Schonen schadet. Andreas Müller
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Andreas Müller
Schonen schadet
Wie wir heute unsere Kinder verziehen
ISBN Print: 978-3-0355-1339-4
ISBN E-Book: 978-3-0355-1460-5
Layout, Satz, Grafiken und Illustrationen: bilderbeck.ch, Roland Noirjean
2. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© 2018 hep verlag ag, Bern
Inhalt
Schonen schadet. Oder: Entwicklung braucht Herausforderung.
Generation Kartoffelsack. Oder: Bewegungsarmut macht krank.
Der Schulsack. Oder: Blamiere dich täglich.
Der Kassenkampf. Oder: Macht korrumpiert.
Generation Schneeflocke. Oder: Stress, lass nach.
Das Frosch-Prinzip. Oder: Rückkehr der Erziehung.
Schonen schadet. Oder: Entwicklung braucht Herausforderung.
Life is no sugarlicking. Im Gegenteil: Das Leben ist beschwerlich – sogar wenn man nichts tut. Selbst bei vollständiger Ruhe im Tiefschlaf benötigt der Organismus eine beträchtliche Energiemenge. Und bewegungslos liegend den Tag verbringen, das tut ja kaum jemand. Ab und zu muss man aufstehen. Und sei es auch nur, um etwas zu essen oder um pinkeln zu gehen.
Natürlich, liegen bleiben wäre wohliger, bequemer. Aber zu Ende gedacht? Liegen bleiben, nichts essen und nicht einmal pinkeln gehen – das ginge buchstäblich in die Hose. Und sich vorzustellen, wie das endet, na ja, das ist keine Sinnesfreude.
Kurz: Wer etwas will vom Leben, muss gelegentlich aufstehen. Allerdings: Etwas tun, eben beispielsweise aufstehen, ist anstrengender als nichts tun. Das gilt nicht minder für das innere, das gedankliche Aufstehen. Auch das geht nicht von selbst. Wer sich also weder körperlich noch geistig den Würmern ausliefern will, ist herausgefordert. Diese Herausforderungen steigen parallel zu den Ansprüchen – körperlich und geistig. Das heisst: Wer nicht daherkommen will wie ein Kartoffelsack, muss eine Leistung dafür erbringen. Sich bewegen beispielsweise.
Und wer seine geistigen Fähigkeiten nicht in den medialen Seichtgebieten versumpfen lassen will, muss etwas tun dagegen. Denken beispielsweise. Allerdings: «Denken ist die schwerste Arbeit, die es gibt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sich so wenige Leute damit beschäftigen.» Das stammt von Henry Ford. Der gleiche Henry Ford, der auch zu bedenken gegeben hat: «Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist.» Das ist ein Appell, ein Aufruf, etwas zu machen aus sich, sich weiterzuentwickeln, aufzustehen gleichsam, immer und immer wieder.
Aufstehen, etwas tun und sich womöglich noch anstrengen, das sind zwar Begriffe, die zum Zeitgeist in Widerspruch stehen. Aber Zeitgeist oder nicht: Menschliche Entwicklung, körperlich, geistig, emotional, ist das Ergebnis eines aktiv gestalteten Aufenthalts ausserhalb der Komfortzone. Die Komfortzone umreisst den menschlichen Wohlfühlbereich. Es ist der Schonraum, in dem sich Bekanntes und Bequemes die Hand reichen. Es ist jener Ort, an dem mich nicht viel Neues erwartet (zum Beispiel der Liegeplatz vor dem Bildschirm), es sind Situationen, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit so gestalten, wie sie es immer tun (zum Beispiel die Ausreden, die mir helfen, nicht laufen gehen zu müssen). Es ist der Lebensbereich, in dem ich mich mit Dingen beschäftigen kann, ohne etwas Neues lernen und können zu müssen (zum Beispiel beim Whatsapp-Dialog über neue Youtube-Filmchen).
