Systemisches Coaching. Bernd Schmid
aber noch nicht erkannt ist, versucht der Klient zu verhindern. Er verwechselt das Anerkennen eines bereits erlittenen Verlustes mit dem heutigen Entstehen eines Verlustes.
Häufig haben Menschen in der Realität eine Zwickmühle konstelliert, aus der sie nicht ohne tatsächlichen Verlust herauskommen können. Sie wollen einen unvermeidbaren Verlust nicht zulassen, wobei sie dies mit dem Aufgeben von etwas, was noch zu retten ist, verwechseln.
4.4 Dilemmadynamik beim Umgang mit Zwickmühlen-Konstellationen
Wir können Menschen mit Zwickmühlen in unterschiedlichen Phasen antreffen: vorwiegend kämpfend, vorwiegend resignierend oder beides abwechselnd, verzweifelt oder ohne Kontakt zu dem Anliegen, für das nur ein Zwickmühlenmuster zur Verfügung steht (Leugnung).
Für manche Klienten sind Zwickmühlen nur in einzelnen Lebensbereichen von Bedeutung. Andere sind von Zwickmühlen-Erleben und -Verhalten geprägt.
Wird in der therapeutischen Arbeit die Zwickmühle geleugnet, bestimmt sie aber die Dynamik der Transaktionen, dann bietet der Klient ein Problem oder ein Verhalten, das spürbar nicht das gegenwärtig bedeutsame ist. Dann befindet sich der Therapeut in dem Dilemma, entweder mit dem Angebotenen zu arbeiten, wobei der Klient und er selbst möglicherweise unbefriedigt bleiben; oder er forscht nach der Zwickmühlen-Dynamik mit der Gefahr, dass der Klient sich im Vorgebrachten unverstanden fühlt oder die Idee pflegt, ihm solle ein Problem zugeschoben, er solle um seinen Schutz vor Verzweiflung gebracht werden.
Zeigt sich der Klient verzweifelt, resigniert oder kämpfend, so stellt dies häufig eine Reaktion auf die innerlich erlebte Zwickmühle dar. Wir haben es dann oft mit einem vielschichtig verknoteten Zwickmühlen-Bündel zu tun. Die äußerste Schicht dieses Bündels kann darin bestehen, dass der Klient die Erfahrung sucht, in unlösbaren Situationen Hilfe von außen zu erhalten, wobei »die draußen« wissen sollen, worin das Problem besteht und wie es zu lösen ist. Es werden Reaktionen der Umwelt gesucht, die Befreiung von Verzweiflung, Resignation und Kämpfen bringen können. Doch kann dies nicht geschehen, ohne einige der oben beschriebenen Verwechslungen richtig zu stellen. Dies erfordert zuerst Einsicht und Veränderung beim Klienten, ohne die der Therapeut kaum klären oder eingreifen kann. Dem Therapeuten sind die Hände gebunden, da der Klient, obwohl er sich als Opfer erlebt, selbst alle Verknüpfungen der Fäden zu einer Zwickmühle kontrolliert.
Geht der Therapeut mit dem Bezugssystem, ist er selbst gefangen, und der Klient bestätigt sich, dass andere ihm zwar beistehen, aber nicht wirksam helfen können. Distanziert sich der Therapeut hilflos oder ärgerlich, ohne die Zwickmühle erfolgreich zu re-definieren (Fehler im Bezugsrahmen und wirkliche Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen), fühlt sich der Klient allein gelassen und obendrein noch wegen seiner Probleme beschuldigt. Teilt ihm der Therapeut mit, dass er aus seinem Bezugsrahmen nicht erkennen kann, worin das Problem besteht oder warum es unlösbar ist, fühlt sich der Klient unverstanden. Hört er, ihm sei so, wie er sich einbringt, nicht zu helfen, fühlt er sich verurteilt, in der Zwickmühle zu bleiben.
Eine andere Schwierigkeit besteht darin, dass der Klient einen Ausweg sucht, der unmittelbar zu einer Lösung und gutem Beenden führt. Genau dies ist meist unmöglich. Wie schon oben angesprochen führt der Weg aus der Zwickmühle oft über das Spüren von Verzweiflung und Erschöpfung, über das Anerkennen alter Verluste oder das Realisieren von einem unvermeidlichen Verlust heute, über die Einsicht, dass man lange gelitten hat, ohne dafür Wiedergutmachung oder Genugtuung zu erlangen. Oft kann eine real inszenierte Zwickmühle auch gar nicht so leicht verlassen werden, sodass ein vorläufiges Ausharren notwendig ist, was auch dann unangenehm sein kann, wenn man die Situation nicht mehr als unvermeidliche Zwickmühle erlebt.
Der Klient tauscht also vertraute unlösbare Schwierigkeiten gegen neue lösbare, aber ungewohnte Fragestellungen, wobei er zum Teil in seinem Selbsterlebnis erheblich verunsichert wird. Auch sind einige Erlebens- und Verhaltensweisen neu zu lernen, und die damit verbundene Unsicherheit muss ertragen werden.
