Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie. Группа авторов
noch der besten Denkweise der ersten Ordnung (First Tier) befindet.« (ebd.)
Wilber, der in seinen Ausführungen zur Integralen Psychologie (2006) die Spiral Dynamics rezipiert, ordnet diesen besonderen Stufenübergang folgendermaßen ein:
»… was keines dieser Meme [der ersten Ordnung] von sich aus kann, ist die Existenz der anderen Meme in vollem Sinn wertschätzen […] das beginnt sich mit dem Denken des zweiten Rangs10 zu verändern. Weil Bewusstsein des zweiten Ranges sich der inneren Stufen der Entwicklung ganz bewusst ist – auch wenn es sie nicht in technischer Weise artikulieren kann –, tritt es zurück und erfasst das große Bild, und so kann das Denken des zweiten Ranges die notwendige Rolle, die alle diese verschiedenen Meme spielen, wertschätzen. Indem das Bewusstsein des zweiten Ranges das benutzt, was wir Schau-Logik nennen würden, denkt es in Begriffen der Gesamtspirale der Existenz, und nicht nur in denen einer jeweiligen Ebene … das Denken des zweiten Ranges [geht] einen Schritt weiter und beginnt, diese pluralistischen Systeme in integrale und holistische Spiralen und Holarchien zu integrieren (Beck und Cowan selbst sagen von diesem Denken des zweiten Ranges, es operiere mit ›Holonen‹).« (ebd. 69)
All dies wird in der folgenden Abbildung 4 noch einmal zusammengefasst dargestellt.
Abb. 4: Polarität Zugehörigkeit/Eigenständigkeit in holarchischer Selbstentwicklung.
© Gremmler-Fuhr 2012
Friedlaenders Verständnis von Polaritäten bzw. schöpferischer Indifferenz und der Integrale Gestalt-Ansatz
Für den Gestalt-Ansatz hat, wie bereits erwähnt, Ludwig Frambach mehrfach verdeutlicht, wie sich der Einfluss von Friedlaenders Philosophie bemerkbar macht. So setzte er beispielsweise auch das Fünf-Schichten-Modell der Neurose unter Zuhilfenahme des Figur-Grund-Konzeptes in Beziehung zu Polaritäten und schöpferischer Indifferenz (Frambach 2001, 304 f.).
Aber auch in Versuchen der Weiterentwicklung der theoretischen Konzepte des Gestalt-Ansatzes griffen beispielsweise Reinhard Fuhr und die Autorin auf die Idee der Polaritäten zurück, so unter anderem bei der Darstellung der Kontaktfunktionen (z. B. Fuhr & Gremmler-Fuhr 1995, 119–133), bei der Darstellung der Dimensionen dialogischer Beziehung (Gremmler-Fuhr 2001, 406–416), bei Überlegungen zu einer Ethik im Gestalt-Ansatz (Gremmler-Fuhr 2001a, 545–561) oder Erläuterungen der Praxisprinzipien des Gestalt-Ansatzes (z. B. Fuhr 2001a, 417–437).
Mit der Darstellung der Polarität von Zugehörigkeit und Eigenständigkeit, wie sie sich durch die Stufen oder Memes der Entwicklungsholarchie manifestiert und transformiert, ist auch ein Prozessverlauf angedeutet, der nun mit Friedlaenders Verständnis von Polarität und schöpferischer Indifferenz in Beziehung gesetzt werden kann.
In der Entwicklungsholarchie gibt es, wie in der obigen Darstellung deutlich wurde, nicht nur eine Stelle, an der Polaritäten auftreten, um dann in einem nächsten Schritt transzendiert zu werden. Dieser Prozess vollzieht sich vielmehr bei jedem Stufenübergang, was nicht zuletzt dadurch evident ist, dass wir nicht ohne Grund von einer Holarchie sprechen: Holarchien sind aus Holons bestehende Hierarchien, und darin ist der polare Charakter per Definition verankert (wie ich zu Beginn andeutete). Beim Stufenübergang geht nun sowohl die alte Teil-Identität im größeren Ganzen auf und ebenso differenziert sich eine neue Teil-Identität heraus.
Im Erleben lässt sich ein solcher Stufenübergang mehr oder weniger ausführlich beschreiben – Wilber spricht bei einem jeden Stufenübergang oder jedem »Drehpunkt« vom 1–2–3–Prozess bzw. sieht darin das Erkennungsmerkmal für einen Stufenübergang, wenn er ausführt:
»Man kann also einen Drehpunkt immer an seiner dreistufigen Struktur erkennen: Identifizierung, Ent-Identifizierung, Integration oder Verschmelzung, Differenzierung, Integration oder Einbettung, Transzendierung, Einschließung.« (Wilber 1997, 191)
Wilber weist darüber hinaus auch auf eine häufige Problematik hin, nämlich auf die Verwechslung von Differenzierung und Dissoziation (Wilber 1997, 217) sowie die von Verschmelzung mit Freiheit (bzw. Integration) (ebd.). So betrachten nach Wilber viele Theoretiker
»… jegliche Differenzierung nicht als Vorbereitung auf eine höhere Integration, sondern als brutale Zerstörung der bisherigen Harmonie […] Damit über-idealisieren sie aber diesen primitiven Mangel an Differenzierung ganz dramatisch. Dass das Selbst noch nichts von Leiden weiß, bedeutet ja nicht schon, dass es umgekehrt in spiritueller Wonne baden würde. Die Abwesenheit von Bewusstsein bedeutet nicht die Anwesenheit des Paradieses!« (ebd.)
