Existenzielle Psychotherapie. Irvin D. Yalom

Existenzielle Psychotherapie - Irvin D. Yalom


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einen Augenblick lang auf und stellen uns das Leben ohne einen Gedanken an den Tod vor. Das Leben verliert etwas von seiner Intensität. Das Leben schrumpft, wenn der Tod verleugnet wird. Freud, der aus Gründen, auf die ich später kurz zurückkommen werde, wenig über den Tod sprach, glaubte, dass die Vergänglichkeit des Lebens unsere Freude an diesem erhöht. »Die Begrenzung in der Möglichkeit einer Freude erhöht den Wert einer Freude«. Freud schrieb während des Ersten Weltkriegs, dass die Verlockung des Krieges darin bestand, dass er den Tod wieder in das Leben brachte: »Das Leben wurde in der Tat wieder interessant; es hat wieder seinen vollen Inhalt erhalten.«10 Wenn der Tod ausgeschlossen wird, wenn man aus dem Auge verliert, was auf dem Spiel steht, verarmt das Leben. Es wird zu etwas, wie Freud schrieb, »so Seichtem und Leerem, wie zum Beispiel ein amerikanischer Flirt, bei dem von Anfang an klar ist, dass nichts daraus wird, im Gegensatz zu einer Liebesaffäre auf dem alten Kontinent, bei der beide Partner ihre Konsequenzen ständig im Bewusstsein haben müssen.«11 Viele haben darüber spekuliert, dass die Abwesenheit der Tatsache des Todes ebenso wie der Idee des Todes zu einem Abstumpfen der Sensibilität für das Leben führen würde. Beispielsweise gibt es in Jean Giraudouxs Theaterstück Amphitryon eine Unterhaltung zwischen den unsterblichen Göttern. Jupiter erzählt Merkur, wie es ist, weltliche Gestalt anzunehmen und eine sterbliche Frau zu lieben:

      Sie gebraucht wenige Ausdrücke, und das erweitert den Abgrund zwischen uns … sie sagt, »Als ich ein Kind war« – oder »Wenn ich alt bin« – oder »Niemals in meinem ganzen Leben« – Das bringt mich um, Merkur … Uns fehlt etwas, Merkur – die Ergriffenheit des Übergangs – die Andeutung der Sterblichkeit – jene süße Traurigkeit des Ergreifens von etwas, was man nicht halten kann?«12

      Auf ähnliche Weise stellt sich Montaigne ein Gespräch vor, in dem Chiron, halb Gott, halb Sterblicher, Unsterblichkeit zurückweist, als sein Vater Saturn (der Gott der Zeit und Dauer) beschreibt, was mit der Wahl verbunden ist:

      Stell dir mal aufrichtig vor, wie viel unerträglicher und schmerzhafter ein ewig dauerndes Leben für den Menschen wäre als das Leben, das ich ihm gegeben habe. Wenn du den Tod nicht hättest, würdest du mich unaufhörlich verfluchen, weil ich dich seiner beraubt habe. Ich habe es absichtlich mit ein wenig Bitterkeit vermischt, um dich daran zu hindern, es zu gierig und maßlos zu umarmen, wenn du seine Annehmlichkeit siehst. Um dich in den gemäßigten Zustand zu versetzen, den ich von dir fordere, indem du weder dem Leben entfliehst, noch vor dem Tod zurückweichst, habe ich beide von ihnen zwischen Süße und Bitterkeit gemildert. 13

      Ich möchte nicht an einem nekrophilen Kult teilhaben oder für lebensverleugnende Morbidität eintreten. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass unser grundlegendes Dilemma darin besteht, dass jeder von uns sowohl Engel als auch Bestie ist; wir sind die sterblichen Geschöpfe, die, weil wir uns unserer selbst bewusst sind, wissen, dass wir sterblich sind. Eine Verleugnung des Todes auf irgendeiner Ebene ist eine Verleugnung unserer grundlegenden Natur und erzeugt eine zunehmende und durchgreifende Verringerung der Bewusstheit und Erfahrung. Die Integration der Idee des Todes rettet uns; statt uns zu einer Existenz des Schreckens oder des düsteren Pessimismus zu verurteilen, wirkt sie als Katalysator, damit wir in authentischere Modi des Lebens eintauchen können, und sie vergrößert unsere Freude am Leben. Als Bekräftigung dafür haben wir das Zeugnis von Personen, die eine persönliche Begegnung mit dem Tod hatten.

      Konfrontation mit dem Tod: Persönlicher Wandel

      Einige unserer größten Werke der Literatur haben die positiven Wirkungen, die eine nahe Begegnung mit dem Tod auf einen Menschen hatte, dargestellt.

      Tolstois Krieg und Frieden liefert uns eine ausgezeichnete Illustration davon, wie der Tod einen radikalen persönlichen Wandel initiieren kann.14 Pierre, der Protagonist, fühlt sich von dem bedeutungslosen, leeren Leben der russischen Aristokratie abgestumpft. Als verlorene Seele stolpert er durch die ersten neunhundert Seiten des Romans und sucht nach irgendeinem Sinn des Lebens. Es kommt zum Höhepunkt des Buches, als Pierre von Napoleons Truppen gefangen genommen und zum Tod durch Erschießen verurteilt wird. Er steht mit sechs anderen in einer Reihe, er beobachtet die Exekution der fünf Männer vor ihm und bereitet sich daraufvor zu sterben – erst im letzten Augenblick wird er unerwarteterweise begnadigt. Die Erfahrung verwandelt Pierre, der dann während der letzten dreihundert Seiten des Romans sein Leben begeistert und zweckvoll lebt. Er begibt sich voll in die Beziehung zu anderen, ist sich seiner natürlichen Umgebung voll bewusst, entdeckt eine Aufgabe im Leben, die Bedeutung für ihn hat, und widmet sich ihr.