Im Kern dieses Zwickmühlen-Bündels sind dann einige unlösbare oder auch nur schwierige Situationen im kindlichen Erleben zu finden, die erst jetzt inhaltlich näher definiert und bearbeitet werden können, nachdem der schwierigste Teil der Arbeit, das Verlassen des Dilemmazirkels getan ist. Oft sind diese Schwierigkeiten unter Zuhilfenahme des Erwachsenen-Bewusstseins relativ leicht zu lösen. Die allgemeine Zwickmühlen-Problematik war oft zum größeren Problem worden.
4.5 Lebensgeschichtlicher Hintergrund
Menschen, die sich auf die eine oder andere Weise in Zwickmühlen bringen, waren häufig in ihrer Kindheit in Zwickmühlen-Situationen, die sie nicht selbst arrangiert oder verursacht hatten. Zum damaligen Zeitpunkt waren sie nicht in der Lage, die Situation zu überblicken. Bedürfnisse, die in der Situation nicht zu befriedigen waren, und das Anliegen, schwierige Situationen als lösbar angeboten zu bekommen, bleiben zurück.
Konstruieren wir ein einfaches Beispiel: Die Eltern erklären mit einem Ausdruck hilfloser Verzweiflung ihrem kleinen Sohn: »Wir müssen uns trennen, weil wir sonst an unseren Problemen kaputtgehen. Wen hast du soviel lieber, dass du mit ihm gehen wirst?« Man benötigt schon einen Erwachsenen-Standpunkt, um zu erkennen, dass und wie die Problem- und Entscheidungssituation für die kindlichen Möglichkeiten unangemessen definiert ist.
Diese Dynamik erinnert an die Doppelbindungstheorie von Gregory Bateson u.a. (1956, siehe Lit. Kap. 4, 2). Wesentliche Elemente sind dabei, dass man 1. mit zwei unvereinbaren Anforderungen konfrontiert ist, dass man 2. keine Möglichkeit hat, den Anforderungen zu entrinnen, und 3. ein Verbot besteht, einen Metastandpunkt einzunehmen und die Unvereinbarkeit aufzuzeigen. Wir haben hier absichtlich kein Beispiel logischer Unmöglichkeit gewählt, um darauf abzuheben, dass aus dem kindlichen Bezugsrahmen auch andere Situationen verständlicherweise als unlösbar erlebt werden. Ob problematische Situationen zu Zwickmühlen und damit Ausgangspunkt für Dilemmadynamiken werden, hängt davon ab, ob vom Standpunkt der Betroffenen eine Zurückweisung oder Re-Definition der Fragestellung möglich ist.
In dem vorigen Beispiel bleibt der kleine Junge ratlos zurück. Neben den Schwierigkeiten, die eine solche Familiensituation ohnehin aufweist, bleibt ein berechtigtes Anliegen des Jungen zurück, jemanden zu haben, der die Situation besser versteht und ihm in angemessener Weise verständlich macht. Jemanden, der die für den Jungen entstehenden Probleme so darstellt, dass er sie lösen kann, oder dass er die Freiheit erlebt, mit entsprechenden Gefühlen reagieren zu können, ohne sich für das Problem verantwortlich zu fühlen.
Zwickmühlen-Muster für die Lösung von Problemen und die Gestaltung von Beziehungen können auch über Modell-Lernen erworben werden, ohne dass dann für das Kind von außen konstellierte Zwickmühlen in der persönlichen Geschichte gefunden werden können. Die Zwickmühlen-Dynamiken werden von vorigen Generationen übernommen.
In der Familientherapie wird von Ivan Boszormenyi-Nagy (1973, siehe Lit. Kap. 4, 3) der Begriff »split loyality« beschrieben. Die Loyalität zu einem Familienmitglied beinhaltet (aus dem Bezugssystem des Kindes) die Illoyalität zu einem anderen. Da das Kind beiden Eltern gegenüber loyal sein möchte, entstehen gespaltene Loyalitätsversuche.
4.6 Entdecken von Zwickmühlen
Wenn man sich als Therapeut gefangen fühlt, sich selbst in der Beschreibung des Zwickmühlen-Zirkels wiederfindet, hat man es vermutlich mit einer unaufgeklärten Zwickmühlen-Dynamik zu tun. Entweder man erlebt oder konstruiert selbst die Situation als Zwickmühle, ohne dass dies vom Klienten ausgeht, oder man hat, ohne es zu merken, eine Zwickmühlen-Definition des Klienten akzeptiert bzw. sich mit ihm beim Versuch, Probleme zu lösen, in eine Zwickmühlen-Dynamik eingelassen. Hier empfiehlt es sich, einen Schritt zurückzutreten und den impliziten Bezugsrahmen, in dem gearbeitet wird, anzusehen, statt »mehr«, »gründlicher«, »tiefer« zu arbeiten. Fritz Perls formulierte sinngemäß: Es gehört zum Schwierigsten, das Offensichtliche zu sehen.
Eine kleine Geschichte für Therapeuten: Ein Mann mit einem Fahrrad, auf dem er Sägespäne transportiert, kommt zur Grenze. Der Zöllner betastet den Sack von außen,