Erziehung durch Beziehung. Rolf Arnold

Erziehung durch Beziehung - Rolf Arnold


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1977).

      Zugegeben, dieses Bild ist etwas drastisch und nicht konform mit den glücklicherweise geltenden Tierschutzbestimmungen, aber es ist anschaulich. Es zeigt nämlich, dass ein lebender Organismus, wie auch der Mensch einer ist, stets selbstgesteuert und kaum sicher vorhersagbar reagiert. Man kann deshalb auch nicht vorausberechnen, welche Wirkungen eine Erziehungsmaßnahme, eine Intervention oder eine Information im Gegenüber auslösen wird. Das Gegenüber kann sich gelangweilt abwenden, weil es die beginnende Ermahnung bereits tausendmal gehört hat, es kann eine Diskussion beginnen oder es kann nachdenklich werden. »Wir sind überwiegend mit uns selbst beschäftigt« (Spitzer 2007), lehrt uns die Hirnforschung. Dies gilt auch dann, wenn wir erziehen. Und es gilt auch für diejenigen, auf die unsere Erziehungsmaßnahme gerichtet ist.

      Wenn wir überwiegend mit uns selbst beschäftigt sind, während wir erziehen, dann müssen wir unseren Erziehungsblick auf uns selbst wenden! Was hat mich selbst erzieherisch geprägt und bewegt? Was bewirke ich eigentlich, wenn ich nichts bewirke, sondern mir lediglich treu bleibe? Was entgeht mir, wenn ich ein Kind nicht so zu sehen vermag, wie es ist, sondern so, wie ich bin, um eine alte Einsicht des Talmud aufzugreifen (vgl. Wahl/Lehmkuhl 2015, S. 111).

      Doris, Mitarbeiterin in einer Kindertagesstätte, erklärt:

       »Für mich ist jedes Kind eine ganz eigene Wirkungseinheit. Wir können letztlich nicht wissen, was dieses Kind mit sich herumträgt, wie es tickt und worauf es anspringt. Ich musste mühsam lernen, dass Erziehung von uns ein tastendes Verhalten erwartet, keine Intervention! Nur wenn es uns gelingt, mit dem Kind einen minimalen Gleichklang zu erreichen, können wir eine Resonanz auslösen und wirksam werden. Dies erfordert eine Bewegung von mir als Erziehungsperson. Diese musste ich zunächst üben und entwickeln, bevor ich in meiner Erziehungsarbeit wirksam wurde!«

      Für Eltern, Lehr- und Erziehungspersonen ergeben sich aus diesem Sachverhalt der tastenden Suche zahlreiche Fragen:

      •Folge ich mit meinen Erziehungshandlungen eher einer Welt des Steines oder einer Welt des Hundes (als Beispiel für ein lebendiges Gegenüber)?

      •Sind meine Erwartungen an Erziehungsratgeber eher steinpädagogischer oder eher lebenspädagogischer Art?

      •Wie gehe ich mit einem selbstgesteuerten Gegenüber um, wenn ich für sein Wohlergehen und sein Gelingen verantwortlich bin?

      •Welche eigenen Bilder und Erfahrungen melden sich in mir zu Wort, wenn ich erziehe?

      •Was kann ich selbst verändern, damit gelingende Erziehung wahrscheinlicher wird?

      Nur Scharlatane gaukeln die Verfügbarkeit sicherer Erziehungsmittel vor – ohne allerdings halten zu können, was sie uns versprechen!

      Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler regen demgegenüber zur Selbstreflexion, zur Erweiterung der eigenen Erziehungsperspektiven und zur Selbstveränderung an. Am Anfang unseres Elternseins steht nämlich die eigene Erziehung, d. h. die Summe der Bilder und Erinnerungen, die wir als kleine Menschen selbst erleben durften oder mussten. Diese geben wir weiter, indem wir mit unseren Aktionen und Reaktionen die erwähnten Bilder ausdrücken. Damit konservieren wir diese, statt sie zu verändern. Deshalb verändern sich auch die Erziehungskulturen in unserer Gesellschaft nur sehr langsam. Die alten Bilder von Gehorsam, Drohung und Anpassung bleiben zählebig wirksam, obgleich unsere Einsichten und Möglichkeiten uns eigentlich eine andere Erziehungskultur abverlangen.

      In diesen frühen Erfahrungen habe ich selbst erfahren, was es heißt, erzogen zu werden. Hier habe ich gespürt und beobachtet,

      •wie Eltern ihre Ziele und Erwartungen ausdrücken,

      •wie sehr sie dabei darauf Wert legen, dass man ihnen folgt,

      •wie sie dabei auf die Bedürfnisse ihres Kindes Bezug nehmen oder über diese hinweg gehen,

      •wie sie loben, Anregungen geben, ermunternd zur Seite stehen,

      •wie sie sich aufregen (»schimpfen«), strafen und wieder versöhnen usw.