      Auch Dostojewskij wurde im Alter von neunundzwanzig Jahren vor der Exekution durch ein Erschießungskommando in letzter Minute begnadigt – ein Ereignis, das sein Leben und sein Werk nachhaltig beeinflusste.

      Tolstois Geschichte »Der Tod des Iwan Iljitsch« enthält eine ähnliche Botschaft.15 In Iwan Iljitsch, einem engstirnigen Bürokraten, entwickelt sich eine tödliche Krankheit, wahrscheinlich Darmkrebs, und er erleidet ungewöhnliche Schmerzen. Seine Qual dauert unvermindert an, bis Iwan Iljitsch kurz vor seinem Tode auf eine bestürzende Wahrheit stößt: er stirbt schlimm, weil er schlimm gelebt hat. In den wenigen Tagen, die ihm verbleiben, erfährt Iwan Iljitsch eine dramatische Verwandlung, die mit keinem anderen Begriff beschrieben werden kann als persönliches Wachstum. Wäre Iwan Iljitsch ein Patient, würde jeder Psychotherapeut vor Freude über den Wandel in ihm strahlen: er bezieht sich viel einfühlsamer auf andere; seine chronische Bitterkeit, Arroganz und Selbstverherrlichung verschwinden. Kurz und gut, in den letzten wenigen Tagen seines Lebens erreicht er eine weit höhere Ebene der Integration, als er sie jemals zuvor erreicht hat.

      Dieses Phänomen ereignet sich häufig in der Welt des Klinikers. Beispielsweise deuten Interviews mit sechs von zehn Selbstmordwilligen, die von der Golden Gate Bridge sprangen und überlebten, darauf hin, dass diese sechs als Ergebnis ihres Sprungs in den Tod ihre Ansichten über das Leben verändert hatten.16 Einer berichtete: »Mein Lebenswille hat sich eingestellt … es gibt einen wohlwollenden Gott im Himmel, der alle Dinge im Universum durchdringt.« Ein anderer: »Wir haben alle Anteil an der Göttlichkeit – jenem großen Gott Menschlichkeit.« Ein anderer: »Ich habe jetzt einen starken Lebenswillen … mein ganzes Leben ist wiedergeboren … ich bin aus den alten Pfaden ausgebrochen … ich kann jetzt die Existenz anderer Menschen empfinden.« Ein anderer: »Ich spüre, dass ich Gott jetzt liebe und möchte etwas für andere tun.« Ein weiterer:

      Ich war erfüllt von einer neuen Hoffnung und einem neuen Zweck des Lebens. Es geht über das Verständnis der meisten Menschen hinaus. Ich schätze das Wunder des Lebens – wie wenn ich einen Vogel beim Fliegen beobachte – alles ist bedeutungsvoller, wenn du nahe daran bist, es zu verlieren. Ich erlebte ein Gefühl der Einheit mit allen Dingen und des Eins-Seins mit allen Menschen. Nach meiner psychischen Wiedergeburt habe ich auch Mitgefühl für die Schmerzen von anderen. Alles war klar und hell.

      Es gibt unzählige klinische Beispiele. Abraham Schmitt beschreibt im Detail eine chronisch depressive Patientin, die einen ernsthaften Selbstmordversuch unternahm und durch reinen Zufall überlebte, und er hebt die »vollständige Diskontinuität zwischen den beiden Abschnitten ihres Lebens« hervor – vor und nach ihrem Selbstmordversuch. Schmitt spricht von seinem professionellen Kontakt mit ihr nicht im Sinne einer Therapie, sondern im Sinne einer Dokumentation ihrer drastischen Lebensveränderung. Um sie zu beschreiben, verwenden ihre Freunde das Wort »pulsierend«, was so viel wie »vor Leben und Enthusiasmus sprühend« heißt. Der Therapeut stellt fest, dass sie nach ihrem Selbstmordversuch »in Kontakt mit sich selbst, ihrem Leben und ihrem Ehemann war. Ihr Leben wird nun voll gelebt und erfüllt das Leben vieler anderer. … Innerhalb eines Jahres nach dem Selbstmordversuch und dem Wandel wurde sie schwanger mit dem ersten von mehreren Kindern, die in rascher Folge geboren wurden (sie war lange unfruchtbar gewesen).«17

      Russel Noyes studierte zweihundert Personen, die todesnahe Erfahrungen hatten (Autounfälle, Ertrinken, Abstürze in den Bergen u.a.), und er berichtete, dass eine ansehnliche Zahl (23 Prozent) sogar viele Jahre später beschrieb, dass sie über so etwas verfügten wie ein

       starkes Empfinden für die Kürze des Lebens und seinen Wert … einen größeren Schwung im Leben, eine erhöhte Wahrnehmung der und emotionale Reaktionsfähigkeit


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