Lernen ist meine Sache (E-Book). Dagmar Bach
sie sind bei mir im Unterricht willkommen, kein Problem.
jm:Konkretes Beispiel: Ich hatte in Klassen immer wieder Diskussionen über das sogenannte Stören. In diesen Gesprächen ist, mindestens teilweise, herausgekommen, dass nicht in erster Linie die Schülerinnen oder Schüler die «störenden» sind, die, gemessen an den Noten, Schwierigkeiten haben, sondern andere. Jene nämlich, die, nach eigener Aussage, nicht in die Schule kommen, um zu lernen, sondern wegen der sozialen Kontakte, lernen sie besser zu Hause. Und das stimmte teilweise auch. Ich konnte solchen Schülerinnen und Schülern, in Absprache mit dem Rektor, einen Vertrag anbieten, der es ihnen ermöglichte, nur zur Schule zu kommen, wenn es aus ihrer Sicht nötig war beziehungsweise wenn es Prüfungen gab, die sie ablegen mussten. Sie mussten sich ihr Wissen und ihre Kompetenzen selber organisieren, damit sie die obligatorischen Elemente absolvieren konnten. Leider machten nur sehr wenige Schülerinnen oder Schüler von diesem Angebot Gebrauch, vermutlich, weil sie Angst hatten, ihr Lehrbetrieb würde den Vertrag nicht – wie von der Schule verlangt – mitunterschreiben.
Georges Kübler Trotzdem lässt die Schule Lernen zu
Adna, Blerim, Claudio, Daniel und Eldin
Die folgenden Geschichten von fünf jungen Menschen handeln von beruflicher Bildung. Nur die Namen stimmen nicht mit der Wirklichkeit überein.
Der Notenspiegel von Adna F. während dreier Jahre Berufsfachschule drückte vor allem eines aus: Diese Schülerin mit Semesterzeugnisnoten zwischen 5,0 und 5,5, ausnahmsweise mal einer 4,5, hatte keine schulischen Probleme. Sie zeigte Engagement, und der betriebene Aufwand hielt sich ganz offensichtlich in Grenzen. Meine Instant-Charakterisierung von Adna, eine schlechte Lehrerangewohnheit, hätte wohl Zuschreibungen beinhaltet wie: «eher bequem», «nur mässig am Unterricht interessiert», «oft abgelenkt», «hilfsbereit». Ich behielt es für mich, da Adna nie Anlass gab, mich mit andern über sie auszutauschen, mir Gedanken zu machen bezüglich Leistungen, Verhalten oder sonst was. Mit der Abgabe der Abschlussarbeit, einer eindrücklichen Autobiografie, wurde dann vieles klar, was im Laufe der Ausbildungszeit hätte auffallen können, jedoch immer unter dem Radar durchging. Adna hatte oft und phasenweise recht intensiv an familiären Problemen zu kauen, hatte sich mit ihrem geliebten älteren Bruder abgemüht, der in die Spirale Drogen – Kleinkriminalität – Suizidalität geriet. Selber verstolperte sie sich immer mal wieder im selben Milieu, hatte Abstürze, kämpfte mit und gegen Bruder, Eltern und falsche Kollegen.
Blerim K. installierte bei uns das Wasser und die Heizung im ausgebauten Dachstock. Den ungefähr 25-jährigen Sanitärinstallateur engagierte ich auf Empfehlung von Nachbarn und habe es nicht bereut. In kurzen Arbeitspausen erfuhr ich das eine oder andere vom jungen türkischen Familienvater. Mit 19, gleich nach erfolgreichem Lehrabschluss, habe er sich selbstständig gemacht. Seither führt er eine kleine Firma mit einem Festangestellten, hat bei guter Auftragslage ein paar Temporäre zur Hand und bietet einen 24-Stunden-Pikettservice an. In der Berufsfachschule habe er ein paar wichtige Dinge gelernt, die ihm beim Schritt in die Selbstständigkeit gedient hätten. Den Berufsschüler Blerim habe ich nicht gekannt, obwohl ich zur selben Zeit knapp hundert Meter entfernt an einer anderen Berufsfachschule tätig war. Ich stelle ihn mir aber als interessierten, eher selbstsicheren jungen Mann vor, vielleicht mit etwas Mühe im Fach Sprache und Kommunikation – das könnte aber auch völlig falsch sein.
Claudio N. war – ich muss es gestehen – kein Lieblingsschüler von mir. Er hatte auf allen Kommunikationskanälen kundgetan, dass ihn das, was hier ablief, nicht interessiere. Es fand sich auch kein richtiger Anknüpfungspunkt, wo etwas wie Motivation oder Antrieb aufblitzen konnte. Entsprechend waren die Leistungen im Fach- wie im allgemeinbildenden Unterricht. Die prekäre Notenlage, aber auch Versäumnisse, Verspätungen und andere disziplinarische Störmanöver machten gelegentlich schulseitige Interventionen im Lehrbetrieb notwendig. Mit geringem Erfolg, denn unglücklicherweise absolvierte Claudio die Lehre im väterlichen Betrieb, so wie sein älterer Bruder, ein ehemaliger Schüler von mir. Leider hatte auch dieser in Sachen Engagement und Leistungen ein eher getrübtes Bild hinterlassen, was bei mir Wiedererkennungsreflexe auslöste und vielleicht auch ungerechte Übertragungen auf den jüngeren Bruder bewirkte. Die selbstständige Vertiefungsarbeit von Claudio am Ende der dreijährigen Lehre hat mich dann gleichermassen gefreut wie beschämt. Nachdem wir zusammen Thema und Vorgehensweise ausgetüftelt hatten, legte sich ein verwandelter Claudio dermassen ins Zeug, dass seine kluge, differenzierte Abschlussarbeit mit Fug und Recht eine glatte Sechs verdiente. Bei aller Freude, ich war beschämt, dass es mir nicht gelungen war, das Potenzial schon früher anzuzapfen.
