Lernen ist meine Sache (E-Book). Dagmar Bach
lassen sich solche Irrtümer aushebeln? Indem man die eigene Wahrnehmung justiert und trainiert und indem man Gewichtungen ändert. Beispielsweise kann das eine stärkere Fokussierung auf Lösungswege und Lösungsvarianten sein, zusätzlich betont und verstärkt mittels entsprechender Bewertung/Benotung: wenn ein Lernprozess oder eine Problemlösungsstrategie gleich oder höher wertgeschätzt und/oder bewertet wird als die Wiedergabe von auswendig Gelerntem, wenn Lehrerfeedback in Bezug auf Originalität und Eigenleistung im Zentrum steht anstelle von Kommentaren zu Fehlern oder erteilten Noten. Das ist eine bewusste Anspielung auf sogenannte Notenbesprechungen – eine Zeitverschwendung insofern, als Noten nichts anderes als chiffrierte Verbalaussagen sind (5 = gut, 3 = ungenügend usw.) und keines Kommentars bedürfen, solange sie valide sind. Besser eingesetzt als für rückwirkende Schelte und Mahnung wäre diese Zeit zukunftsgerichtet, für personalisierte Lernplanung.
Lerngespenster entzaubern und einspannen
Motivation der Schülerinnen und Schüler ist keine Kernaufgabe der Lehrperson und liegt insofern nicht in deren Lehrauftrag, als man sich gemäss namhaften Fachautoren (vgl. z. B. Sprenger 2014) nur selbst motivieren kann. Zutreffend ist das sicher für die intrinsische Motivation, da «jeder Mensch immer irgendwelche Motive hat, immer motiviert ist», nur passen diese Motive nicht zwingend zu dem, was im Unterricht gerade verlangt wird. Und bei fehlender Passung «kann man nichts machen, denn Motive lassen sich nicht von aussen erzeugen» (Kaiser, 2004). Die Frage «Wie motiviere ich meine Klasse?» muss anders gestellt werden: «Was kann ein Lehrer oder eine Lehrerin tun, um die Lernenden dabei zu unterstützen, sich selbst zu motivieren?» (Bastian, 2014, S. 6). Das bedeutet erstens, dass sich der Auftrag an die Lehrperson auf eine optimale Versuchsanlage beschränkt und nicht schon den Erfolg voraussetzt. Und zweitens wird klar, dass Motivation bei den Individuen ansetzt und nicht oder höchst selten bei ganzen Klassen.
In der Null-Bock-Haltung schwingt die verdeckte Botschaft, dass das Interesse woanders liegt als beim gerade Verlangten, und keinesfalls, dass null und kein Interesse für irgendwas angenommen werden kann. Klar, gelegentlich «empfinden Jugendliche den Unterricht eher als eine mühsame Unterbrechung der Freizeit, in der man sich Computergames, Sport und Hobbys widmen kann» (Guggenbühl, 2014). Das zeigt doch zweierlei: Interesse ist vorhanden, aber auch ein Interessenkonflikt zwischen Lernenden und Lehrenden. Interessenkonflikte lassen sich aber thematisieren, im besten Fall sogar klären oder zumindest durch Priorisierung entschärfen. Die Standardlösung aufgrund des Machtgefälles ist jedoch, solche Interessenkonflikte gar nicht zur Kenntnis zu nehmen oder zu übergehen, was allerdings viele Lernende dazu veranlasst, sich geistig definitiv aus dem Unterricht abzumelden. Das ist eine (weitere) verpasste Lerngelegenheit, notabene für beide Seiten, hat die Lehrperson doch eine Gelegenheit ausgelassen, zur Lebenswelt und den Interessen ihrer Lernenden vorzudringen.
Eine negative Klassendynamik, in welcher Form auch immer (passiver Widerstand, Verweigerungen, organisierte Störungen ...), belastet eine Lehrperson, oft längst bevor sie das Klassenzimmer betritt, und die Eskalation ist fast unvermeidlich, wenn man sie persönlich nimmt. Aber aus Distanz betrachtet: Steckt in einer dynamischen Klasse nicht auch Potenzial im Vergleich zu einer lethargischen, lässt sich allenfalls deren Solidarität und Gestaltungswille für ein gemeinsames Vorhaben einsetzen, das der Klasse sinnvoll erscheint? Einer Schulklasse junger Menschen zu unterstellen, dass sie Destruktion sinnvoll findet, grenzt schon an pädagogischen Nihilismus. Umgekehrt gehört das Wissen, dass die Sinnfrage untrennbar mit menschlicher Entwicklung, mit Lernen verbunden ist, zum professionellen Grundrepertoire.
