringend nötig. Wenn wir müde werden, ihn zu benützen, erodiert die Zivilgesellschaft tatsächlich.

      Charakterfitness-Trainingsstufe vier:

      Halte die andere Wange hin

      Die Königsdisziplin ist das Nachgeben. Auf den ersten Blick sieht es immer so aus, als wären wir damit die Verlierer. Doch eine nähere Betrachtung zeigt, dass das Nachgeben die höchste Form des Kompromisses und damit mindestens ebenso erfolgsversprechend ist. Und würden wir alle, bildlich gesprochen, die zweite Wange hinhalten, statt zurückzuschlagen, würde sich das Gute auf der Welt mit exponentieller Geschwindigkeit ausbreiten.


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