Heilung aus der Begegnung. Hans Trüb
des Anblick all unseres Elends, das uns anpackt und würgt,
haben wir ein unaustilgbar sicheres Gefühl für das, was uns emporhebt.
(Blaise Pascal)
Geleitwort zu ersten Ausgabe 1951
von Martin Buber
Wenn der Träger eines »geistigen Berufs« mitten in seiner Tätigkeit Mal um Mal innehalten muss, weil er der Paradoxie gewahr wird, die er betreibt (jeder dieser Berufe steht auf paradoxem Grund), ist schon etwas Erhebliches geschehen. Bedeutend wird dieses Geschehen aber erst, wenn er sich nicht damit begnügt, solche flüchtigen Erschütterungen einer wohlgefügten Welt in die Register des Gedächtnisses aufzunehmen, sondern sich immer wieder, entweder sogleich nach der Vollendung der so unterbrochenen Tätigkeit oder eine Weile danach, in einem angestrengten und unbefangenen Besinnen mit der aktuellen Problematik, auf die er hingewiesen worden ist, befasst. Und wenn er sich ihr stellt und mit ihr und mit dem Einsatz der lebenden und leidenden Person zu immer größerer Klärung jener Paradoxie vordringt. So wird und wächst ein geistiges Schicksal mit seiner eigentümlichen, zögernden, tastenden, tastend ringenden, schwerfällig überwindenden, überwindend erliegenden, erliegend erleuchteten Produktivität. Solcherart ist Hans Trübs Schicksal gewesen.
Aber der besondere Beruf, um den es hier geht, ist unter allen der paradoxeste, ja er ragt in seiner Paradoxie aus der Sphäre der geistigen Berufe nicht minder hervor als dieses geordnete geistige Treiben insgesamt aus der Gesamtheit der professionellen Wirksamkeit. Gewiss, auch der Anwalt, der Lehrer, der Priester und nicht minder der Arzt des Leibes – jeder von ihnen bekommt, sofern ihm ein echtes Gewissen seines Berufs zuteil geworden ist, zu spüren, was es heißt, sich mit den Nöten und Bangnissen des Menschen und mit der Befriedigung seiner Bedürfnisse zu befassen. Aber dieser hier, der »Psychotherapeut«, dem es aufgetragen ist, Warter und Heiler kranker Seelen zu sein, begegnet jeweils der nackten Abgründigkeit des Menschen, seiner abgründigen Labilität, der schlimmen Zugabe, die bei der Erwerbung jenes der Natur unbekannten Prozesses mit in den Kauf genommen werden musste, den man im spezifischen Sinne als Psychik bezeichnen darf.1 Und zwar begegnet er ihr nicht wie der Priester mit heiligem Gnadengut oder doch heiligem Wortgut ausgerüstet, sondern als bloße Person, über nichts anderes verfügend als über die Tradition seiner Wissenschaft und die Theorie seiner Schule. Es ist verständlich genug, dass er den ihn antretenden Abgrund zu objektivieren und den tobenden Nichts-als-Prozess in ein einigermaßen handhabbares Ding umzuwandeln bestrebt ist. Dabei leistet ihm der von den Schulen mannigfaltig ausgearbeitete Begriff eines Unbewussten wesentliche Hilfe. Der Wirklichkeitsbereich dieses viel genannten Begriffs ist meinem Verständnis nach unterhalb der Aufspaltung menschlicher Existenz in körperliche und seelische Phänomene gelagert.2 Aber jeder seiner Gehalte vermag in jedem Augenblick in die Dimension der Introspektivität einzutreten und lässt sich daher als dem psychischen Bezirk zugehörig erklären und behandeln. Auf dieser mit großer Weisheit und Kunst ausgebildeten Grundlage wird nun – im Allgemeinen unter Beistand des Patienten, der sich die beruhigende und gewissermaßen orientierende, ja gewissermaßen zentrierende Prozedur zumeist wohlgefallen lässt – das paradoxe Geschäft des Psychotherapeuten mit Geschick und auch mit Erfolg betrieben. Bis einer in einem bestimmten Fall, in bestimmten Fällen über das, was er tut, erschrickt, weil ihn die Ahnung überkommt, dass, zumindest in solchen Fällen, aber letztlich vielleicht in allen, etwas ganz anderes von ihm gefordert ist: etwas der geläufigen Berufsökonomik Unangemessenes, ja die geregelte Berufsausübung zu gefährden Drohendes. Nämlich, dass er zunächst den Fall aus der methodengerechten Versachlichung ziehe und selber, aus der in langer Lehre und Übung errungenen und durch sie verbürgten professionellen Überlegenheit tretend, in die elementare Situation zwischen einem anrufenden und einem angerufenen Menschen eingehe. In Wahrheit ruft der Abgrund nicht die zuverlässig funktionierende Aktionssicherheit, sondern den Abgrund an, das heißt, die unter den durch Lehre und Übung errichteten Strukturen verborgene, die selber vom Chaos umwitterte, selber mit den Dämonen vertraute, aber mit der demütigen Macht des Ringens und Überwindens begnadete und immer neu so zu ringen und zu überwinden bereite Selbstheit des Arztes.
