Reflexionen zum Auftrag pädagogischer Hochschulen. Heinz Rhyn
bestimmbar.
Vor diesem Hintergrund verfolgt der folgende Text zwei Ziele: Erstens soll die Reform der Lehrerinnen- und Lehrerbildung der letzten 20 Jahre in einem längeren Zeithorizont verortet, zweitens die Berner Reform im gesamtschweizerischen Reformkontext situiert werden. Der erste Teil gibt deshalb einen kurzen Überblick über die lange Geschichte der Lehrerinnen- und Lehrerbildung und ihre hauptsächlichen institutionellen Formen. Die wenigen grundlegenden Lehrerbildungskonzeptionen des 19. und 20. Jahrhunderts werden kurz nachgezeichnet, um anschließend verdeutlichen zu können, was sich in der Reform der letzten 20 Jahre verändert hat. Im zweiten Teil wird aufgezeigt, wie die Berner Lehrerinnen- und Lehrerbildung in den 1990er- und 2000er-Jahren revidiert wurde. In diesem Hauptteil werden zwei Thesen vertreten: erstens, dass die erste Berner Reform im interkantonalen Vergleich sehr früh eingeleitet wurde, sodass sich die gesamtschweizerischen Entwicklungen noch kaum auf diese erste Reform auswirken konnten – und u. a. deshalb eine zweite Reform notwendig wurde. Zweitens wird die These vertreten, dass die Reformen zunächst nach traditionellen Reformvorstellungen und mit den üblichen kantonalen Reformkonzepten eingeleitet worden waren, obwohl sich abzeichnete, dass sich Ziele und Inhalte der Lehrerinnen- und Lehrerbildung mit der gesamtschweizerischen Diplomanerkennung nicht mehr einfach kantonal autonom regeln ließen: Während der Reform hatten sich die «Spielregeln» im bildungspolitischen Mehrebenensystem verändert. Abschließend wird in einigen wenigen Federstrichen zu zeigen versucht, was sich aus der (Berner) Lehrerbildungsreform für Bildungsreformen allgemein lernen lässt.
2.2Kurze Geschichte der Vorgeschichte der Reform
Lehrerinnen- und Lehrerbildung bedeutete bis in die 1990er-Jahre im Kanton Bern – wie in vielen andern Kantonen auch – vor allem: Ausbildung in Lehrerseminaren. Zwar verfügte der Kanton Bern seit den 1860er-Jahren über universitäre Studiengänge zunächst für Lehrer, dann auch für Lehrerinnen der Sekundarschulen und der Gymnasien (Messerli 2002; Criblez & Späni 2002). Diese Ausbildungskonzeptionen waren im 19. Jahrhundert fast ausschließlich auf das Schulfach bzw. die akademische Disziplin (was gleichgesetzt wurde) hin orientiert. In einem sehr langen Entwicklungsprozess wurde das Ausbildungsprogramm zunächst mit erziehungswissenschaftlichen Anteilen (Pädagogik, Psychologie), anschließend mit fachdidaktischen und berufspraktischen Elementen ergänzt. Diese universitäre Lehrerinnen- und Lehrerbildung wurde in Bern zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einem Studiengang für Handelslehrerinnen und Handelslehrer (Honegger et al. 2007) sowie 1968 mit einem solchen für Turn- und Sportlehrerpersonen (Criblez 1995, S. 258) ergänzt.
Im Bewusstsein der Bildungspolitik und in der Wahrnehmung der breiteren Bevölkerung war die Lehrerinnen- und Lehrerbildung aber wesentlich mit dem seminaristischen Konzept verbunden. Dieses Konzept lag nicht nur dem staatlichen Lehrerseminar, gegründet 1833 in Münchenbuchsee (Martig 1883; Criblez 2002), zugrunde, sondern – nach bescheidenen Anfängen in einem Pfarrerhaushalt – auch dem Lehrerinnenseminar (Schraner 1938). Denn der Kanton Bern gehörte zu den wenigen Kantonen, die sich schon früh auch um die Ausbildung der Lehrerinnen bemüht hatte (Crotti 2005).6 Das Konzept wurde auch vom städtischen Lehrerinnenseminar7 übernommen (Rothen 1936), später auch von den privaten Trägern (Muristalden und Neue Mädchenschule; vgl. Morgenthaler 1976; Staub 1979) und für die dezentralen Neugründungen der 1960er- und 1970er-Jahre in Biel, Spiez und Langenthal8. Und auch die Ausbildung von Kindergärtnerinnen, von Arbeitslehrerinnen (Schraner 1938) und von Hauswirtschaftslehrerinnen (Ryser 1997) erfolgte bis zur Reform der 1990er-Jahre in seminaristischer Form (Criblez 2000, 2002), wenn sich diese Konzeptionen teilweise auch von derjenigen des «klassischen» Seminars unterschieden.
Diese beiden Lehrerbildungskonzepte – das seminaristische9 und das universitäre – gerieten zwar immer wieder aus unterschiedlichen Gründen in die Kritik und wurden auch immer wieder Reformen unterzogen, blieben in ihren Grundkonzeptionen aber weitgehend unbestritten und klar voneinander getrennt. Kooperationen waren äußerst selten, dies nicht zuletzt, weil die universitären Studiengänge klar dem tertiären Bildungsbereich angehörten, die Seminare aber der Sekundarstufe II.10 Der wichtigste Zusammenhang bestand darin, dass Primarlehrerinnen und Primarlehrer zum Studium am Sekundarlehramt der Universität Bern zugelassen waren (Messerli 2002).
