Octagon. Michael Weger
über diesen Stein und vor allem, woher er stammt.“ Erik ließ sich nicht lange bitten, wenn er sein reiches Wissen anbringen konnte.
„Nun, es handelt sich, wie gesagt, um ein sehr seltenes Exemplar. Ich müsste natürlich noch eine detaillierte chemische Analyse durchführen, doch da ich in den letzten Jahren einige Fälschungen dieser Steine in Händen hatte und gerade mal zwei echte, kann ich der Oberfläche, dem Gewicht und der Farbe nach auf den ersten Blick mit großer Sicherheit sagen: Das ist ein Shaligram Shila. Wobei er als solches nicht so selten ist. Dieser goldgelbe Abdruck des Ammoniten jedoch macht ihn zu einer wahren Rarität.“ Sein Blick ruhte voll Begeisterung auf dem Stein in seiner Hand. „Warte, ich kenne eine einfache Methode, die uns verlässlich Auskunft gibt.“
Er legte den Stein, behutsam auf ein steriles Tuch gebettet, auf den Labortisch und ging zu einer der verglasten Vitrinen, in denen sich zahllose mineralogische Exponate befanden. Mit einem Schlüssel, den er an einem Band um seinen Hals trug, öffnete er eine der Glastüren und holte aus einer der unteren Laden ein goldenes Nugget hervor.
„Was hast du vor?“, fragte Paul erstaunt.
„Du wirst es nicht glauben, aber echte Shaligramas sind zwischen fünfzig und hundert Millionen Jahre alt. Sie sind derart gehärtet, dass ein deutlich sichtbarer Abrieb haften bleibt, wenn man mit echtem Gold über ihre Oberfläche streift.“
Er nahm den Stein zur Hand und führte den Test durch. Deutlich war der goldene Streifen zu sehen.
„Jetzt ist er noch wertvoller,“ sagte Erik mit einem verschmitzten Lächeln, „und das Institut ein klein wenig ärmer. Aber das wird es verkraften und wir brauchen keine Chemie mehr. Dieser Shila ist echt.“
„Was weißt du noch?“, fragte Paul ungeduldig.
„Über Steine? Alles!“, antwortete Erik lachend. „Über diesen hier sogar noch mehr.“
„Spann mich nicht so auf die Folter.“
„Wie wär’s, wenn wir das beim Essen erledigen? Du zahlst natürlich: Mein Minimalhonorar für mineralogische Expertisen.“
Das Essen mit Erik wurde zu einer wahren Freude. Sein humorvolles Wesen machte Paul erst bewusst, wie sehr er den guten Freund in den vielen Monaten vermisst hatte.
In Erinnerung an alte Zeiten nahmen sie ihre Mahlzeit Bei Oma Kleinmann, ihrer Stammkneipe aus Studententagen, zu sich. Das Lokal mit dem liebenswerten Namen bot eine riesige Auswahl an Schnitzeln und das typische Kölsch, der ganze Stolz der Kölner Bierbrauer, mundete dazu noch vorzüglicher.
„Shila ist das Sanskritwort für Stein und Shaligram bezeichnet jene äußerst seltenen Steine, in denen Hindus die Inkarnation des Gottes Vishnu verehren.“, begann Erik seine Ausführungen. „Die Filamente, diese kreisförmig angeordneten Rillen, stammen von urzeitlichen Würmern, die in dem Stein ihre Behausung fanden. Sie stellen die Chakren des Gottes dar. Es gibt diese Einschlüsse in vielen Farben. Die goldgelben, wie auf deinem Stein, bedeuten, dass die Kraft von Vishnu am stärksten darin wirkt. Du hast einen heiligen Stein in deiner Tasche.“ Er nahm einen kräftigen Schluck und wischte sich mit der Hand den Schaum vom Bart.
„Ich hoffe doch, Vishnu war ein freundlicher Gott.“
„Keine Sorge, er war einer der drei höchsten Götter und steht für die Erhaltung allen Lebens. Hindus verehren seine Steine und beten zu ihnen. Sie bringen ihren Besitzern Glück, Gesundheit, Reichtum und das Beste: sie erlösen sie von schlechtem Karma.“
„Gut für mich“, meinte Paul mit zufriedenem Lächeln, „aber du hast mir noch immer nicht verraten, woher er stammt!“ „Und du mir noch immer nicht, warum dich das so interessiert. Muss wohl mit deiner Ärztin zu tun haben“, erwiderte Erik und grinste genussvoll.
Bei der herzlichen Verabschiedung vereinbarten die beiden, einander bald schon wiederzusehen, dann aber an einem Wochenende, um mehr Gelegenheit zu erhalten, all jene Geschichten auszutauschen, für die in der zu kurz bemessenen Mittagspause keine Zeit geblieben war.