Wer den für Entwicklung notwendigen Schritt der Differenzierung mit Dissoziation, also mit Entfremdung bzw. Abspaltung gleichsetzt, der interpretiert jede Differenzierung als Herausfallen aus einem zuvor paradiesischeren Zustand und daher als Entwicklung in die falsche Richtung. Dieses Missverständnis ist nicht zuletzt im GRÜNEN Meme eine Gefahr, da hier, wie bereits erläutert, Harmonie und Gleichheit hohe Werte sind und die Orientierung relativistisch und soziozentrisch ist. Wie Wilber deutlich macht, resultiert aus Verschmelzung alles andere als Freiheit. Vielmehr ist es
»… genau umgekehrt. Verschmelzung ist Gefangenschaft – man wird von allem beherrscht, was man noch nicht transzendiert hat.« (ebd.)
Abgesehen von diesen Zusammenhängen zu Friedlaenders Konzept der Polaritäten und der schöpferischen Indifferenz gibt es m. E. noch einen spezifischeren Zusammenhang. Dies soll an folgendem Zitat von Frambach in Erläuterung von Friedlaender deutlich werden: »∞ zu sein, genügt nicht; man soll es auch (polariter) werden« (Friedlaender 1986, 18). Die Lebenskunst, die aus der indifferenten Mitte erwächst, besteht prinzipiell in einem Balancieren der polaren Gegensätze, einem Äquilibrieren. Es kommt darauf an, sich nicht einseitig und schief von einem Pol vereinnahmen zu lassen, sondern sich frei in deren Mitte zu zentrieren und sie beidseitig gleichsam wir Flügel zu regen. Eine unvoreingenommene »Gleichgern-Bereitschaft« (Friedlaender 1918, 439 u. 479), ein Gleich-Mut, kennzeichnet den Menschen, der in seiner indifferenten Mitte zentriert ist gemäß dem einen Grundgebot des »weltschwangeren Nichts: Es verbietet nichts Bestimmtes, nur das Fehlen des Gleichgewichts zwischen polar Bestimmtem« (ebd. 144). Es geht konkret z. B. darum, dass Zorn und Sanftmut nicht als sich ausschließende Widersprüche voneinander isoliert werden, sondern als polar-differenzierte Gegensatzeinheit gelebt werden, indem man flexibel in ihrer indifferenten Mitte zentriert ist. So kann man »elastisch identisch« (ebd. 195) bleiben und aus einer »Totalität des Erlebens« (ebd. 147) heraus frei beweglich auf die jeweilige Anforderung der Situation angemessen zornig oder sanft reagieren (Frambach 2001, 301).
Zunächst zum Beginn dieses Zitats: Prägnanter kann man wohl nicht deutlich machen, dass es um das Leben und Erleben aller Pole geht. Keiner der Zustände oder Phasen wird als endgültiges Ziel angestrebt, sondern es geht um die Bewegung von einem zum anderen – und nichts anderes ist der Prozess der holarchischen Entwicklung.
In der weiteren Beschreibung liest sich Frambachs Erläuterung Friedlaenderscher Philosophie jedoch im Grunde wie eine exakte Beschreibung des GELBEN Memes: im Selbst so sicher verankert zu sein (»in der indifferenten Mitte zentriert«), dass man über alle Errungenschaften der vorherigen Memes verfügen kann und diese situativ verantwortlich auswählt (»elastisch identisch«) – das ist eine Werteorientierung und ein Denken der zweiten Ordnung – also mindestens die integrale Ebene bzw. GELB!
Woran erkennt man aber eigentlich genau, ob man selbst oder jemand anderes nun aus integraler Bewusstheit heraus Position bezieht, Entscheidungen trifft und zur Handlung kommt oder ob es sich um ein Mem erster Ordnung handelt, von dem aus man all das tut? Oder anders formuliert: Wie macht es sich bemerkbar, dass bzw. ob jemand in der Lage ist, auf eine solche »elastische Identität« zurückzugreifen?
Konsequenzen aus der Integration von Polaritäten
Betrachtet man allein das Verhalten (beschränkt sich also nach dem Quadrantenmodell von Wilber auf die beiden rechten Quadranten), so kann man erkennen, was jemand tut, aber man erfährt nichts über seine Motive. Für eine Zuordnung zu den aktiven