Prozessberatung für die Organisation der Zukunft. Edgar H. Schein
ich solle ihnen die Zeit berechnen, die mir verloren gegangen sei; sie wüssten noch nicht, ob das Seminar später stattfinden werde. Was tatsächlich vorgefallen war, erfuhr ich später, als ich einen anderen Klienten besuchte, der die Leute dieses Schweizer Unternehmens gut kannte. Die Abenteuer dieses Unternehmens hatten in der Industrie für einigen Gesprächsstoff gesorgt.
Ich hörte, der Präsident, habe sich über den »schwächeren« Manager so aufgeregt, dass er ihn ersetzte. Und dadurch schienen sich die meisten Schwierigkeiten, wegen derer man das Seminar anberaumen wollte, aufgelöst zu haben. Außerdem erfuhr ich von meinem Kontaktklienten, dass mein langes Gespräch mit dem Präsidenten zu dieser Entscheidung beigetragen hatte. Er hatte seine ursprüngliche Entscheidung und die Gründe dafür noch einmal gründlich durchdacht. Meine Skepsis hinsichtlich der Möglichkeiten der Gruppe war ihm nicht entgangen und daher hatte er einen anderen Weg zur Behebung der Probleme eingeschlagen.
Merke: Zwar war der Beratungsprozess kurz und anscheinend beendet, bevor er überhaupt begonnen hatte, doch scheinen die Interventionen dem Präsidenten während unseres Gesprächs über die Weiterbildungsintervention die Augen geöffnet zu haben, so dass er eine andere Strategie zur Problemlösung für angemessener hielt. Der Berater kann nicht von einem Moment auf den anderen wissen, welche Interventionen dem Klienten entscheidend weiterhelfen, aber in diesem Fall war mein Fachwissen über Gruppen und meine Frage, ob eine Gruppe ein zwischenmenschliches Problem zwischen zwei gewichtigen Spielern lösen könne, offensichtlich ausschlaggebend.
Schlussfolgerung: Probleme bei der Definition der Beraterrolle
Diese Beispiele machen deutlich, wie schwierig es ist, die sich ständig verändernde Wirklichkeit in einer dynamischen Klientensituation zu definieren, und wie notwendig, entsprechend neuer Informationen die Rollen zu verändern. Nicht nur die Richtung, in die der Klient sich bewegt, ist schwer vorhersehbar, dazu kommt, dass mit jeder Intervention neue Daten auftauchen, die das Hilfekonzept in einem neuen Licht erscheinen lassen. Häufig muss der Berater in den Expertenmodus wechseln, doch gewärtig sein, jederzeit ohne viel Aufhebens in den Prozessberatermodus zurückzuwechseln.
Viele Beschreibungen des Beratungsprozesses betonen, wie notwendig es sei, gleich zu Beginn einen schriftlichen Vertrag aufzusetzen. In meiner Wirklichkeit sieht es so aus, dass das Wesen dieses Vertrages und der Klient, mit dem ich diesen Vertrag schließen soll, ständig im Wandel begriffen sind. Der Abschluss dieses Vertrags hat daher mehr mit einem fortwährenden Prozess gemeinsam als mit einer Aktion, die es vor Beginn der Beratung zu erledigen gilt.
Der Berater solle sich auch, so heißt es bei vielen Modellen, klar darüber sein, wer genau der Klient ist. Ich bin mir immer vollkommen klar darüber, wer, wenn ich angerufen oder besucht werde, der Kontaktklient ist, aber sobald ich mit der Arbeit begonnen und wir den nächsten Schritt definiert haben, beginnt sich die Klientengemeinde auf unvorhersehbare Weise zu vermehren.
Übung 1.1
Reflexion über das Helfen
Diese Übung soll Ihnen klarmachen, dass Sie in der Helferrolle möglicherweise verschiedene Rollen übernehmen müssen. Sie können die Schritte 1, 2 und 6 alleine durchführen (20 Minuten) oder, wenn Sie sich in einem Workshop befinden, alle sechs Schritte mit einem Partner durcharbeiten (1 Stunde).
Erinnern Sie sich an die letzten Tage. Benennen Sie zwei oder drei Vorfälle, bei denen Sie jemand um Hilfe oder um Rat bat.
Versuchen Sie sich das Gespräch ins Gedächtnis zu rufen und identifizieren Sie die Rolle, die Sie in Reaktion auf diese Bitte um Hilfe übernahmen. Was wollte der andere von Ihnen? Wie reagierten Sie darauf? Hätten Sie auch anders reagieren können? Lässt sich Ihre Reaktion eindeutig in eine der oben beschriebenen Beratungsmodi – Experte, Arzt, Prozessberatung – einordnen?
