Chopin besucht Vivaldi und in der Bucht von Venedig schwimmen Delfine. Barbara Pachl-Eberhahrt

Chopin besucht Vivaldi und in der Bucht von Venedig schwimmen Delfine - Barbara Pachl-Eberhahrt


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drei Dosen geschälte Tomaten, die noch da waren, eine für jemand anderen im Regal lassen oder mir doch alle drei schnappen sollte, dass ich am selben Tag vier Mails erhalten würde, in denen alle meine Vorträge für die kommenden Wochen abgesagt wurden, dass Erika Glück mit ihrem Fest im Kindergarten gehabt haben würde, weil es der vorletzte Tag vor der Schließung war, das alles hatte ich mir, während wir Eis schleckten, während wir »Bruder Jakob« sangen und auch während ich die Abschiedsworte meiner Mutter in mir nachklingen ließ, nicht vorstellen können.

      Und falls doch? Ja, irgendwo in mir flüsterte diese Stimme seit ein, zwei Tagen. Ich beschwichtigte sie. Immerhin kannte ich mich mit Krisen und plötzlichen Veränderungen aus. Meine Vorträge handelten doch genau davon: Wie man mit Krisen umgeht. Was man gerade in schwierigen Zeiten über sich selbst und das Leben lernen kann. Und dass die Stunde null nicht ganz so schwarz, nicht ganz so schrecklich ist, wie es von außen scheint oder wie man sie sich vorgestellt hätte. Sie ist ganz anders. So anders, dass man kaum anders kann, als ihr zu vertrauen.

      Die Stunde null von Corona. Meine Stunde null: Wann schlug sie genau?

      Noch nicht, als ich nach dem Abschied von Omi, Opi und Elisabeth den Maileingang öffnete und die Nachricht des Kindergartens vorfand, in der man empfahl, die Kinder ab Montag erst einmal zu Hause zu lassen, jedoch einen Notbetrieb anbot und der Hoffnung Ausdruck verlieh, dass bald alles wieder regulär laufen würde. Sie schlug auch nicht, als ich die eine SMS von einem sehr vernetzten und gut informierten Freund bekam. »Wir haben aus einer verlässlichen Quelle mit Draht zum Innenministerium erfahren, dass Wien am Wochenende dichtgemacht wird.« Ich dachte nur: Quatsch. Und sagte zu meinem Mann: »Lass uns trotzdem morgen ein paar Dinge einkaufen.«

      War es das »Poff« des zuschlagenden Kofferraumdeckels, das die entscheidende Stunde einläutete? Oder das Drehen des Schlüssels, als wir Samstagmittag die Tür zu unserem Landhaus aufsperrten, in dem wir, mein Mann, unsere Tochter und ich, erst einmal bleiben wollten, bis die Regierung alle Unklarheiten beseitigt hatte?

      Wann hat Corona für mich begonnen? Wann begriff ich, dass das Seufzen meiner Mutter berechtigt gewesen war? Wann ließ ich zum ersten Mal die Tatsache an mich heran, dass das alles kein Spiel, keine kurze Ausnahme, kein verlängertes Wochenende, sondern eine neue Lebensphase von unbekannter Dauer und mit nachhaltiger Wirkung war?

      Die ehrliche Antwort lautet: Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nicht, wann. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt irgendwann begriffen habe, dass es um etwas anderes als um Durchtauchen geht. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendetwas sackte. Dass irgendetwas in mir schluckte. Dass irgendein Satz in den Abendnachrichten der eine war, der mich etwas kapieren ließ, das ich bisher verdrängt oder geleugnet hatte.

      Bis heute lebe ich in diesem eigenartigen Zustand zwischen Durchhalten, Bangen, Hoffen, Kopfschütteln, Stirnrunzeln, Nachdenken, Hinschauen, Wegschauen und Staunen. Bis heute habe ich keine Ahnung, ob »das alles« bald vorbei ist oder überhaupt erst begonnen hat. Ja, ich wage nicht einmal darüber zu spekulieren, was »das alles« eigentlich ist.

      Trotzdem gibt es ein paar Dinge, die ich weiß und über die ich klar Auskunft geben kann. Zum Beispiel weiß ich noch, wann ich zum ersten Mal in der Coronazeit weinte. Ich weiß, dass es innerhalb von fünf Wochen so warm sein kann, dass man nur kurze Ärmel braucht und so kalt, dass es schneit. Ich weiß jetzt, wie man einen Einkaufsplan für zwei Wochen erstellt. Und wie man einem Kind Grenzen setzt, wenn man einfach nicht mehr kann.

      Ich weiß das, weil ich es erlebt habe. Und ich werde es nicht vergessen, weil es mein Tagebuch gibt. Sie halten es in Händen.

      Eine Woche nach Erikas Geburtstag habe ich zu schreiben begonnen. Es war schon wieder an einem Geburtstag, an dem meiner Mutter. Wie schon einmal in meinem Leben griff ich zu Papier und Stift, um der Angst vor dem Verstummen etwas entgegenzuhalten und um wenigstens irgendetwas zu tun.

