Geschichte der Schweiz. Thomas Maissen
den einschränkenden Zusatz «teutscher Nation» erhalten und beanspruchte deshalb im Spätmittelalter noch universelle und heilsgeschichtliche Geltung: In Kaiser Augustus war es begründet, und bis zum Jüngsten Gericht würde es Bestand haben. Der Papst, die geistliche Universalgewalt, konnte den «römischen», de facto also deutschen König zum Kaiser krönen, wie das erstmals Karl dem Grossen widerfahren war. In der Realität des 14. Jahrhunderts hatte dieser Titel allerdings viel von seinem Glanz verloren. Im Reich herrschte der Kaiser nicht allein und unmittelbar, sondern zusammen mit seinen Wählern, den Kurfürsten, und den vielen anderen weltlichen und geistlichen Reichsständen, die jeweils zu Reichstagen zusammenkamen. Nur in seinem ererbten Hausbesitz hatte der Kaiser tatsächlich das Sagen. Über ein Gewaltmonopol, ein klares Territorium und ein eindeutig definiertes Volk verfügte er aber auch dort nicht: Diese Kernelemente des modernen Staats fehlten im Mittelalter. Stattdessen vereinte ein Fürst verschiedene Rechtstitel in seiner Hand, die er unterschiedlich kombinierte und oft auch mit anderen Herrschaftsträgern teilte. Mit solchen beschränkten Mitteln musste ein Wahlkönig vielen Anfechtungen begegnen. Regelmässig stritten sich Kandidaten aus den Häusern Habsburg, Wittelsbach und Luxemburg um die Krone. Gegenkönige traten auf und sorgten für Unruhe; der Habsburger Albrecht I. wurde 1308 bei Brugg gar ermordet. Machtausübung war zumeist verbunden mit persönlicher Gegenwart; je weiter eine Region vom Herrschaftszentrum entfernt war, desto eher traten offiziell oder eigenmächtig lokale Adlige an die Stelle der schwachen königlichen Institutionen.
Das Mittelland wird Peripherie
Der oberdeutsche Raum war im hohen Mittelalter kaisernahe gewesen: Die Salier und Staufer hatten ihre Stammlande in Schwaben, Franken und am Rhein gehabt. Auch der Wittelsbacher Ludwig der Bayer, der nicht unumstrittene König von 1314 bis 1347 und seit 1328 Kaiser, stammte aus dem Süden und residierte in München. Sein Nachfolger hingegen, Karl IV. aus dem Hause Luxemburg, hielt in seiner Geburtsstadt Prag Hof. Im Unterschied zu seinen Vorgängern verzichtete er auch auf eine aktive Italienpolitik und zog nur zweimal für kurze Zeit über die Alpen.
Damit rückte das künftige Schweizer Mittelland an den Rand des Reiches. Es bildete zu diesem Zeitpunkt in keiner Hinsicht eine Einheit, sondern hatte zwei Pole: den Genfersee und den Bodensee mit den dazugehörigen Siedlungs- und Kulturräumen. Im Westen handelte es sich seit der Völkerwanderung um die Gebiete der romanisierten, also französischsprachigen Burgunder; im Osten lebten deutschsprachige Alemannen. Innerhalb des hochmittelalterlichen Reiches entsprach dem etwa die Grenze zwischen dem alten Königreich Burgund und dem Herzogtum Schwaben, das südlich des Bodensees theoretisch bis weit in den Bündner Alpenraum hineinreichte. Während sich die Sprachgrenze allmählich entlang der Saane festigte, folgte eine weitere, mindestens ebenso wichtige der Aare: Hier stiessen die Bistümer Konstanz und Lausanne aufeinander. Da der Pfarrer und damit die kirchliche Verwaltung im Mittelalter weit gegenwärtiger waren als weltliche Beamte, fehlte jegliches überlokale Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich auf die spätere Schweiz hätte erstrecken können. An diesem Gebiet hatten insgesamt zehn Diözesen teil; zu den Bischöfen von Konstanz und Lausanne hinzu kamen diejenigen in Basel, Chur, Sitten, Genf, Besançon, Novara und Como sowie der Erzbischof von Mailand. Für sie alle war die spätere Eidgenossenschaft Peripherie.
Auch die beiden wichtigsten Fürstengeschlechter in der Region grenzten ihre Einflusssphären nach anfänglichen Konflikten um 1310 einvernehmlich voneinander ab: Savoyen und Habsburg. Beiden Dynastien stand eine grosse, aber noch unvorhersehbare europäische Karriere bevor. Das spätere italienische Königshaus Savoyen stiess im 13. Jahrhundert aus dem südlichen Alpenraum in das Waadtland vor. 1356 wurden die Savoyer Reichsvikare, also amtsführende Stellvertreter des Kaisers. Damit konnten sie über die Rechtsprechung ihre Territorialherrschaft aufbauen, also allgemein über ein Gebiet und dessen Einwohner bestimmen und nicht, wie im Feudalwesen, mit einzelnen konkreten Rechtstiteln über bestimmte Personengruppen. Die Habsburger verdankten ihren Namen der Burg bei Brugg im heutigen Kanton Aargau, die bis etwa 1220 ihr Hauptsitz gewesen war. Vor allem durch Erbschaften wurde Graf Rudolf IV. von Habsburg zu einem der mächtigsten Territorialherren im Herzogtum Schwaben; dazu kamen Besitzungen im Elsass und im Breisgau, den späteren «Vorlanden» oder Vorderösterreich. Auf dieser Grundlage wurde er als Rudolf I. 1273 zum König des Heiligen Römischen Reichs gewählt, womit das seit dem Tod Kaiser Friedrichs II. 1250 anhaltende Interregnum – die Zeit ohne herrschaftsfähige Könige – beendet war. Rudolf I. nutzte diese neue Stellung dazu, seinem Haus im Osten eine neue Machtbasis zu schaffen. Nach dem Sieg über König Ottokar II. von Böhmen verlieh er 1282 die Herzogtümer Österreich und Steiermark und damit die Reichsstandschaft seinem Sohn Albrecht I., der ihm mit etwas Verzögerung 1298 auch als König nachfolgte. Wie die Luxemburger verschoben also die Habsburger ihren Schwerpunkt gegen Osten, ohne allerdings das Interesse an den Stammlanden zu verlieren; vielmehr lagen Versuche nahe, die verschiedenen Besitzungen zu einem Fürstenterritorium zu verbinden.
