Wenn dem JA kein ABER folgt. Andreas Müller
in der Lindenhofschule in Brensbach ist neben dem Schrank mit den roten Koffern eine Materialwand aufgebaut, mit Schubkästen voller Objekte, mit denen Kinder herumprobieren und die Zusammenhänge der physischen Welt erforschen können. Da ist ein Forscherraum entstanden, eingerichtet vom Kollegium, das von Antje Rümenapf, der neuen Schulleiterin i. V., inspiriert und instruiert worden ist. Um eine gute Idee am Leben zu halten, sind Menschen nötig, die diese Idee zur Anwendung bringen. Ohne sie bliebe von der besten Idee nichts übrig.
Schulleiterin Antje Rümenapf vor der Materialwand des neu eingerichteten Forscherraumes der Lindenhofschule in Brensbach
Inklusion: Beispiel für Schulgemeinschaft
Eingeladen zur Schülerversammlung, finden wir uns in der Turnhalle der Grundschule Beerfurth inmitten der Kinder, unter denen sich die Lehrerinnen verteilt haben, dazwischen zwei Frauen, die als Betreuerinnen dabei sind; ich sitze neben einem jungen Mann, Polizeibeamter ohne Uniform, der ein Gewaltpräventionsprojekt leitet. Die sechs Kinder aus der Umwelt- AG von Frau Köhler präsentieren die Idee einer Tauschbörse, bei der alte Besitztümer mithilfe eines ausgeklügelten Punktesystems bewertet und getauscht werden können, als Alternative zum Wegwerfen alter und Kauf neuer Dinge. Frau Köhler hat den Forscherraum der Schule eingerichtet und pflegt mit einer Gruppe von Kindern den Schulgarten. Frau Spänle hat den Lesewettbewerb eingeführt, die Bibliothek aufgebaut, und kümmert sich um die Leseförderung und alles, «was künstlerisch angehaucht ist».
Frau Schubert leitet die Sportprogramme und sorgt für die Teilnahme an Sportwettbewerben. «Wenn ich sehe, eine Kollegin hat diese Neigungen und hat auch das Potential, dann geb ich ihr die Möglichkeiten, sich zu entfalten», sagt die Schulleiterin.
In der ersten Reihe sitzt Lily mit ihrer Schlumpf-Puppe neben andern Mädchen auf einer Bodenturn-Matte; mit katzenartiger Eleganz springt sie auf und drängt sich an ihre Begleiterin. Die Puppe protestiert (durch Lilys Mund), als ich ein Foto machen will: kein Foto von Lily, aber dann, auf Rückfrage, ein Signal der Zustimmung: ein Foto von der Puppe.
It takes a village
Lily ist seit einem Jahr in der Schule, die Mutter hatte damals verzweifelt angerufen, da gab es eine Begutachtung, die aufgrund des ausgeprägten Autismus eine Überweisung an die Schule für geistige Entwicklung (ein neuer Euphemismus anstelle des alten Euphemismus «praktisch bildbar») vorsah. Die Schulleiterin hatte sich das Kind angeschaut und das Potential in Lilys Augen wahrgenommen. Sie hatte eine neue Begutachtung veranlasst und mit verschiedenen Ämtern zusammengearbeitet, um die Stelle für die Schulbegleitung mit einer Fachkraft besetzen zu können. Sie kennt sich aus im Umgang mit den Ämtern und Behörden. Gelder, die sonst ans Rote Kreuz gehen, sind unter Umständen verfügbar, und es gibt im Umfeld der Schule fähige Männer und Frauen, die als Schulbegleiter geeignet sind, auch wenn sie noch kein Zertifikat über diese Ausbildung besitzen. Man muss sich unter den Leuten umschauen und die Augen offen halten.
Zum Beispiel traf es sich gut, dass ein junger Mann verfügbar war, der nach dem Tode seines Onkels, der für ihn die ganze Familie darstellte, nicht wusste, was er anfangen sollte. Für die beiden italienischen Jungen mit ihren Sprachproblemen ist er genau der richtige Helfer. Die beiden Jungen hatten in einem Sprachintensivkurs über ein Jahr kein Wort Deutsch gelernt, waren aber massiv verhaltensauffällig geworden (Jargon für: unerträglich) und sollten auf eine entsprechende «Förderschule» abgeschoben werden. «Sie sind dankbar dafür, hier zu sein», sagt die Schulleiterin. Und der junge Mann sei als Schulbegleiter genial. Bei der Schulversammlung tuscheln die Jungs mit anderen Jungs, auf Deutsch.
Inklusion, sagt die Schulleiterin, sei ein Menschenrecht, das in den Köpfen beginne. «Endlich haben wir ein Gesetz, das dieses Recht durchsetzen hilft, und ich erlebe, dass sich die Köpfe gegen die Durchsetzung dieses Gesetzes verhärten. Wenn wir als Gesellschaft inklusiv strukturiert wären, würde sich für jede Person etwas finden, um sie produktiv ins Ganze einzubinden.
