Lockvogel. Therese Kersten
zum koketten Zwinkern zugedrücktes Auge. Ihre spindeldürren, abgespreizten Finger. Ihre nackten, prallen Dinger mit den abspringenden Warzen, die dir sofort im Profil entgegenhüpfen wie eine dieser Jumping-Jack-Springfiguren. Hüftabwärts endet der Körper, sitzt auf einem grauen Schildchen mit dem Namen der Site. Das alles wie die Momentaufnahme eines Comicstrips. So, als wäre alles, was dahinter, alles, wofür die Zeichnung steht, diese Verballhornung aus Comic und Strip, gar nicht ernst gemeint.
Ich starre auf diese … ja, was? Ikone? Sie verschwimmt mir vor Augen, den äußeren, und räumt den Blick frei für die inneren. Bilder wehen heran. Lachhafte zwei Wochen und ein paar Tage alte Bilder, als das alles begonnen hat. Es.
Ich sehe mich auf dem Bett liegen, im ersten Stockwerk des Hauses meines Vaters. Unschlüssig, was zu tun ist. Wohin mich das Leben treibt. Wohin ich das Leben treibe. Je nachdem. Sehe die Jahre vorüberfliegen. Zwei, drei Jahre wie im Turbowaschgang. Erst die Jahre der absoluten Strenge. Dann der Entschluss: Ich will Polizistin werden.
Die Ausbildung? In Berlin.
Wow. Berlin. Zwei Jahre wie eine einzige große Explosion. Erst gar nichts. Dann alles. Das pralle Leben. Berlin empfängt mich mit offenen Armen. Was vorher strikt untersagt war, ist jetzt Programm. Geradezu Pflicht. Die Nächte in den Clubs. Mit 16 überall reinkommen, wo es nicht erlaubt ist. Weil so ein Polizeiausweis entscheidend hilft. Auch wenn du noch in der Ausbildung bist. Die vielen Clubs. Die vielen Stands im Gefolge. Fast ausnahmslos One Night. Fast ausnahmslos bedeutend ältere Männer. Ist es, weil mir ein Vater gefehlt hat über die Jahre? Ich weiß es nicht. Bloß, dass keiner von ihnen mir je etwas bedeutet hat. Nicht über den Moment hinaus.
Und dann, irgendwann, der Entschluss, die Polizeiausbildung sein zu lassen. Weil die Bilder des Ausblicks in mir übermächtig werden. Weil ich wieder diesen Alptraum vor Augen habe. Mich selbst. Mit fünfzig. Als Polizeimeisterin, was weiß denn ich. Und den immer selben Job. In der immer selben, biederen Kleinstadt mit seinen immer selben, gezirkelten Vorgärten und den immer selben, identen Fassaden. Wo immer. Wie immer. Aber auf jeden Fall: Ende Gelände.
All das sehe ich, während mir die Zeit erbarmungslos zwischen den Fingern zerläuft und ich die Minuten herunterzähle.
Tack. Tack. Tack.
Wieder Bilder von vor zwei Wochen. Zweieinhalb vielleicht. Ich sehe mich am Fenster meines Wohnzimmers stehen. Sitzen. Eine um die andere rauchend. Ich sehe das Gesicht meines Vaters. Die Enttäuschung, die darin geschrieben steht, weil ich die Ausbildung habe sausen lassen. Zugleich aber auch den Hoffnungsschimmer, weil ich wenigstens weitermache. In der Wirtschaftsschule, wo sie mich auch mitten im Schuljahr haben einsteigen lassen. Wegen meiner ansprechenden Noten zuvor.
Ich sehe Berlin. Das kunterbunte Leben, das ich dort zwei fantastische Jahre lang habe führen dürfen. Mein Dasein als Single mit Anschluss. Sehe sie schemenhaft herauftauchen, meine Affären für eine Nacht. Viele von ihnen so bedauernswert, dass sie … ja, dass sie wenigstens dafür hätten bezahlen sollen. Müssen.
Ich sitze auf meinem Stuhl, blicke hinab auf mein brandneues Google-Handy, auf den knallorangen Balken der Startseite, sehe ihn vor meinen Augen fortwummern und sehe stattdessen mich. Sehe mich mit dem Fahrrad fahren. Nachhause vom Unterricht. Hinein in die Vorboten des Frühlings. Sehe die grelle, bunte Vielfalt, die ringsum erwacht. Die sprießenden Gräser und Blumen. Höre das muntere Gezwitscher der Vögel. Ein Erwachen überall, wohin die Sinne nur reichen.
Doch ich weiß, es ist ein Erwachen ohne mich.
Berlin. Ja. Das war das prall gefüllte Leben. Eines mit vielen Menschen. Mit Trubel an jeder Ecke. Mit der Spree, an der ich so gerne spazieren gegangen bin. Ein Leben mit vibrierender Großstadtluft. Und auch eines mit Sex. Viel Sex.
Und jetzt? Würde eine Beziehung etwas daran ändern? Würde sie Farbe in mein Grau bringen? Wenigstens dem Sex will ich nicht mir nix dir nix entsagen. Hallo? Ich bin 19. Und ich liebe das Leben. Aber hier? In der Kleinstadt? Und vor allem, ohne mich gleich fix binden zu müssen. Weil mir genau danach so gar nicht der Sinn steht. Keine zwei Monate, sage ich mir, und du bist das Gesprächsthema. Im Supermarkt an der Ecke. Von Gartenzaun zu Gartenzaun.