Aus dem Vernehmen dieses Anrufs bricht in dem exponiertesten der geistigen Berufe die Krisis seiner Paradoxie aus. Der Psychotherapeut wird, eben wenn und weil er Arzt ist, aus der Krisis in die Methodik zurückkehren, aber als ein Veränderter in eine veränderte. Als einer nämlich, dem die Notwendigkeit aufgegangen ist, dass echt personenhafte Begegnungen zwischen dem Hilfsbedürftigen und dem Helfer sich im Abgrund des Menschseins begeben, wird er zurückkehren in eine modifizierte Methodik, in der, von dem in solchen Begegnungen Erfahrenen aus, auch das Ungewohnte, das den herrschenden Denkungsweisen Widerstrebende und den stets erneuten personenhaften Einsatz Heischende seinen Platz findet.
Ein hier nur allgemein skizzierbares Beispiel mag zur Klärung des Dargelegten dienen und noch etwas darüber hinaus weisen. Ein Mensch lädt eine Schuld auf sich gegenüber einem anderen und verdrängt sein Wissen um sie. Von dem fundamentalen Lebensvorgang der Schuld ist in der psychoanalytischen Literatur nur selten die Rede, und dann im Allgemeinen nur seiner subjektiven Seite nach, nicht im Umkreis des zwischenmenschlich Ontischen, das heißt nur seine psychische Projektion und deren Ausschaltung durch die Verdrängungsakte erscheint hier relevant. Erkennt man aber den ontischen und zwar überpersonenhaft ontischen Charakter der Schuld, erkennt man also, dass die Schuld nicht in der menschlichen Person steckt, sondern die Person höchst wirklich in der Schuld steht, die sie umfängt. Dann wird es offenbar, dass auch die Verdrängung des Schuldwissens nicht als nur-psychologisches Phänomen zureichend zu erfassen ist. Sie hindert ja den Schuldigen, die (von der »Buße« toto genere verschiedene) Sühne zu vollziehen, deren ontisches Wesen freilich von moralphilosophischen und moraltheologischen Erörterungen eher verdunkelt worden ist, und hindert damit, auf den überpersönlichen Tatbestand im Sinne der Zurechtbringung der in den menschlichen Konstellationen erzeugten Störung einzuwirken – einer Zurechtbringung, als deren persönliche Begleiterscheinung allein die »Reinigung« der Seele anzusehen ist. Sühne kann nicht etwa bloß an dem Menschen geschehen, dem gegenüber man sich schuldig gemacht hat (und der etwa tot ist), sondern an allem und jedem, je nach dem Gang des Einzellebens, je nach seiner Umgebung und seinen Umständen. Es geht einzig darum, dass das Leben von dem Faktum der Schuld aus nicht zwar als ein »büßendes«, wohl aber als ein sühnendes, ein »gutmachendes« gelebt werde. Nun jedoch sei der Fall so, dass der Mensch, der sein Schuldwissen verdrängt hat, einer Neurose verfällt. Er kommt zum Psychotherapeuten um Heilung. Der holt nun das von ihm innerhalb des alles-enthaltenden Mikrokosmos des Patienten Bevorzugte – Ödipuskomplex oder Minderwertigkeitsgefühl oder kollektive Archetypik – aus dem Unbewussten ins Bewusstsein und verfährt damit sodann nach den Regeln seiner Weisheit und Kunst. Die Schuld bleibt ihm fremd oder uninteressant. In einem Fall denke ich besonders an eine Frau, die einer anderen den Mann nahm und später selber das gleiche Los erlitt und sich nun »in die Seele verkroch«. Von unbestimmten Qualen heimgesucht und zerrüttet, gelang es dem Analytiker (einem namhaften Freudschüler), die »Heilung« so gründlich zu betreiben, dass ihre Pein völlig aufhörte, die Patientin »aus der Seele hervorkam« und in einer Fülle von angenehmen, von ihr als freundschaftlich empfundenen gesellschaftlichen Beziehungen ihr Leben fort- und ablebte. Jene unablässige schmerzensreiche Mahnung an das Ungesühnte, an das gestörte und zu Recht zu schaffende Verhältnis zum Sein war ausgetilgt. Ich nenne diese erfolgreiche Kur die Auswechslung des Herzens. Das zu restloser Zufriedenheit funktionierende Kunstherz tut nicht mehr weh; das vermag nur eins von Fleisch und Blut.
Dem Psychotherapeuten, der die Krisis seiner Berufsparadoxie durchschritten hat, ist der Weg solcher Heilungen versperrt. Er hat in einer entscheidenden Stunde mitsamt dem ihm anvertrauten und ihm vertrauenden Kranken den geschlossenen Raum der Seelenbehandlung verlassen, in dem der Analytiker kraft seiner systematischen und methodischen Überlegenheit waltet, und ist mit jenem in die Luft der Welt getreten, wo Selbstheit der Selbstheit ausgesetzt ist. Dort, in dem geschlossenen Raum, wo man die isolierte Psyche, der Neigung des in sich verkapselten Patienten gemäß, ergründet und verarztet, wird dieser in immer tieferen Schichten auf seine Innerlichkeit als auf seine eigentliche Welt verwiesen. Hier draußen, in der Unmittelbarkeit des menschlichen Gegenüberseins, muss und kann die Verkapselung durchbrochen und dem in seinem Verhältnis zur