Daniel W. war ein ruhiger, anständiger Schüler, einer, den man gerne hat in einer unruhigen Klasse, unauffällig und daher keine besondere Aufmerksamkeit erheischend. Natürlich fielen die in Noten umgerechneten schlechten Leistungen bald einmal auf. Solange sie aber noch nicht in alarmierende Tiefen absanken, konnte man hoffen, dass Daniel halt etwas mehr Zeit brauchte, um in Fahrt zu kommen. Im Laufe der Ausbildungsdauer zeichnete sich immer häufiger ab, dass er oft überfordert war, sich aber bemühte, seine Sache so gut wie möglich zu machen, und so die Überforderung zu kaschieren versuchte. Während der ganzen drei Jahre schleppte sich das so dahin. Daniel kam immer knapp mit, nicht selten mithilfe der Kameraden, wahrscheinlich auch mit eigenem Einsatz, und er schaffte es schliesslich auch knapp durch die Abschlussprüfung.
Eldin U. wirkte mit seiner Irokesenfrisur und dem subtilen Machismo, den er ausstrahlte, ohne dass er ihn permanent ausspielte, wie eine schlummernde Provokation. Da er fast immer unter der Provokationsschwelle agierte, ging das leidlich gut, zumal sein Interesse gelegentlich auch dem Unterrichtsinhalt galt. Der Friede wurde immer dann brüchig, wenn sich Eldins Interesse stärker auf die Interaktionen und den eigenen Status in der Klasse ausrichtete. So konnten sich Konflikte zwischen ihm und Mitschülern schnell und unmittelbar entladen, nicht erst in der Pause. Mir gegenüber war er nur selten aufbrausend, halblaute Proteste und passiver Widerstand waren häufiger. Es gelingt mir auch im Rückblick nicht, den «wahren» Eldin zu erfassen. Bereits zu Lehrbeginn fuhr er mit seinem BMW vor («der zweite, tiefergelegte steht zu Hause in Kosovo»), und Geschichten von Unfällen und Polizeivorsprachen machten die Runde. Was stimmte? Falls es stimmte, woher stammte das Geld? Was musste ich wissen, was allenfalls weitermelden? Wenn Eldin dann am Unterrichtstag plötzlich wieder für zwei Stunden verschwand, wenn er sich mit abenteuerlichen Begründungen vom Sport dispensieren liess, wenn die Polizei auf dem Parkplatz vorfuhr oder der Lehrbetrieb, eine Institution des Vollzugs, zwei Wochen Abwesenheit infolge Timeouts ankündigte, dann ergaben sich fast zwangsläufig Fragen nach dem Hauptinteresse und dem eigentlichen Sinn der Ausbildung.
Die fünf Porträts könnten herangezogen werden, um die Vielfalt in der beruflichen Grundbildung zu belegen, die oft zitierte Heterogenität mit Gesichtern und Geschichten zu bebildern und sie noch mit dem Nachsatz zu unterstreichen, dass die Wirklichkeit noch viel differenzierter sei. Nicht das ist der Zweck der Porträts und dieses Textes, genauso wenig wie ein weiteres Mal die Schwierigkeiten von Klassen- und Unterrichtsführung zu beschwören. Es geht hier um das genaue Gegenteil von Wehklage, nämlich darum, pädagogische Optionen zu denken und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Lernen auch unter erschwerten Bedingungen in Gang kommen kann. Dafür, dass fünf reale Menschen herhalten müssen, um daraus Prototypen zu destillieren, entschuldige ich mich bei ihnen, und gleichzeitig bedanke ich mich, dass sie mir die Augen geöffnet haben für den anderen, den zweiten Blick. Fortan stehen die Namen, beziehungsweise die sie repräsentierenden Lettern, nicht mehr für lebendige Menschen, sondern für Kategorien.
Typ A ist aus Sicht der Lehrperson eine scheinbar problemlose Schülerin. Besondere Aufmerksamkeit erfordern nicht Defizite in Leistung und Verhalten, sondern das schlummernde, brachliegende Potenzial.
Typ B lernt aus innerer Überzeugung, er will gefördert werden und nimmt vorhandene Förderangebote auch an. Er benötigt keine individuellen, auf ihn abgestimmten Massnahmen, sondern holt sich aus dem Angebot das, was ihm nützlich scheint und seine aktuellen Lernbedürfnisse befriedigt.
Typ C bringt wenig erkennbare Lernmotivation mit. Übereinstimmungen zwischen subjektiven Interessen und dem Lernangebot sind nicht augenfällig. Typ C erfordert von den Lehrpersonen