Zwangsläufig. Im doppelten Sinne.
Und den amtlichen Stempel, eine verfluchte Schlampe zu sein, kriegst du gratis obendrein. Während es bei Männern zumeist auch noch ein anerkennendes Schulterklopfen gibt. Nein, Therese. Das ist unzumutbar. Das willst du dir nicht antun. Dir nicht. Und deinem Vater zweimal nicht.
Also raus hier. Nichts wie weg.
Eine unduldsame Hast überfällt mich. Die letzten Meter bis zum Haus strample ich bei vollem Tempo. Runter vom Fahrrad. Ein fahriges Kramen in der Tasche nach dem Schlüssel. Rein. Die Stufen empor in die Wohnung. Eine Zigarette am Fenster. Eine zweite. Noch eine. Das beruhigt. Aber nur für den Augenblick. Danach rastloses Hin- und Herwälzen auf dem Bett. Dann: den Laptop aufklappen. Ordination Dr. Google. Und da stehen sie vor mir in der Suchleiste, diese beiden Begriffe:
Suche Sex.
Mehr als eine Million Seiten sind die Antwort. Und sie alle haben eines gemeinsam: Überall wird Sex gegen Geld angeboten. Bist du völlig verrückt geworden, Therese? Ich schlage den Laptop zu. Die Vorstellung, es mit einem wildfremden Mann zu tun, Sex gegen Geld zu haben, schnürt mir den Hals zusammen. Brechreiz kommt auf. Und mit ihm flattern sie alle heran, die Klassifikationen: Prostituierte. Hure. Nutte. Drecksschlampe.
Am Folgetag das gleiche Prozedere. Schon in der Schule packt mich eine kaum zu bezähmende Unrast. Abermals fliege ich auf dem Rad nachhause. Abermals die Stufen empor. Der Laptop liegt noch auf dem Bett. Wonach soll ich suchen? Ohne mich gleich in dieses Eck zu stellen?
Mit Sex Geld verdienen.
Ist das denn um einen Deut besser? Escort, denke ich laut, als ich auf den Begriff stoße, der mir bis dahin ein Fremdwort gewesen ist. Und auch jetzt, beim ersten Hinschauen, ein Buch mit tausend Siegeln ist.
Escort? Es handelt sich um Begleitagenturen, die Frauen und Männer für eine bestimmte Zeit gegen Geld vermitteln, lese ich. Also doch wieder Prostitution.
Abermals befällt mich Übelkeit. Nein, damit will ich mich nicht abfinden. Nicht mit dieser Bezeichnung. Ist es nicht gleichgültig, ob man Geld dafür bekommt oder nicht? Auf eine gewisse Weise? Schläfst du als Frau mit mehreren Männern innerhalb von kurzer Zeit, bist du ohnedies die Hure. Gehst du fremd, als Frau, bist du die Hure. Verlässt du einen Partner wegen eines anderen, bist du die Hure. Lehnst du einen ab, der dir nicht zu Gesicht steht, bist du es auch. Die Hure. Warum immer. Die Verwendung des Wortes ist inflationär, sage ich mir, und die Möglichkeiten, es über jemand nach Lust und Laune auszugießen, endlos. Eine innere Stimme sagt mir, dass das Blödsinn ist. Doch eine zweite, stärkere, sagt mir, dass es sich genau so verhält.
Warum also nicht gleich gegen Geld?
Dutzende, Aberdutzende Seiten besuche ich, studiere Agenturen, arbeite die Unterschiede heraus. Wäge Preise gegeneinander ab. Durchforste Foren. Erfahrungsberichte. Von Frauen wie Männern gleichermaßen. Ohne mir dessen überhaupt bewusst zu sein, kippe ich jählings in die Thematik. Bis der Kopf raucht.
Ein Bad muss her. Ehe ich ins dampfende Wasser gleite, glüht mein Körper bereits. Den Kopf im Nacken, fliegen mir die Gedanken zur Decke empor. Sie sind nicht frei. Sie sind gefangen von alledem, was ich gesehen habe. Von Eindrücken. Mutmaßungen. Hochtrabend und niederschmetternd zugleich.
Therese, was geht in dir vor? Dann wieder: Ist bezahlter Sex so grundlegend anders als unbezahlter? Kannst du das überhaupt? Kann dir etwas zustoßen?
Die Zeit in Berlin stieg in meiner Erinnerung hoch. Die vielen Stands. Wenigstens einige, in der Rückbeschau, ziemlich entbehrlich. Weil die Männer entweder grottenschlecht im Bett waren. Oder weil es so schnell ging, dass ich beim besten Willen nicht mehr beurteilen kann, ob sie nun gut waren oder nicht. Oder hätten gut sein können. Unter besseren Umständen. Und bei wieder anderen, denke ich, wäre es in der Tat besser gewesen, wenn sie wenigstens … ja, wenn sie wenigstens dafür bezahlt hätten.
Ich blicke auf mein Google-Handy und sehe mich aus der Wanne steigen an diesem Abend.