Existenzielle Psychotherapie. Irvin D. Yalom
oft sehr einseitig sind. Ein anderer Faktor ist, dass Entwicklungstheoretiker, besonders Jean Piaget, gezeigt haben, dass es sehr jungen Kindern an der Fähigkeit für abstraktes Denken mangelt. Selbst noch im Alter von zehn Jahren ist das Kind in einem Stadium konkreter geistiger Operationen und beginnt gerade, das, was »möglich« ist, in Betracht zu ziehen.9 Da der Tod, der eigene Tod, Sein und Nicht-Sein, Bewusstsein, Endlichkeit, Ewigkeit und die Zukunft abstrakte Begriffe sind, haben viele Entwicklungspsychologen den Schluss gezogen, dass junge Kinder überhaupt keinen genauen Begriff vom Tod haben.
Freuds Standpunkt. Ein weiterer wichtiger Faktor, der die professionellen Ansichten über den Begriff des jungen Kindes vom Tod beeinflusste, war der harte Standpunkt Freuds, der überzeugt war, dass das junge Kind die wahren Implikationen des Todes nicht begreift. Da Freud die sehr frühen Jahre des Lebens als diejenigen betrachtete, die am wirksamsten für die Bildung des Charakters sind, sah er genau aus diesem Grund den Tod als ein unwichtiges Motiv in der psychischen Entwicklung an. Die folgenden Passagen aus Die Traumdeutung vermitteln seine Position:
… dass die Vorstellung des Kindes vom »Totsein« mit der unsrigen das Wort und dann nur noch wenig anderes gemein hat. Das Kind weiß nichts von den Greueln der Verwesung, vom Frieren im kalten Grab, vom Schrecken des endlosen Nichts, das der Erwachsene, wie alle Mythen vom Jenseits zeugen, in seiner Vorstellung so schlecht verträgt. Die Furcht vor dem Tode ist ihm fremd, darum spielt es mit dem grässlichen Wort und droht einem anderen Kind: »Wenn du das noch einmal tust, wirst du sterben, wie der Franz gestorben ist«, wobei es die arme Mutter schaudernd überläuft, die vielleicht nicht daran vergessen kann, dass die größere Hälfte der erdgeborenen Menschen ihr Leben nicht über die Jahre der Kindheit bringt. Noch mit acht Jahren kann das Kind, von einem Gang durch das Naturhistorische Museum heimgekehrt, seiner Mutter sagen: »Mama, ich habe dich so lieb; wenn du einmal stirbst, lasse ich dich ausstopfen und stelle dich hier im Zimmer auf, damit ich dich immer, immer sehen kann!« So wenig gleicht die kindliche Vorstellung vom Gestorbensein der unsrigen. Von einem hochbegabten zehnjährigen Knaben hörte ich nach dem plötzlichen Tode seines Vaters zu meinem Erstaunen folgende Äußerung: Dass der Vater gestorben ist, verstehe ich, aber warum er nicht zum Nachtmahl nach Hause kommt, kann ich mir nicht erklären. Gestorben sein heißt für das Kind, welchem ja überdies die Szenen des Leidens vor dem Tode zu sehen erspart wird, so viel als »fort sein«, die Überlebenden nicht mehr stören. Es unterscheidet nicht, auf welche Art diese Abwesenheit zustande kommt, ob durch Verreisen, Entlassung, Entfremdung oder Tod … Dass das Kind die Abwesenden nicht sehr intensiv vermisst, hat manche Mutter zu ihrem Schmerz erfahren, wenn sie nach mehrwöchentlicher Sommerreise in ihr Haus zurückkehrte und auf ihre Erkundigung hören musste; Die Kinder haben nicht ein einziges Mal nach der Mama gefragt. Wenn sie aber wirklich in jenes »unentdeckte Land« verreist ist, »von des Bezirk kein Wanderer wiederkehrt«, so scheinen die Kinder sie zunächst vergessen zu haben und erst nachträglich beginnen sie, sich an die Tote zu erinnern.10
Danach weiß das Kind sogar im Alter von acht oder neun laut Freuds Ansicht wenig über den Tod (und fürchtet ihn daher auch wenig). Freud wies dem Tod in seinen Formulierungen über die grundlegenden Sorgen des Kindes einen relativ späten Platz in der Entwicklung zu und gab den Sorgen bezüglich der Sexualität eine frühere und primäre Position. Seine Schlussfolgerungen über die Rolle des Todes in der persönlichen Entwicklung waren höchst einflussreich und führten dazu, dass die Frage eine Generation lang vorzeitig ausgeklammert wurde. Es gibt, wie ich im letzten Kapitel ausführte, nicht nur persönliche und theoretische Gründe für Freuds Irrtum, sondern auch methodologische: Er arbeitete niemals direkt mit jungen Kindern.
Erwachsene Voreingenommenheit. Die Voreingenommenheit ist eine andere wichtige Barriere für unser Wissen darüber, was das Kind über den Tod weiß. Ob die Untersuchungen beobachtend, psychometrisch oder projektiv sind, die Daten müssen von einem Erwachsenen gesammelt und interpretiert werden; und die persönliche Angst und Verleugnung des Todes durch diesen Erwachsenen kontaminiert oft die Ergebnisse. Die Erwachsenen sprechen mit Kindern nur widerwillig über den Tod, sie vermeiden das Thema, sie akzeptieren oberflächliche Daten unhinterfragt, weil sie nicht bereit sind, beim Kind weiter nachzufragen, und nehmen die Erfahrung des Kindes in systematischer Weise falsch wahr, und sie täuschen sich auch, wenn sie annehmen, dass das Kind weniger Bewusstheit vom Tod und daher weniger Angst hat, als es tatsächlich der Fall ist.