Wenn Sie sich in einem Workshop befinden, suchen Sie sich nun einen Partner und beschreiben Sie Ihre Fälle, um sich dann von Ihrem Partner berichten zu lassen, wie er Ihr Verhalten sieht.
Analysieren Sie die Reaktion Ihres Partners auf Ihre Geschichte unter dem Gesichtspunkt, welche Rolle er in der Reaktion auf Ihre Geschichte einnahm und wie Sie darauf reagierten.
Kehren Sie die Rollen um und reagieren Sie nun auf die Geschichte Ihres Partners und analysieren Sie dann Ihre Reaktion und welche Reaktionen diese bei Ihrem Partner auslöste.
Reflektieren Sie über die Rollen, die Sie spontan einzunehmen scheinen, wenn Sie um Hilfe gebeten werden, und hinterfragen Sie, ob diese Rollen im Rückblick auf die Situation angemessen erscheinen. Gibt es andere Rollen, die Sie erlernen sollten?
2. Kapitel:
Die Psychodynamik der helfenden Beziehung
Beratung wird im Lexikon als Ratsuche oder professionelle Beratung definiert. Diese Definition passt ausgezeichnet zu dem im ersten Kapitel beschriebenen Arzt-Patient-Modell. Prozessberatung als Philosophie erkennt, dass hinter der Suche nach Rat oder hinter Beratung ein grundlegenderes Ziel steckt: Es geht um Hilfe für ein empfundenes Problem. Wir wollen einen Rat oder beraten werden, um Probleme zu lösen, die wir allein nicht lösen können. Und wir hoffen, dass die Beratung oder der Rat uns dabei weiterhelfen. Aber wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen, helfen uns häufig Ratschläge und Beratung nicht weiter, was bei dem Hilfesuchenden zu Widerstand und Abwehr führt. Um diesen Widerstand besser zu verstehen, müssen wir uns näher mit der Psychodynamik der helfenden Beziehung beschäftigen und untersuchen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Hilfe tatsächlich möglich wird.
Ebenso gilt es, die helfende Beziehung von einer Reihe anderer Beziehungen zu unterscheiden, die sich zwischen Menschen entwickeln können – wie die zwischen Gebendem und Nehmendem, zwischen Lehrer und Schüler, Freunden, Ehegatten sowie zwischen Vorgesetztem und Untergebenem. In jedem dieser Fälle kann Hilfe ein Thema der Beziehung sein, allerdings ein Thema unter vielen. Aber bei vielen Interaktionen zwischen Menschen geht es auch um den Austausch von etwas anderem als Hilfe.
Man kann dieses Feld unter anderem erkunden, indem man den expliziten und impliziten psychologischen Vertrag zwischen den Helfern und denen, denen sie helfen, genannt »Klienten«, untersucht. Wovon geht die jeweilige Partei aus, was glaubt sie zu geben und zu bekommen? Welche psychologischen Bedingungen müssen für einen erfolgreichen Austausch erfüllt sein? Zum Beispiel sind gegenseitiges Vertrauen, gegenseitige Akzeptanz und gegenseitiger Respekt unabdingbar für eine erfolgreiche helfende Beziehung. Wenn dies so ist, wie lassen sich diese Bedingungen herstellen? Der erste Schritt dazu ist ein klares Verständnis der psychologischen Kräfte, die am Werk sind, wenn ein Mensch einen anderen um »Hilfe« bittet.
Das anfängliche Statusungleichgewicht in helfenden Beziehungen
In vielen Kulturen wird Selbstvertrauen betont und großer Wert darauf gelegt, seine Probleme selbst zu lösen. Hilfe zu suchen und sich damit für eine gewisse Zeit abhängig von jemand anderem zu machen, gilt damit de facto als Eingeständnis der eigenen Schwäche oder des eigenen Versagens. Dies trifft vor allem auf westliche, wettbewerbsorientierte, individualisierte Gesellschaften zu. Die beiden an einer helfenden Beziehung beteiligten Parteien befinden sich zu Beginn in einer schiefen oder unbalancierten Beziehung. Dabei ist der Helfer »oben« und der Hilfesuchende »unten«. Aus diesem »Unten« des Klienten ergeben sich, das kann man sich ausrechnen, ein oder mehrere bewusste oder unbewusste Reaktionsmöglichkeiten, von denen jede darauf zielt, die Beziehung wieder ins Lot zu bringen.7
Mögliche Reaktionen und Gefühle des Klienten
1. Ablehnung und Abwehr (gegenseitige Abhängigkeit) manifestiert sich beim Klienten in der Nutzung jeder Gelegenheit, den Berater in ein schlechtes Licht zu rücken, seine Ratschläge herabzusetzen, die vorgebrachten Fakten anzuzweifeln und ihn herunterzuziehen, um sich selbst wieder gleichwertig fühlen zu können.
»Ihr Vorschlag kann nicht funktionieren, weil …«