Aber so weit sind wir noch nicht. Noch immer erzeugen wir im Schulsystem Versorgungsfälle, die ausgesondert werden. Eine Exklusion ähnlich wie die der Alten ins Altenheim.»
Manchmal finden sich auf den Ämtern Alliierte, wie die junge Frau auf dem Jugendamt, die sich gegen die Exklusion eines Jungen aus der Sprachheilschule sträubt, wo er die Lehrkräfte überfordert, was eine psychologische Begutachtung des Kindes nach sich zieht, die in der Regel den weiteren Abstieg innerhalb des Sonderschuluniversums zur Folge hat. Die Frau vom Jugendamt habe sie angerufen, weil der Junge abgeschoben werden soll, sagt die Schulleiterin: «Würde er weggesperrt, so ginge er vor die Hunde – darüber sind wir ins Gespräch gekommen. Nächste Woche gibt es also einen Termin hier in der Schule, um das Kind kennenzulernen.» Sie vertraut auf die Kraft der Gemeinschaft, zitiert das afrikanische Sprichwort: It takes a village to raise a child, und fügt hinzu: «Wenn ein Kind um sich tritt, dann liegt es meist daran, dass es wie ein Tier gehalten wird. Gerade die Schwächsten in unserer Gesellschaft haben keine Lobby. Wer fühlt mit ihnen und spricht für sie, wenn sie längst mundtot gemacht worden sind und sich nur noch abwehrend und aggressiv äußern können?»
«Die Rolle der Lehrkraft
besteht darin, ein Feuer
zu entfachen, und nicht
darin, einen leeren Eimer
zu füllen»
Sie nimmt sich Zeit, die Akten zu studieren, sich mit den Beteiligten auseinanderzusetzen. Am zweiten Arbeitsort, in der Lindenhofschule in Brensbach, ruft die Mutter eines Erstklässlers an, – mein Sohn erträgt es nicht mehr (in einer Schule in der Nachbarschaft). Die Schulleitung der andern Schule ist einverstanden mit einem Wechsel, fragt aber ungläubig nach, ob es bekannt sei, was da auf sie zukomme? Die Akten belegen, dass im Kindergarten alles in Ordnung war, die Auffälligkeiten fingen damit an, dass sich der Junge bei der Untersuchung zu Schulbeginn weigerte, für die Amtsärztin die Hose auszuziehen. Da gab es einen Eintrag mit der Vermutung «Schule für Erziehungshilfe». Später dann wurde «sozial emotionaler Förderbedarf» diagnostiziert, der Junge komme mit andern kaum zurecht, er störe nur, auch wenn er nicht dumm sei. Nach einem dreiviertel Jahr in der ersten Klasse ist er bereits auf der Exklusionsliste gelandet.
«Natürlich», sagt Antje, «wollen sie eigentlich nicht das Kind loswerden, sondern die Belastung in einer Situation, in der sich alle pädagogischen Kräfte bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten belastet fühlen.» Das Treffen zum Kennenlernen mit Mutter und Kind war aufschlussreich: Die Mutter alleinerziehend, «engagiert, aber schlicht», der Junge bei den Grosseltern, ohne Anschluss an Gleichaltrige.
Die zuständige Lehrerin war bereit, ihn aufzunehmen, die Schulleiterin der abgebenden Schule gab dem Kind Bescheid: «Du gehst jetzt», allerdings, ohne die Lehrerin vorher darüber zu informieren. «Ein leider immer noch verbreitetes Verhalten von Vorgesetzten», kritisiert Antje. «Da wird die Kollegialität, die oft zitierte, völlig missachtet. Wie soll bei einem solchen Führungsstil Zusammenarbeit entstehen können?»
Es zeigte sich, dass die Probleme des Kindes in der neuen Schule durch einige Eltern programmiert waren, die ihren Kindern aufgetragen hatten, mit dem neuen nicht zu spielen. Die Vorsitzenden des Elternbeirats beschwerten sich bei der Schulleiterin über die Aufnahme des schwierigen Falles. Dann weigerte sich die Klassenlehrerin, ihn weiter zu unterrichten.
«So hörte ich Hilferufe von allen Seiten», sagt Antje: «Hilferufe der Klassenlehrerin, Eltern und Lehrkräfte, Hilferufe der Mutter und Hilferufe des Kindes.»
In der Kindertagesstätte, wo der Junge die Nachmittage verbringt, macht er keine Probleme. Möglicherweise steckt irgendetwas Physisches hinter dem Verhalten, spekuliert die Schulleiterin, was fehlt, ist einfach eine vernünftige Diagnose. Aufgrund der staatlich vorgeschriebenen Inklusionspolitik sind auch Mittel für Beratungslehrerinnen verfügbar, allerdings begrenzt auf acht Stunden pro Woche. Diese Beratung ist inzwischen eingerichtet. Den Rest der Zeit