Achtsamkeitscoaching. Günther Mohr
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Einige Leitfragen zur Auswertung dieser Übung:
Wie laut oder stark kommen einzelne Aspekte zum Ausdruck?
Welcher Aspekt korrespondiert mit welchem anderen, reagiert auf diesen?
Welche Aspekte ›arbeiten gut zusammen‹?
Welches Klima entsteht insgesamt?
Welche Änderungen könnten sinnvoll sein?
Welche Aspekte sollen deutlicher hervortreten, welche sollen sich mehr zurückziehen?
Der Südafrikaner Woltemade Hartmann betrachtet die verschiedenen inneren Anteile einer Person kulturübergreifend, sowohl in der westlichen als auch beispielsweise in der afrikanischen Kultur. Er formuliert sieben Fragen, die die Qualität des Zusammenspiels der inneren Persönlichkeitsanteile charakterisieren (Fritzsche und Hartman 2010, 118; Hartman 2011).
1 Kennen die einzelnen inneren Teile einander?
2 Können sie miteinander kommunizieren?
3 Können sie zueinander Empathie zeigen?
4 Können sie Verständnis füreinander äußern?
5 Können sie Erfahrungen zusammen erleben?
6 Gibt es Co-Bewusstheit, gemeinsame integrierte Bewusstheit?
7 Können Erfahrungen – wie in einem guten Team – »in einer Energie« gemacht werden?
Diese Fragen sind vor allem wichtig, wenn erst noch geklärt werden muss, ob und in welcher Form die Anteile als positive Ressourcen taugen. Die innere Achtsamkeit ist die Voraussetzung für äußere Achtsamkeit anderen Menschen gegenüber.
4. Achtsamkeit entwickeln
Die sechs Aufmerksamkeitsebenen (Körper, Gefühle, Denken, Ich-Konstrukt, transgenerational, nondual) sind für die Entwicklung des Bewusstseins ganzheitlicher Achtsamkeit relevant. Wer in seinem Leben an den Punkt kommt, dass er sich selbst weiter entwickeln möchte, der sollte sich all diesen Dimensionen stellen. Menschen können und sollen sich auf allen Ebenen entwickeln. Im Alter bekommen die transgenerationale und die nonduale Perspektive häufig mehr Gewicht. Das ist gut so. Der Zugang zum Bisherigen bleibt erhalten. Was wegfällt, ist eine einseitige Identifikation mit bestimmten Ebenen und das Abwerten anderer Ebenen. Die wesentliche Erkenntnis ist das Erwachen aus der automatischen Fixierung an Körper, Gefühle, Denken und Ego. Insofern findet im Entwicklungsprozess eine Schwerpunktverlagerung statt. Integrative Achtsamkeit benötigt alle Ebenen. Und auf allen sechs Ebenen ist Fortschritt, aber auch Rückschritt möglich.
Abb. 2: Rückentwicklung und Positiventwicklung auf den Aufmerksamkeitsebenen
Es ist auch eine gleichzeitige Entwicklung auf mehreren Ebenen möglich und sogar sehr sinnvoll.
Achtsamkeit ist mehr als Wahrnehmung. Wenn im MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction), einer sehr empfehlenswerten Methode von John Kabat-Zinn, die Menschen eine Rosine bewusst wahrnehmen und genießen lernen, ist das erst einmal Wahrnehmung. Ob es achtsam ist, hängt davon ab, ob die Rosine für den einzelnen gerade wirklich »dran« ist. Achtsamkeit bedeutet, sich darin zu üben, zu erkennen, was im Moment wirklich dran ist. Um das zu bearbeiten, was beim Einzelnen gerade Thema ist, was Achtsamkeit verdient, dafür braucht man alle Ebenen.
Das kann man sich in der Veränderungsarbeit zu Nutze machen. Man stößt auf verschiedenen Ebenen Entwicklungen an und beobachtet das Ergebnis. So wie bei einer Problemlösung häufig nicht die Fokussierung auf das Problem und dessen Ursache hilfreich ist, sondern eine neue Perspektive. Schon Albert Einstein sagte: »Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.« Es gibt auch jede Menge möglicher Kombinationen. Körperliche Probleme bedingen eine Verhaltensänderung und brauchen einen Anreiz auf der emotionalen Ebene. Rückwärtsentwicklungen sind meist Übersteigerungen einer Ebene, die mit der Ausblendung anderer verbunden sind.