      Karin berichtet:

       »Zunächst fand ich das ja ziemlich daneben: Da kam ich in einen Kurs zum Thema ›Wie man sein Kind erzieht‹ und sollte über die Frage nachdenken, was mich erzieherisch geprägt und bewegt hat. Doch die erste Übung war umwerfend. Nie hätte ich gedacht, wie ähnlich ich meinen eigenen Eltern bin. Zwar rede ich mehr mit meinen Kindern, als meine eigenen Eltern dies mit uns taten, doch die Art, zu ermahnen, bisweilen gebetsmühlenartig meine Kinder mit den immer gleichen Klagen zu konfrontieren, auch die Frage nach den schlechten Emotionen im Kontakt mit meinen Kindern – in all diesen Punkten bin ich wie meine Eltern. Irgendwie fühle ich mich nur dann als Erziehungsverantwortliche, wenn ich in den gleichen Ton verfalle wie sie. Das ist echt merkwürdig!«

      Wirksame Erziehung beginnt mit Selbstreflexion. Zunächst muss ich mein eigenes Erziehungsverhalten gründlich reflektieren. Erst dann kann ich anfangen, darüber nachzudenken, ob ich zu meinen Verhaltensweisen greife, weil sie erwiesenermaßen wirksam sind oder nur deshalb, weil dies die Erziehungsbilder sind, die ich kenne und die deshalb am leichtesten verfügbar sind. Doch woher habe ich die Bilder, die mein Erziehungshandeln immer wieder prägen?

      Vorschlag: Prüfen Sie ehrlich und selbstkritisch, ob und wann Sie belehren, insistieren, labeln (= mit einem Etikett versehen), disziplinieren, ermahnen oder richten.

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      Die meisten Menschen bejahen in ihrer nüchternen Selbsteinschätzung die erwähnten Erziehungsbilder. Die damit verbundenen Verhaltensweisen prägen unseren Erziehungsalltag. So insistieren wir immer mal wieder gegenüber unseren Kindern oder Schülerinnen und Schülern, obgleich uns die Erfahrung lehrt, dass wir dadurch allenfalls eine kurzfristige, aber keine dauerhafte Verhaltensänderung erreichen. Mit ähnlich fragilen Wirkungen ermahnen und disziplinieren wir auch. Bisweilen greifen wir als richtende Instanz auch durch, indem wir Strafen verhängen.

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      Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte fühlen sich oft alleingelassen, überfordert oder unter Rechtfertigungsdruck. Sie sehen sich hohen Erwartungen von Politik und Öffentlichkeit ausgesetzt, die von ihnen »Mehr Mut zur Erziehung!« fordern oder gar vor einem »Erziehungsnotstand« warnen. Häufig wird deutlich zur Entschiedenheit und Klarheit aufgerufen. Auch ein »Lob der Disziplin« ist im Angebot der Erziehungsratgeber. Dem interessierten Leser, der interessierten Leserin solcher Appelle wird dadurch der Eindruck vermittelt, es gehe letztlich nur darum, dass die Verantwortlichen endlich ihrer Verantwortung nachkommen sollten – alles andere ergebe sich ganz von selbst: »Reißt euch gefälligst am Riemen!« Und: »Schluss mit dem Schlendrian in den Kinderzimmern und Klassenzimmern!« – so lauten die Parolen.

      Selten finden Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrkräfte eine Anerkennung für ihre täglichen Bemühungen. Und kaum werden die nachdenklicheren Stimmen vernommen, die uns zu verstehen geben: »Erziehung war immer schon ein Thema!« Und: »Noch nie konnten alle Auswirkungen der Erziehung zuverlässig vorhergesagt werden!«

      Aus solchen nachdenklichen Feststellungen könnten alle, die mit ihrer Erziehung nicht mehr weiterwissen oder gar scheitern, viel Zuversicht schöpfen. So würden sie sich nicht mehr selbst unter Erfolgsdruck setzen, sondern könnten sich mit anderen austauschen und von ihren Niederlagen lernen. Allmählich könnten sie sich vom Machbarkeitswahn lösen und sich den Nachwachsenden wirklich zuwenden. Und sie würden verstehen, dass diese genauso anders und speziell sind, wie sie es dereinst gewesen sind.

      Der Abschied vom Machbarkeitswahn hilft uns, mit dem Widerspruch umzugehen, dass Erziehung zwar notwendig, in ihren Wirkungen aber nicht sicher kalkulierbar ist. Zu unterschiedlich sind die Kinder und Jugendlichen, und zu verschieden sind die Situationen, in denen sie leben. Immer wieder von Neuem rollt Sisyphos den Stein auf den Berg, nur um ihn hernach wieder hinabrollen zu sehen – lächelnd und nicht klagend (vgl. Müller 2016)!

      Das


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