Eine oft zitierte Forschungsarbeit über die Ängste der Kinder durch Rema Lapouse und Mary Monk veranschaulicht die Bedeutung dieser Voreingenommenheit.11 Die Autorinnen untersuchten eine große Stichprobe (N = 482) normaler Kinder im Alter von sechs bis zwölf mit dem Ziel, die Art und das Ausmaß der Ängste von Kindern festzustellen – aber weil sie das Gefühl hatten, dass es unmöglich wäre, hunderte von Interviews mit Kindern durchzuführen, interviewten sie stattdessen die Mütter! Die Mütter hielten die zwei Angst-Items, die am engsten mit dem Tod in Verbindung standen (»krank werden, einen Unfall haben oder sterben« oder »Sorgen über die Gesundheit«) für am wenigsten bedeutsam: Nur 12 Prozent der Mütter schätzten das erste Item als eine wichtige Sorge ein, und 16 Prozent das zweite. (Im Gegensatz dazu schätzten 44 Prozent »Schlangen« und 38 Prozent »Schulnoten« als wichtige Sorgen ein.)
Die Autorinnen wählten dann eine Unterstichprobe (N = 192) aus und interviewten sowohl die Kinder als auch die Mütter. Die Ergebnisse zeigten, dass die Mütter die Häufigkeit der Ängste der Kinder im allgemeinen unterschätzten. Die zwei auf den Tod bezogenen Items zeigten besonders hohe Diskrepanzen: Bei diesen Items stimmten Mütter und Kinder in ihren Antworten nur in 45 Prozent der Fälle überein: Von den Fehleinschätzungen waren 90 Prozent das Ergebnis der Unterschätzung der Sorgen der Kinder um den Tod durch die Mütter. (Die Mütter unterschätzten im selben Maß auch andere Items, die indirekter mit Tod in Beziehung standen: »Jemand in der Familie wird krank oder stirbt«, »Krankheitserreger«, »Feuer«) Die Ergebnisse legen nahe, dass die Mütter dazu neigen, sich des Grades, in dem ihre Kinder mit dem Tod beschäftigt sind, nicht bewusst zu sein.
Eine andere Studie berichtet von Reaktionen auf den Tod von John F. Kennedy in einem Kinderkrankenhaus.12 Die Forscher merken an, dass hoch ausgebildetes Krankenhauspersonal in unerwarteter Weise unzuverlässig war bei der Beobachtung der Reaktionen von Kindern auf den Tod. Diese Mitglieder des Personals differierten sehr stark, nicht nur in ihren Beobachtungen dieser Reaktionen, sondern auch in ihren Meinungen darüber, wie viele Informationen Kindern gegeben werden sollten und wie sehr man erwarten konnte, dass Kinder starken emotionalen Stress ertragen.
Piaget, der sein ganzes Berufsleben lang mit Kindern gearbeitet hatte, meinte, dass psychologische Tests, auch die von hoch differenzierter Art, häufig unvollständige und irreführende Daten erbringen, und dass die befriedigendste Art der Befragung eine »allgemeine Untersuchung« (oder ein »klinisches Interview«) ist – und die meisten Kliniker würden dem zustimmen. Tiefeninterviews mit Kindern haben in der Literatur jedoch Seltenheitswert. Unser Fürsorgeinstinkt wird geweckt beim Anblick der Jungen fast jedweder Säugetierspezies, angefangen von kleinen Kätzchen, jungen Hunden und Fohlen bis hin zu Menschen. Es ist schwierig, gegen den biologischen Strich zu gehen, ein Kind der nackten Wahrheit über den Tod auszusetzen; und diese Schwierigkeit ist, glaube ich, der Hauptfaktor für die Seltenheit professioneller Untersuchungen. Tatsächlich habe ich ernsthaft Zweifel darüber, ob ein Forschungsprojekt, in dessen Design eine ausdrückliche Befragung kleiner Kinder über den Tod enthalten ist, heute von einem Komitee für sozialwissenschaftliche Humanforschung genehmigt werden würde; zweifellos würde solch ein Projekt auf starken Widerstand der Eltern stoßen.
Folglich sind die Untersuchungen im Allgemeinen indirekt und oft oberflächlich. Es gibt nur wenige Berichte über Untersuchungen, die auf direkten Interviews basieren,13 und die gründlichsten von ihnen sind mehrere Jahrzehnte alt. Maria Nagy und Sylvia Anthony berichteten von Arbeiten, die in den vierziger Jahren durchgeführt wurden. Nagy (die den Kindern in der Schule, wo sie ihre Untersuchungen durchführte, als »Tante Tod« bekannt war) bat Kinder, Bilder über den Tod zu malen, Aufsätze über den Tod zu schreiben und ihre Gedanken über den Tod mündlich zu äußern.14 Anthony fragte nach Definitionen von Wörtern, die mit dem Tod zusammenhängen, und benutzte einen Geschichten-Vervollständigungs-Test.15 1935 legten Paul Schilder und David Wechsler Kindern eine Serie von Bildern