Ein erfolgreiches Modell für eine solche frühe «Staatsbildung» lag im Süden des Alpenkamms: Die Visconti hatten das Amt des Reichsvikars genutzt, um in der Lombardei um das Zentrum Mailand eine Territorialherrschaft zu errichten, die der Kaiser Ende des 14. Jahrhunderts zum Herzogtum Mailand beförderte; dazu gehörte auch das heutige Tessin. Wenn die Habsburger ihre Macht weiter ausdehnen wollten, so mussten sie ähnlich vorgehen und die Vogteirechte nutzen, also die öffentliche Ordnung im Namen (und formal im Auftrag) des Reiches wahren. Der Vogt (lateinisch advocatus: Rechtsbeistand, Verteidiger) war für die öffentliche Ordnung zuständig: Schutz und Schirm, Verwaltung, Blutgericht (bei dem die Todesstrafe möglich war) und Leitung des militärischen Auszugs. Die Bauern schuldeten für den militärischen «Schutz und Schirm» des Adels Abgaben, die sie als Hörige in persönlicher Unfreiheit (Schollenbindung) erbrachten: Frondienste, Todfall (ein fixer Erbteil) und Abgaben in Naturalien und Geld. Mit dem Treueid riefen sie Gott als Zeugen und Garanten an für diese Schutzbeziehung, die eine persönliche, gegenseitige Verpflichtung darstellte.
Die hochmittelalterliche Binnenkolonisation
Die Feudalordnung erlebte im 12. und 13. Jahrhundert einen wirtschaftlichen Aufschwung. Wachsende Bodenerträge gingen auf damals günstige klimatische Verhältnisse und landwirtschaftliche Neuerungen zurück: den schweren Wendepflug, das Hufeisen oder den Kummet für Zugtiere, besonders aber die Dreizelgenwirtschaft. In einer «Zelge» wurden Parzellen von verschiedenen Bauern zusammengefasst, sodass das Ackerland eines Dorfes, das sich damit als geschlossene Siedlungsform entwickelte, auf drei Zelgen aufgeteilt wurde. Diese bebaute man im jährlichen Fruchtwechsel mit zum Teil neuen Kulturpflanzen: Wintergetreide (Dinkel, Roggen, in der Westschweiz Weizen), Sommergetreide (Hafer, Gerste) und – zur Erholung des Bodens – Brache, auf der jeweils Vieh weidete und damit dem Boden im Dünger neuen Stickstoff zuführte. Die zusammenhängende Zelge erlaubte eine bessere Nutzung unter der Voraussetzung, dass die Bauern einheitliche Pflanzen anbauten und ihre Feldarbeiten (Aussaat, Ernte), die Überfahrt über fremde Parzellen oder Beweidung untereinander abstimmten. Diese Regelung, der «Flurzwang», oblag der Dorfgemeinde, die damit wirtschaftliche wie politische und rechtliche Zuständigkeiten verwob.
Durch solche Methoden konnte sich die Bevölkerungszahl im Gebiet der heutigen Schweiz zwischen 1000 und 1300 gemäss allerdings sehr unsicheren Schätzungen von etwa 350 000 auf 700 000 bis 800 000 Bewohner verdoppeln. Entsprechend stieg die Nachfrage nach Neuland. Der sogenannte Landesausbau durch Rodungen und Trockenlegungen ging von geistlichen und weltlichen Adligen aus, zuerst von Klöstern, dann vor allem von Grafen und Edelfreien. Sie übten auf ihren Burgen die faktische Herrschaft in der Region aus, in welcher der König oder Kaiser, der seine Herrschaft auf Reisen wahrnahm, selten gegenwärtig sein konnte. Er gewährte seinen adligen Vasallen für ihre militärischen und administrativen Leistungen indessen Privilegien (Lehen), sowohl die benötigten Herrschaftsrechte über Menschen wie auch Besitztitel für Wälder, Feuchtgebiete und Alpen, welche die Grundherren durch Hörige erschliessen liessen. Dabei kam es oft zu Nutzungskonflikten dieser Landleute untereinander, ein wichtiger Grund für adligen Schutz und Schirm.
Der Adel in der Krise
Für das Gebiet der späteren Eidgenossenschaft wurde bezeichnend, dass dieser Militärstand bald an Bedeutung verlor. Die hochadligen Edelfreien (nobiles)