Als Komfortzone wird also jener durch Gewohnheiten bestimmte Bereich bezeichnet, der die Menschen davor schützt, sich mit sich selber und dem Leben auseinandersetzen zu müssen. Das speist sich aus der irrationalen Auffassung, alles müsse leicht gehen. Und immer leichter. Anstrengungen und Unbequemlichkeiten werden deshalb aus der Komfortzone verbannt. Das hat zur Folge, dass qua definitione keine Entwicklung stattfinden kann. Und das wiederum macht die individuelle Komfortzone zu einer Art Refugium der kleineren und grösseren Lebenslügen und damit zum Lebensraum der körperlichen und geistigen Selbstbeschränkung. Die Folge: Man wird beschränkt.
Na ja, alles schön und gut. Aber es ist halt doch so behaglich. Und wer es sich in seiner geistigen und körperlichen Behaglichkeit lauschig eingerichtet hat, dem fällt es schwer, seine Komfortzone zu verlassen. Man muss sich da zuweilen einen rechten Tritt in den eigenen Hintern geben. Sich das bildlich vorzustellen, ist schon nicht ganz so einfach. Es zu tun, ist noch schwieriger. Dazu muss man nämlich den Hintern heben. Das strafft nicht nur die Gesässmuskeln, das ist auch die Vorbereitungshandlung für weitere Schritte. Wer steht, kann auch gehen. Sich bewegen, raus aus der Komfort- hinein in die Herausforderungszone. Und da – in der Herausforderungszone – beginnt das eigentliche Leben. Da wirds spannend. Da läuft etwas, buchstäblich. Das wissen jene Menschen, die schon mal aufgestanden sind. Also eigentlich alle. Und alle haben klein damit angefangen – die meisten als Kleinkinder. Zuerst krabbeln sie auf dem Boden herum. Das macht auf Dauer weder Spass noch Sinn. Denn erstens kommt man nur mühsam voran. Zweitens lässt der Blick von ganz unten die Welt bedrohlich erscheinen. Und drittens befinden sich viele überaus attraktive Dinge ausserhalb der Kriechreichweite. Also: aufstehen!
GEWOHNHEITEN SIND ZUERST SPINNWEBEN, DANN DRÄHTE.
FERNÖSTLICHE WETSHEIT
Gute Erziehung – gute Gewohnheiten
Zwei Drittel dessen, was wir tun (oder lassen), tun (oder lassen) wir aus Gewohnheit. Gewohnheiten steuern unser Verhalten. Erziehung ist deshalb eigentlich nichts anderes als gute Gewohnheiten aufbauen. Wer seine Kinder gut erziehen will, hilft ihnen, möglichst viele gute Gewohnheiten aufzubauen.
Das tun die Kleinen. Und sie machen das mit grosser Beharrlichkeit. Wenn man sie lässt. Sie versuchen es. Boing! Flach auf den Bauch. Noch einmal. Boing! Diesmal auf den Hintern. Und wieder und wieder. Gelegentlich tuts ein bisschen weh. Aber nur ein bisschen. Und nicht lange. Also weiter! So entdecken kleine Kinder die Welt. Und sie entdecken sich. Sie lernen ein paar Lektionen über das Leben. Zum Beispiel: Anstrengung lohnt sich, Beharrlichkeit führt zum Ziel, Frustrationstoleranz bringt den Erfolg. Natürlich lernen sie nicht diese Begriffe. Sie lernen die Konzepte. Sie lernen ein Verhalten. Und sie knüpfen entsprechende Muster. Eben: wenn man sie lässt.
Eigentlich hat sich die Natur das auch so gedacht. Kinder unternehmen erste Schritte mit Unterstützung. Dann lernen sie, alleine aufzustehen. Dann zu gehen. Dann herumzurennen. Und es liegt in der Natur der Sache, dass sie dabei immer wieder Bekanntschaft schliessen mit dem Boden – mehr oder weniger unsanft, von Fall zu Fall quasi. Bis vor wenigen Jahren war das normal.
Es