Status Österreich. Paul Eiselsberg
jeher sind wir Menschen dem Wandel unterworfen. Sei es beispielsweise die agrarische Revolution, als wir sesshaft wurden, seien es die Umwälzungen der industriellen Revolutionen. Jede dieser Epochen, aber auch die vielen Zeitalter dazwischen, brachten deutliche Veränderungen mit sich, hatten auch ihre ganz eigenen Herausforderungen, denen die Menschheit sich zu stellen, die sie zu meistern hatte – an denen sie wuchs und meist auch vorankam.
Ob in der Steinzeit, in der Antike, im Mittelalter oder heute, in der Moderne. Veränderte globale Rahmenbedingungen haben immer schon Anpassung bedeutet. Sich neu ausrichten im Leben. Und es scheint, als würden gerade die vergangenen Jahrzehnte, insbesondere aber die allerletzten Jahre, wie ein Teilchenbeschleuniger auf unsere Existenz einwirken. Wir schießen nur so durchs Leben in dieser immer noch rasanteren, noch komplexeren Welt. Eine Welt, die deshalb von vielen aber auch als zunehmend unsicher empfunden wird.
Für uns Meinungsforscher sind das ungemein spannende, aber auch ungemein fordernde Zeiten. Denn es gilt zu erforschen, in welchem Takt das Herz der Bevölkerung schlägt. Fragen wie diese beschäftigen uns daher: Wohin schlägt das Stimmungsbarometer der Österreicher heute, anno 2018, aus? Wenn die Menschen sich tatsächlich unsicher fühlen, woran liegt das? Wissen wir – egal, ob in der Politik, in der Wirtschaft oder auch in eigenen, privaten Belangen – überhaupt noch, was richtig oder falsch ist? Hat der Kompass unserer ganz persönlichen Orientierung seine Wirkung verloren? Wer ist davon wie stark betroffen?
Genau diesen Fragen wollen wir uns gleich ganz zu Beginn dieses Buches widmen.
Jeder Fünfte im Land klagt über eine generelle Orientierungslosigkeit, weiß nicht, was in der Politik, der Wirtschaft und in allgemeinen Lebensfragen richtig ist und was nicht. Weiteren 4 von 10 Österreichern ergeht es ähnlich, wenngleich in etwas abgeschwächter Form. Dennoch: Im Vergleich zu jenen, die einen fehlenden Halt in den Lebensfragen so gar nicht oder kaum ausmachen wollen, ist es eine absolute Mehrheit. Denn 6 von 10 Menschen sagen: Ja, wir haben die Orientierung verloren. Die Kompassnadel unseres Lebens schlägt auf eine Weise aus, dass wir nicht mehr so richtig sagen können, wo es langgeht, wohin uns das Leben noch führt – und wie wir damit umgehen, wie wir noch Leitlinien ausmachen sollen, an denen wir die dringlichen Fragen des Zusammenlebens in der Gesellschaft lösen können.
Betrachten wir die Ergebnisse nun durch die Lupe gesellschaftlicher Schichten. Die Männer empfinden diese Orientierungslosigkeit ganz ähnlich wie die Frauen. Den Jungen ergeht es ganz ähnlich wie den Alten. Einzig dort, wo die Bildung höher ist als im Schnitt, wissen Herr und Frau Österreicher etwas mehr mit dem komplexen Leben anzufangen, zeigen sich also etwas orientierter. Doch selbst in dieser höherstehenden Schicht ist es nicht so, dass jeder felsenfest mit beiden Beinen im Leben steht – das Maß der Orientierungslosigkeit ist nur nicht so voll wie bei den anderen.
Wie, haben wir IMAS-Forscher erst uns selbst und später auch die repräsentative Bevölkerung gefragt, sah es damit in der jüngeren Vergangenheit aus? Sagen wir, vor zehn Jahren? Vor allem in puncto Sicherheitsgefühl? War das damals auch schon so wie heute?
Auch hier liefern uns die Menschen der Alpenrepublik sehr klare Aussagen. Ja, sagt beinahe jeder Zweite (46 Prozent), in ganz persönlichen Lebenslagen empfinde ich weit weniger Sicherheit als noch vor zehn Jahren. Nur jeder Dritte (34 Prozent) vermeint keinerlei Veränderung zu verspüren, und nur rund jeder Achte nimmt für sich in Anspruch, sich heute sicherer zu fühlen als noch im Jahr 2008.
Auffällig dabei: Frauen, ältere Menschen über sechzig und jene mit einfacherer Schulbildung scheinen ihre Sicherheit überproportional stark verloren zu haben. Der Schluss, der sich daraus ziehen lässt: Wenn bereits die Hälfte der Bevölkerung allein den vergangenen rund zehn Jahren einen Verlust an Sicherheit attestiert, so dürfte dieses Gefühl im Verhältnis eines noch längeren Zeitraumes entsprechend steigen, das Unsicherheitsempfinden also im Vergleich zu vor zwanzig oder dreißig Jahren noch deutlicher ausgeprägt sein.