Wer Leistungsunlust beklagt, verkennt möglicherweise zwei wichtige Faktoren. Leistung ist meist mit Anstrengung verbunden, und Anstrengung selbst ist in aller Regel nicht das Ziel, sondern eine Voraussetzung zur Zielerreichung. Zudem müssen Ziele lohnend und in subjektiver Reichweite sein, damit sie attraktiv sind. Zweiter Faktor ist die Tatsache, dass wir längst in einer Erfolgsgesellschaft und nicht in einer Leistungsgesellschaft leben. Der vorzeigbare, materialisierte Erfolg ist das, was zählt, und nicht der betriebene Aufwand. Belege dafür? Statussymbole jeglicher Couleur garantieren für das Prestige, unbesehen davon, welche Leistung dazu aufgebracht wurde. Der teure Flitzer, das Finisher-T-Shirt, das Gipfelfoto stehen für den Erfolg. Der Weg dahin, die Eigenleistung ist oft zweitrangig, nicht selten auch ein sorgfältig gehütetes Geheimnis, besonders dann, wenn sie die Strahlkraft des Erfolgssymbols beschädigen würde (kreditfinanzierter Autokauf, geborgtes T-Shirt, Gipfelaufstieg mit fremder Hilfe). Wenn die Hypothese stimmt, dass die Pädagogik die Werteverschiebung in grossen Teilen der Gesellschaft vom Leistungsstreben zum «Erfolg-ist-geil-Primat» übersehen hat, dann hätte man es mit einem folgenreichen Dissens zu tun. Die Lehrperson honoriert Produkte und Resultate als erfolgreiche Lernleistungen, derweil die Leistung hinter dem Produkt nicht das Resultat eines Lernprozesses, sondern von erfolgreichem Kopieren, Erschleichen oder Einkaufen ist. Da beide Seiten die Bewertung als gerecht und verdient betrachten, wird der so Belohnte auch künftige Erfolge mit den probaten Mitteln statt mit Lernanstrengung anstreben – und wird mit der erneuten Belohnung darin bestärkt, dass sein Vorgehen erfolgreich und deshalb erwünscht sei.
Lerngespenster können mithilfe von nüchterner Betrachtung und pädagogischer Interpretation entzaubert werden. Etwas schwieriger ist es bei der Kategorie der Schuldämonen, oder nennen wir sie schulseitig lernhemmende Einflussfaktoren. Jedenfalls dann, wenn sie real vorhanden sind. Bei Schul- und Pausenordnungen, bei der Klassenzimmerarchitektur usw. gibt es nichts zu deuten, man kann höchstens auf den eingangs eingeführten doppelten pädagogischen Auftrag zurückgreifen, der da heisst: Hinführung zur Gesellschaftsfähigkeit und Förderung der Selbstbestimmung. Darin liegt der Schlüssel im Umgang mit den Lernhemmern der zweiten Kategorie: die Freiräume ausschöpfen, wenn pädagogisches Handeln gefordert ist.
Beim Stoffdruck ist eine der ersten Fragen die, was davon übrig bleibt, wenn man das minimal Vorgeschriebene zum Massstab nimmt. Ist die Stofffülle im gesamten Umfang Pflicht, oder bildet sie lediglich das zur Verfügung gestellte Angebot ab? Was umfasst das Must-have, und was ist lediglich Nice-to-have? Massgebend sind die Bildungspläne, nicht die Lehrmittel. Und wenn im schlechteren Fall die Menge tatsächlich zu gross, die Stoffdichte zu komplex ist in Bezug auf die Aufnahmefähigkeit? (Vielleicht auch nur auf die Aufnahmebereitschaft, aber könnte das nicht auch eine kurzfristig unveränderbare Variable sein?). An diesem Punkt setzt die pädagogische Verantwortung ein, die zwischen der Vorgabe (allen Stoff behandeln) und der Professionalität (Kenntnis der Formel «Gelehrt ist nicht gelernt») abwägen muss: abspecken oder vollstopfen, exemplarisch vertiefen oder volle Komplexität, Mut zur Lücke oder volles Programm ohne Rücksicht auf Verluste?
Lehrpläne sind verbindlich, und diese Verbindlichkeit scheint umso einschneidender, je mehr ein Lehrplan zum Stoffplan verkümmert daherkommt, aufgeschlüsselt in detaillierte Lern- oder eben Lehrziele, und diese zeitlich und inhaltlich bestimmten Sequenzen zuteilt. Was gut gemeint ist, weil es der Sicherheit für Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger dient und Vollständigkeit im Hinblick auf die Abschlussprüfung sicherstellt, hat weitgehend schulorganisatorische Gründe wie einfachere Stellvertretungen, Klassenübergaben bei Lehrerwechsel usw. Ein nicht unbeabsichtigter Nebeneffekt davon ist das Controlling. Was bei dieser Aufzählung nicht vorkommt: die Lernenden, deren Interessen, die Aktualität, die Sinnfrage. Was aber nützen vollständige Themen- und Kompetenzkataloge, wozu dienen reibungslose Übergänge, wenn ein Teil von dem, was die Lehrpläne im Kern bewirken wollen, bei den Lernenden nicht ankommt? Prioritäre Fragen dazu sind: Was ist vermeintliche und was zwingende Verbindlichkeit? Was steht in Präambeln und was im Vollzugsteil? Und im Fall von Divergenzen: Welcher Handlungsspielraum bietet sich, welchen nutze ich? Ein Blick in aktuell gültige Lehrpläne ergibt, dass die Rigorosität der tabellarischen Ziel-, Stoff-, Methoden- und Materialienkataloge oft weit weniger ausgeprägt ist, als man glaubte. Relativierend und dadurch ganz auf grössere pädagogische Handlungsfreiheit ausgerichtet sind sehr oft Präambeln und Einleitungstexte in Lehrplänen, zum Beispiel: «Die Behandlung und Bearbeitung aktueller Themen haben bei der Unterrichtsplanung Vorrang» (aus dem «Vorwort Schullehrplan Allgemeinbildung» der Berufsfachschule für Hörgeschädigte).[3] Parallel zum Lehrplan ist die Lehrperson immer auch ihrem pädagogischen Auftrag verpflichtet. Es gehört zu ihrer professionellen Verantwortung, abzuwägen zwischen Lernzuwachs und Marschieren im Gleichschritt nach den Vorgaben des Lehrplans.
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