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte allerdings eine lange Phase großen Personalmangels in den Schulen begonnen, der sich im Zuge des anhaltenden Wirtschaftswachstums in den 1960er-Jahren stark zuspitzte (Criblez 2016/im Druck). Um mehr Lehrerinnen und Lehrer auf allen Schulstufen ausbilden zu können, wurde eine ganze Reihe von Maßnahmen realisiert – etwa die Neugründung von dezentralen Seminaren für Primarlehrerinnen und Primarlehrer in Langenthal (1963), Biel (1963) und Spiez (1972) oder die Eröffnung von Kindergärtnerinnenseminaren in Spiez und Biel (1971). Eine andere Maßnahme ist für das Verständnis des Strukturwandels aber bedeutsamer: Bereits 1948 fanden im städtischen Lehrerinnenseminar Marzili erstmals einjährige Sonderkurse – auch «Schnellbleichen» genannt – zur Erlangung des Lehrdiploms für Maturandinnen statt (Criblez 2016/im Druck). Jungen Frauen wurde großes Potenzial für den Lehrberuf zugesprochen, später wurde die stärkere Förderung von Mädchen und jungen Frauen in der höheren Bildung generell als wichtige Maßnahme gegen den allgemeinen Nachwuchsmangel angesehen (Criblez 2001). Zudem begann 1953 am Oberseminar in Bern der erste zweijährige «Umschulungskurs» für Berufsleute. Diese Kurse wurden anschließend bis in die 1970er-Jahre an verschiedenen Lehrerbildungsinstitutionen des Kantons Bern angeboten, um die Anzahl ausgebildeter Lehrerinnen und Lehrer maßgeblich zu erhöhen. Beide Ausbildungsformen setzten eine abgeschlossene Ausbildung auf der Sekundarstufe II voraus – entweder eine gymnasiale Matur oder den Abschluss einer Berufslehre mit entsprechender Berufserfahrung. Diese neuen Ausbildungsmöglichkeiten waren – bildungssystematisch gesehen – also tertiäre Ausbildungsgänge.
Die Kurse für Maturae und Maturi folgten einem Lehrerbildungskonzept, das zwischen dem universitären und dem seminaristischen Konzept angesiedelt war. Der Kanton Basel-Stadt hatte bereits 1892 mit den sogenannten «Fachkursen» in der Schweiz erstmalig ein solches maturitätsgebundenes Lehrerbildungskonzept realisiert. Die Allgemeinbildung der Sekundarstufe II und die berufliche Ausbildung für den Lehrberuf sollten klar getrennt werden und in unterschiedlichen Institutionen stattfinden. Durch die Ausbildung der zukünftigen Lehrer (zunächst nur der Lehrer, nicht der Lehrerinnen!) gemeinsam mit andern zukünftigen Akademikern am Gymnasium sollte der Lehrer «in seiner zukünftigen Lebensstellung eine seines Standes würdige Stufe» einnehmen können (Kinkelin 1890, S. 8). Lehrer sollten als künftige Volksbildner wissenschaftlich denken lernen. Obwohl die Basler glaubten, dass ihr neues Lehrerbildungskonzept «nicht ohne Nachfolge» bleiben würde, wurden ähnliche, tertiäre Lehrerbildungskonzeptionen erst wesentlich später realisiert. Der Kanton Zürich stellte seine Lehrerinnen- und Lehrerbildung mit dem Lehrerbildungsgesetz von 1938 darauf um (Schmid 1982). Der Kanton Genf ging noch einen Schritt weiter, indem er bereits in den 1930er-Jahren das theoretische Ausbildungsjahr seiner tertiarisierten Lehrerinnen- und Lehrerbildung durch die Universität organisieren ließ (Hofstetter 2011). In den 1960er- und 1970er-Jahren folgten dann insbesondere auch die Kantone Basel-Landschaft (Schläpfer 1973) und Aargau (Metz 2000, 2001) dem Basler und Zürcher Vorbild.
Mit dem maturitätsgebundenen Konzept wurden wesentliche Merkmale der seminaristischen Lehrerinnen- und Lehrerbildung, u. a. die enge Verbindung von Allgemeinbildung und Berufsbildung, aber auch die Idee, dass Lehrerinnen und Lehrer am besten in einer mehrjährigen Ausbildung während der noch formbaren Jahre zwischen 16 und 20 Jahren ausgebildet werden sollen, zur Disposition gestellt. Gleichzeitig setzten sich hochschulförmige Ausbildungskonzepte neben der Lehrerinnen- und Lehrerbildung für die Gymnasien und die Sekundarschulen kaum durch. Zwar wurden die Diskussionen über die Integration der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in die Universitäten in andern Ländern in den 1970er-Jahren durchaus wahrgenommen; aber schon die Bestrebungen der EDK, die Kantone im Rahmen des Projekts «Lehrerbildung von morgen» auf ein tertiäres, nicht-universitäres Modell der Lehrerinnen- und Lehrerbildung zu verpflichten, scheiterten (Müller et al. 1975).
Der Tertiarisierungsprozess in der Schweizer Lehrerinnen- und Lehrerbildung war im Kontext der Bildungsexpansion also fortgesetzt worden, die maturitätsgebundene