Und wie sieht es mit der gesamten Bevölkerung aus der Sicht des Einzelnen aus? Wie ergeht es also den anderen?
Die Zahlen der Erhebungen sind nicht minder eindeutig: Denke ich an die anderen, an alle Österreicher zusammen, so bin ich davon überzeugt, dass sie sich in persönlichen Lebenslagen unsicherer fühlen als noch vor zehn oder vielleicht zwanzig Jahren. 6 von 10 Menschen (58 Prozent) empfinden das genauso.
Besonders stark ausgeprägt ist dieses Empfinden bei den älteren Menschen, der Generation über sechzig. Nur rund jeder Vierte in Österreich meint hingegen: Nein, es ist wie immer. Wir fühlen uns nicht unsicherer als damals. Und überhaupt nur jeder Zehnte gab an, dass sich die Bevölkerung im Allgemeinen heute sicherer fühlen würde als früher.
Weniger Orientierung und mehr Unsicherheit. Damit geht also – empirisch unterlegt – der Wandel der österreichischen Gesellschaft zurzeit einher.
Also wollten wir es naturgemäß genauer wissen und gingen in die Tiefe. Dafür legten wir den eintausend Personen aller Altersgruppen und sozialen Schichten fünf Begriffspaare vor. Gegensatzpaare wie positiv/negativ, sicher/unsicher oder auch langsam/schnell. An ihnen, baten wir, sollten sie den Wandel in Österreich festmachen, indem sie auf einer siebenstelligen Skala Noten vergaben.
Sofort zu erkennen ist, dass das Tempo, mit dem der gesellschaftliche Wandel in den Augen der Bevölkerung voranschreitet, hoch ist. Sehr hoch. Im Vergleich zu den anderen vier Kategorien ergab sich hier mit der Durchschnittsnote 4, 9 der größte Wert.
Überrascht hat uns dieser Befund allerdings nicht – denn schon bei Untersuchungen in den vergangenen Jahren konnten wir das gleiche Bild erkennen.
Das Fazit daraus: Die Menschen empfinden eine starke Diskrepanz zwischen der gefühlten Geschwindigkeit des Wandels und jener, die sie gerne hätten. Das Tempo ist den meisten einfach zu hoch. Im Verhältnis 59 zu 12 überwiegt der Eindruck einer schnellen und nicht langsamen Welt.
Wer nun vermutet, das hätte vor allem mit zunehmendem Alter zu tun, geht fehl. Ohne die Studien zu kennen, würde man verständlicherweise davon ausgehen, dass die Jungen mit der Rasanz der gesellschaftlichen Entwicklung wesentlich entspannter oder professioneller oder wie immer umzugehen wüssten. Schließlich sind sie es, die damit aufgewachsen sind, die also eine andere Art von Leben gar nicht kennen.
Und doch zeigt sich: Wir alle, ob zwanzig oder siebzig, sehnen uns nach Entschleunigung. Die Bewusstseinsbilder im Bereich des aktuellen Gesellschaftswandels sind also querbeet durch alle Altersschichten ident. Es gibt kein Gefälle, wie man vielleicht vermuten könnte.
Auch bei dem Begriffspaar sicher/unsicher ergibt sich ein deutlicher und wenig überraschender Befund. Er bestätigt letztlich nur, was wir bereits bei der generell attestierten Orientierungslosigkeit und dem Gefühl wachsender Unsicherheit gehört haben. Nur jeder Vierte (27 Prozent) sagte hier, sich auf der sicheren Seite zu sehen. Im Verhältnis 51 zu 27 überwiegt die Unsicherheit gegenüber der Sicherheit.
Spannend ist natürlich auch die Frage, wie komplex wir Österreicher die Welt um uns herum empfinden. Überfrachtet sie uns zur Gänze? Oder ist alles ohnehin ganz einfach?
Die Grafik zur Grundstimmung zum Wandel zeigt es an: Die Komplexität überwiegt im Verhältnis 44 zu 26. Allerdings muss hier festgehalten werden, dass beinahe ein Drittel der Menschen (31 Prozent) sich nicht so recht im Klaren darüber ist, wohin das Pendel des persönlichen Empfindens ausschlägt. Komplex oder doch eher in Richtung simpel? Ein Viertel wiederum sagt, alles in allem ist der Wandel der Gesellschaft relativ einfach. Besonders stark empfinden erwartungsgemäß ältere Menschen die Komplexität der Veränderung. Und auch jene, die höchste Bildungsabschlüsse aufweisen.
Doch wohin geht dieser Wandel? In welche Richtung, oder anders gefragt: auf welcher Ebene spielt er sich ab? National oder eher international?
Bei