      Gegen Corona, gegen die Maßnahmen, gegen die unfreiwillige, unerwünschte Lebensveränderung konnte ich nichts machen. Das Einzige, was ich tun konnte, um nicht im Gefühl der Ohnmacht zu versinken, war: zu schreiben.

      Ich nahm mir nicht viel vor. Nur kleine Häppchen wollte ich notieren, wann immer mir danach war. »Drabbles«, so nennt man Geschichten, die aus genau 100 Wörtern bestehen. Diese Form war mein Gerüst, an das ich mich anfangs akribisch und sportlich hielt, das ich aber bald nur noch als Richtwert benutzte.

      Ich schrieb, um mich meiner selbst zu vergewissern. Ich schrieb, um später, irgendwann einmal, über all das Absurde, das Anstrengende, das Verrückte, in dem ich mich wähnte, lachen zu können. Ich schrieb, um meiner Tochter für später ein Zeugnis aus diesen vielleicht prägendsten Wochen ihrer frühen Kindheit zu hinterlassen. Ich schrieb nicht zuletzt, um mich nicht so allein zu fühlen: Schon am zweiten Tag meines Schreibens beschloss ich, meine Kurztexte in Form eines Blogs mit meinen Facebook-Freunden zu teilen. Die Resonanz war überwältigend und schenkte mir Kraft. Weitermachen, das schaffte ich an manchen Tagen nur, weil es bedeutete: weiterschreiben zu können.

      Wer ich war, als Corona über mich und uns alle hereinbrach, davon habe ich Ihnen schon ein paar Dinge erzählt. Hier noch ein paar konkretere Details, damit Sie wissen, in welchem Zustand ich meine ersten Einträge schrieb: In der Woche vor dem 12. März hatte ich mich nicht besonders gut gefühlt. Eine Lesung am 3. März hatte ich zwei Mal wegen eines Hustenanfalls unterbrechen müssen. Den Vormittag des 5. März verbrachte ich im Bett, so lange, bis das Grippemittel wirkte und ich mich ins Auto setzen konnte, um zu einem Vortrag in der Steiermark zu fahren. »Wird schon kein Corona sein«, scherzte ich mit der Veranstalterin, »und auf der Bühne bin ich eh weit weg von allen.« Wir gaben uns zur Sicherheit lieber nicht die Hand. Bücher signierte ich nach der Veranstaltung trotzdem.

      Heute, ein halbes Jahr später, kommt mir das alles ganz schön verantwortungslos vor. Aber »damals«, vor Corona, habe ich es als Ehrensache betrachtet, trotz Erkältung zur Arbeit zu erscheinen.

      Am folgenden Wochenende ging es mir besser, ich hatte kein Fieber bekommen, nur meine Stimme war angekratzt. Ich hielt ein Theorieseminar über die Techniken des literarisch-biographischen Schreibens. Am Samstag lief alles wunderbar, am Sonntag wachte ich ohne Stimme auf. Kurzerhand erfand ich eine neue Unterrichtsmethode: Ich tippte alles, was ich sagen wollte, in Echtzeit in meinen PC, ein Beamer projizierte alles an die Wand. Eine Teilnehmerin kam zu spät und fand erst zu Mittag, als sie mir wegen dieser tollen, konzentrationsfördernden Methode gratulieren wollte, heraus, dass ich tatsächlich nicht sprechen konnte.

      An den folgenden Tagen versuchte ich, mich zu schonen. Das gelang auch ganz gut. Ich rechnete damit, dass sich der nervige Husten bald geben würde. Ich war etwas schwach, aber gut gelaunt. Dass mein Zustand etwas mit Corona zu tun haben könnte, dachte ich nicht. Warum ich bis heute nicht weiß, ob ich das Virus hatte oder nicht, erfahren Sie auf den kommenden Seiten.

      Was sollten Sie noch wissen, um im Bilde zu sein? Das Haus, in das wir kurzerhand zogen, liegt auf einer Alm im Voralpenland. Es wird normalerweise als Seminar- und Ferienhaus vermietet.

      Meine Tochter Erika ist, wie Sie schon wissen, drei Jahre alt. Sie liebt Musik, plaudert unentwegt, hat einen ausgeprägten Willen, schläft wenig und liebt Rollenspiele. Wir verfügen über ein gutes Netz an Babysittern, was mir normalerweise ermöglicht, meinem Beruf als Autorin, Vortragende und Seminarleiterin nachzugehen und trotzdem glückliche Mutter zu sein.

      Am Sonntag, den 16. März fuhren wir aufs Land, ohne zu wissen, wie lange der »Lockdown«, der am Vormittag per Pressekonferenz verkündet worden war, dauern würde. Wir sind es nicht gewohnt, als Familie zusammengesperrt zu sein. Mein Mann und ich haben zwei Wohnungen im selben Haus, wir brauchen das für unser Freiheitsgefühl. Wir waren fest entschlossen, dieses Abenteuer miteinander zu bewältigen.

      In unserem Gepäck: Alles Spielzeug, das wir haben, Kleidung für jede Wetterlage, jede Menge Grundnahrungsmittel, ein paar Bücher, mein Laptop. Und keinen Plan B.

      Was Sie hier lesen, sind meine Tagebucheinträge


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