Auf dem Rückweg in die Praxis gingen Paul Bilder von politischen Unruhen, achttausend Meter hohen schroffen Bergen und vagen klischeehaft verzerrten Mythen durch den Kopf. Denn, wie Erik schließlich offenbart hatte, traten besagte Steine nur an einem einzigen Ort in der Welt aus den Untiefen des Erdinneren an die Oberfläche: an den Ufern des Flusses Gandaki, am Fuß der höchsten Gebirgszüge des Himalaya im Nordenwesten Nepals.
Dieser Hinweis beschränkte das Gebiet, in dem sich die Tempelschule befinden konnte, zwar auf nur rund zweihundert Quadratkilometer, doch gab er in keiner Weise ihren exakten Standort preis. Mehr konnte Paul allerdings auch nicht erwarten. Grenzte es doch schon an ein Wunder, dass der geheimnisvolle Shila überhaupt einem letztlich so kleinen Areal zuzuordnen war.
Zurück in seinem hellen, behaglichen Arbeitsraum positionierte Paul den Stein wieder auf seinem Schreibtisch. Diesmal jedoch zog er aus der stets für die Tränenflüsse seiner Klienten bereiten Box ein ganzes Bündel von weichen Taschentüchern, formte sie umständlich zu einer Art Nest und bettete den Stein behutsam in seine Mitte.
Nachdem er die Mappe mit den Aufzeichnungen für die bevorstehende Sitzung vom Stapel der Sprechstundenhilfe geholt hatte, setzte er sich in seinen klassischen Lederfauteuil. Ohne einen Blick in die Unterlagen zu werfen, ließ er in den wenigen Minuten vor Beginn noch kurz seine Gedanken schweifen.
Eine Reise nach Nepal, in eine von Krisen geschüttelte Region, schien ihm noch weniger bedrohlich als die Vorstellung, inmitten der höchsten Berggipfel der Welt Hunderte Kilometer nach einem ominösen Tempel abzusuchen, dessen Existenz nicht mal belegt war.
Paul hatte auch von der berüchtigten Höhenkrankheit gehört, die zahlreiche Bergsteiger gerade im Himalaya das Leben gekostet hatte. Erst einmal also keine so guten Aussichten.
Da fiel ihm ein und er wunderte sich, nicht schon früher daran gedacht zu haben, dass eine seiner Klientinnen vor etwa vier Monaten ihre Therapie unterbrochen hatte, um nach Nepal zu reisen. Danach hatte sie ihm von einem aufregenden und inspirierenden Trekking berichtet. Sie war als unerfahrene Bergsteigerin bis auf über fünftausend Meter hoch gewandert.
So unmöglich konnte es also doch nicht sein.
Die Tür in den Praxisraum öffnete sich und Ruth Meyer betrat den Raum. Paul sah sie mit großen Augen an: Es war eben jene Klientin, an die er in diesem Moment gedacht hatte.
6
„Ich habe mich gefragt“, begann Ruth nach der beiderseitigen freundlichen Begrüßung das Gespräch, „ob wir die Therapie vielleicht bald ausklingen lassen könnten? Ich fühle mich in den letzten Wochen sehr stabil und denke, dass ich schon ganz gut alleine zurechtkomme. Wissen Sie, die Reise nach Nepal, von der ich Ihnen kurz erzählt habe, war letztlich wie eine Erlösung. Allerdings wäre ich dazu ohne Ihre so hilfreiche Unterstützung in den Monaten davor nie bereit gewesen. Sie haben mir vor Augen geführt, dass ein eingeschlagener Weg, nur deshalb weil er zur Gewohnheit geworden ist, noch lange nicht der richtige sein muss. Ohne Sie wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, mein so vertraut erdrückendes Umfeld zu verlassen“, meinte sie ironisch mit einem Lächeln. „Ich glaube aber, diese schlimme Lebensphase liegt jetzt tatsächlich hinter mir.“
Ruth hatte gegenüber von Paul im Fauteuil Platz genommen. Sie trug Bluejeans, einen lilafarbenen Rollkragenpullover und hatte ihre Beine, wie sie es mittlerweile immer tat, seitlich hochgezogen.
Offen und unbeschwert blickte sie ihn nun an.
Vor nicht ganz neun Monaten war sie blass und zitternd in einem mattgrauen Kostüm mit einem schweren Burn-out-Syndrom zum ersten Mal vor ihm gesessen. Sie hatte als studierte Softwarespezialistin in einem Großkonzern gearbeitet, der Halbleiter produzierte, jene kleinsten Chipbauteile, die in allen Hightechgeräten zu finden sind. Nicht nur die Arbeit im Vierundzwanzig-Stunden-Schichtbetrieb mit extrem schwankenden Arbeitszeiten hatte sie im wahrsten Sinn des Wortes ausgebrannt, sondern auch die zusätzlich aufreibenden Anforderungen als alleinerziehende Mutter zweier pubertierender Söhne.
Nach der intensiven und