Die permanente Krise. Marc Chesney
wie heute werden alle Opfer gefordert – sogar die Preisgabe der Demokratie–, um die mächtigen Banken gegen ihre selbstverschuldeten Risiken abzusichern und um sie am Leben zu erhalten. Die Fortsetzung der eingangs zitierten Passage aus dem Roman Die Thibaults behält heute leider nach wie vor ihre Schärfe:
«Nie zuvor haben die Machthaber den Verstand in so harte Fesseln gelegt …»27
Die Macht und die Lobbys der Finanzoligarchie
Die Prinzipien der Demokratie werden zurzeit insbesondere im Bereich der Wirtschaft mit Füßen getreten. Unabhängig von den Wahlergebnissen ist nur eine Politik maßgeblich: die der Finanzoligarchie. Diese ist dermaßen von der Überlegenheit und Vorrangstellung ihrer Interessen vor denen der Wirtschaft und Gesellschaft überzeugt, dass sie sie nicht einmal mehr diskutiert. Ihre Lobbyisten präsentieren dabei die Interessen des Finanzsektors als Interessen der Gesellschaft und Wirtschaft. Aber das ist noch nicht das Schlimmste: Die Mehrheit unserer Politiker ist davon ebenfalls überzeugt oder tut jedenfalls so!
Die Finanzkaste schöpft astronomische Summen aus der Realwirtschaft ab. Im Rahmen der Kasino-Finanzwirtschaft, die jeglicher selbstreklamierter Unternehmerlogik widerspricht, zirkulieren die Gelder immer schneller, mit zweifelhaften Wetten auf den Zahlungsausfall oder Konkurs von Unternehmen, Banken oder Staaten. So werden die klassischen, der Wirtschaft immanenten Finanzgeschäfte in den Hintergrund gedrängt. Charakteristisch für diese Wetten ist, dass sie häufig unter Abwälzung der Risiken auf den Rest der Gesellschaft erfolgen. Manche Finanzinstitute, die als «too big to fail» bezeichnet werden, haben es nämlich geschafft, eine kritische Größe und einen gewissen Vernetzungsgrad im Wirtschafts- und Finanzgefüge zu erreichen; bei diesen Finanzinstituten ist es der Staat und letztendlich der Steuerzahler, die Rentnerin, die Kundin und der Arbeitslose, der oder die für die Risiken aufkommen und im Verlustfall die Zeche zahlen. Diese finanzdurchdrungene Wirtschaft schwächt und erpresst in großem Umfang unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Gefüge.
Aber was machen die politisch Verantwortlichen weltweit eigentlich, um Abhilfe zu schaffen und gegen die Kasino-Finanzwirtschaft anzugehen? Sie treffen sich, und zwar oft! Das beruhigt uns ungemein. Der Reigen ihrer Sitzungen grenzt ans Lächerliche, und sie haben die wesentlichen Probleme nicht gelöst. Das Schauspiel, das Europas politische Führungsriege dabei bietet, ist freilich sorgfältig durchdacht: Roter Teppich wie beim Filmfestival von Cannes, öffentliche Erklärungen, gefolgt von Verhandlungen, Gruppenfotos, Pressekonferenzen und Eigenlob – und doch ist es niederschmetternd.
Der österreichische Schriftsteller Karl Kraus spricht im Vorwort von Die letzten Tage der Menschheit, einem Werk mit Bezug auf den Ersten Weltkrieg, von «den Jahren, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschen spielten».28 Ein Jahrhundert später hat dieser Satz immer noch seine volle Gültigkeit. Diese Figuren, dazu bestellt, die Autorität des Staates zu verkörpern, wirken häufig desorientiert. Sie erwecken den Eindruck, völlig im Dunkeln zu tappen. Sie haben zwar das Anliegen, die Finanzmärkte zu beruhigen, erreichen dieses Ziel aber jeweils nur für kurze Zeit. Ihre Lösungen sind kurzlebig, weil sie ein aussichtsloses Ziel verfolgen. Der Neoliberalismus ist eine neue Religion, die Opfer auf dem Altar der Kasino-Finanzwirtschaft fordert. Der Versuch, die Finanzmärkte zu beruhigen, erweist sich als gefährlich und illusorisch.
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