5. Bewusstes, Unbewusstes und die Aufmerksamkeit
Grundsätzlich gilt, dass Menschen das Bewusste im Vergleich zum Unbewussten maßlos überschätzen. Der Mensch hält das, was er wahrnimmt, für Realität. Dabei ist das bei näherem Hinsehen nur ein kleiner Ausschnitt und ausschließlich durch die Fähigkeit seines äußeren und inneren Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsapparates bedingt. Menschen kennen sich nicht. Ihnen ist ihr Selbst allenfalls in Ausschnitten bewusst. Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk hat dies mal mit dem Fahrverhalten eines Lastzuges, bestehend aus Lastwagen und Anhänger, verglichen. Man lernt das Verhalten des Anhängers, des Selbst, erst kennen, wenn man mit ihm in die Kurven geht, also das Leben tatsächlich lebt (Stasiuk 1998). Auch die Eltern erkennen nicht ohne Weiteres das Besondere des kleinen Menschen, der ihnen anvertraut wurde. In den meisten Fällen werden die Kleinen mit anderen verglichen und an den Standardaufgaben gemessen: Er läuft früh; er spricht spät; er ist gut im Rechnen und er spielt ganz gerne alleine. Es entsteht der normengerechte Mensch. Der Genius des Einzelnen bleibt oft verborgen.
Es gibt verschiedene Ebenen des Unbewussten, die eine Rolle spielen: das normale Alltagsunbewusste, das, was wir automatisch tun und gar nicht bemerken wie etwa bestimmte Körperbewegungen (Mohr 2008), das implizite Wissen unserer vorsprachlichen Zeit, die großen Lernschritte, die wir persönlich absolviert haben (Allen 2003; Erickson, Rossi und Rossi 2009), das Vergessene und Verdrängte des personalen Unbewussten in den Traumata oder ungelösten Konflikten zwischen eigenem Bedürfnis und Normen (Freud 1999) bis hin zum kollektiven Unbewussten, der langen Reihe von Erfahrungen unserer Sippe, kulturellen Gruppe und der Menschen insgesamt (Jung 1995).
Menschen können offensichtlich nur einen Teil der Aufmerksamkeitsebenen gleichzeitig verarbeiten. Für alles reicht ihre Kapazität nicht. Sie müssen immer fokussieren. Bei Erwachsenen kann man davon ausgehen, dass nur wenige Wahrnehmungen der fünf Sinne im ursprünglichen Sinne rein sind. Sie tendieren dazu, sie immer sofort mit vermeintlich wichtigen inneren Verknüpfungen – sprich früheren Erfahrungen – zu verbinden. Der Schotte Ian Stewart zeigte, dass es bei Erwachsenen eigentlich keine ungetrübten Reaktionen im Sinne des sogenannten natürlichen Kind-Ichs mehr gibt (Stewart 2002). Erwachsene Menschen haben in der Regel zu fast allen Situationen schon Erlebnisse gehabt und Erfahrungen gesammelt. Diese werden dann innerlich ›zu Rate gezogen‹. Deshalb macht es Sinn, die innere Aufmerksamkeit, letztlich das implizit wirksame Gedächtnis, als weitere Wahrnehmungsfläche zu den üblichen Sinnen Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten hinzuzufügen. Dies hatte im Übrigen schon der Buddha vor 2600 Jahren erkannt, wie Paul Köppler (2008) es in seiner Sammlung der Originaltexte von Buddha darstellt. Das Ziel der Achtsamkeitsarbeit ist, die Aufmerksamkeitsebenen wieder möglichst rein, das heißt ohne emotionale Wertung und intellektuelle Einordnung, zu registrieren: Was ist überhaupt da? Was ist davon ein gefühlsmäßiges Bedürfnis und was ist nur ein gelernter Denkprozess?
Auch die moderne Hirnforschung fand heraus, dass bei einer äußeren Sinneswahrnehmung der größte Anteil durch schon vorhandene innere Informationen bestimmt wird. Bei der Verarbeitung einer äußeren Sinneswahrnehmung sind vier von fünf Nervenzellen nach innen auf bisherige schon gespeicherte Informationen bezogen. Dies zeigt sich auch in den unbewussten Gedanken, Bildern und durch Symbolsprache, zum Beispiel im Traum. Alle sechs Aufmerksamkeitsebenen haben bewusste, aber vor allem sehr stark unbewusste Anteile. Dies beginnt schon beim Körper. Viele unserer körperlichen Vorgänge bemerken wir gar nicht. Was in den Zellen des menschlichen Körpers passiert, ist für uns nicht detailliert wahrnehmbar und schon gar nicht unmittelbar beeinflussbar. Viele Körperprozesse passieren von selbst. Wir bemerken sie erst, wenn sie in irgendeiner Form haken und nicht mehr automatisch vonstatten gehen. Generell geht es bei der Arbeit mit den Aufmerksamkeitsebenen darum, das Unbewusste, das sich entwickelt hat, von Überlagerungen zu befreien, quasi zu enthüllen und ins Bewusstsein zu bringen. Das können angenehme Aspekte und Talente sein, die lange schlummern oder sich durch Lebenserfahrung langfristig angesammelt und verdichtet haben. Es zeigen sich aber auch durchaus unangenehme Aspekte des Lebens wie die eigenen Grenzen, vermeintliche