ÖkoDharma. David R. Loy
in Angriff genommen wird. Die Unterbrechung der wirtschaftlichen Aktivitäten hat sich eigentlich kaum auf die Kohlenstoffemissionen oder das Tempo anderer Umweltzerstörungen ausgewirkt, aber die Reaktion auf Covid-19 hilft uns zu erkennen, dass soziale Veränderungen recht schnell geschehen können, sobald sie als notwendig erachtet werden.
Diese Beispiele verdeutlichen die Herausforderung für unser kollektives Bewusstsein. Die ökologische Bedrohung an sich ist für die Menschheit hundert- oder tausendmal gefährlicher als die Pandemie, aber werden wir rechtzeitig aufwachen, um »angemessen zu reagieren« (wie Zen-Koans uns ermutigen)?
Es ist wahrscheinlich, dass das Coronavirus den Menschen über einen Zwischenwirt wie das Schuppentier infiziert hat. Solche Ausbrüche sind nicht zufällig; sie sind vorhersehbar. Der Exekutivdirektorin des Umweltprogramms der Vereinten Nationen Inger Andersen zufolge sind sowohl die Covid-19-Pandemie als auch die anhaltende Klimakrise Botschaften aus der Umwelt: Die Menschheit übt zu viel Druck auf die Natur aus, mit schädlichen Folgen. Wenn wir es versäumen, uns um den Planeten zu kümmern, dann kümmern wir uns nicht um uns selbst, warnt sie. Auch wenn unsere unmittelbare Priorität darin bestehen müsse, die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern, »muss unsere langfristige Antwort den Verlust an Lebensraum und biologischer Vielfalt bekämpfen. Noch nie zuvor gab es so viele Gelegenheiten für Krankheitserreger, von Wild- und Haustieren auf den Menschen überzugehen. Unser Verhalten, das zu einer anhaltenden Erosion der Wildnis führt, hat uns in eine beunruhigende Nähe zu Tieren und Pflanzen gebracht, die Krankheitserreger beherbergen, welche auf den Menschen überspringen können.«
Anderson betont, dass drei Viertel aller neu auftretenden Infektionskrankheiten auf den Kontakt mit Wildtieren zurückzuführen sind. Ebola, das respiratorische Syndrom des Mittleren Ostens (MERS), das schwere akute respiratorische Syndrom (SARS), das West-Nil-Virus und das Zika-Virus sind neben vielen anderen von Tieren auf Menschen übergesprungen. Die Weltgemeinschaft hatte einigermaßen Glück, ihre Ausbreitung eindämmen zu können, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis so etwas wie die Covid-19-Pandemie kommen würde – angesichts der fortgesetzten Erosion natürlicher Lebensräume, auf die sich Anderson bezieht. Nichtsdestotrotz ist das Grundproblem viel größer als solche Störungen, wie Vandana Shiva hervorhebt:
Neue Krankheiten entstehen, weil ein globalisiertes, industrialisiertes, ineffizientes Nahrungsmittel- und Landwirtschaftsmodell in den ökologischen Lebensraum anderer Arten eindringt und Tiere und Pflanzen manipuliert, ohne ihre Integrität und Gesundheit zu respektieren … Der gesundheitliche Notstand, für den uns das Coronavirus sensibilisiert, hängt mit dem Notstand des Aussterbens und Verschwindens von Arten zusammen, und er hängt mit dem klimatischen Notstand zusammen. Alle diese Notlagen wurzeln in einer mechanistischen, militaristischen, anthropozentrischen Weltsicht des Menschen, welche uns als ein von anderen Lebewesen, die wir besitzen, manipulieren und kontrollieren können, getrenntes und ihnen überlegenes Wesen begreift. Sie wurzelt auch in einem Wirtschaftsmodell, das auf der Illusion grenzenlosen Wachstums und grenzenloser Gier beruht und systematisch die Grenzen des Planeten sowie die Integrität von Ökosystemen und Arten verletzt.
Die Covid-19-Pandemie offenbart das Offensichtliche: Wir sind eins – ob es uns gefällt oder nicht. Das offenbart auch der Klima-Notstand und die größere ökologische Krise, aber offensichtlich nicht so dramatisch, dass wir der Lektion Beachtung schenken. Wenn die USA fossile Brennstoffe verheizen, sind die Kohlenstoffemissionen nicht durch nationale Grenzen zu beschränken. Wenn Japan Atommüll im Ozean entsorgt, bleiben diese Giftstoffe nicht in den japanischen Hoheitsgewässern. Dadurch wird ein Grundproblem unserer Ansammlung von mehr als zweihundert kleinen Göttern (Nationalstaaten) deutlich, von denen jeder für nichts Größeres als sich selbst verantwortlich ist, obwohl er direkt an seine Nachbarn angrenzt. Die ökologische Krise, die – wie die Pandemie – die heute vorherrschende sektiererische Agenda in Frage stellt, offenbart, dass unsere Schicksale untrennbar miteinander verbunden sind.
Aber Covid-19 erinnert uns auf eine weitere, noch grundlegendere Weise daran, dass wir alle eins sind: weil unsere Körper organisch eins sind mit der Erde. Um die Illusion des menschlichen Getrenntseins auszuräumen, versuchen Sie einfach mal, für einige Minuten nicht zu atmen oder für einige Tage kein Wasser zu trinken, und nehmen Sie wahr, was passiert. Jeder von uns ist Teil eines großen ganzheitlichen Systems, das durch uns zirkuliert. Darüber hinaus sagt uns die biologische Forschung, dass es in unserem Körper viel mehr Mikroben – Bakterien und Viren – gibt als eigene Zellen und dass die meisten von ihnen für unsere Gesundheit nicht nur nützlich, sondern essenziell sind.
Es ist an der Zeit, dass wir uns der größeren Auswirkungen bewusst werden. Der letztendliche Ursprung der Pandemie ist derselbe wie das, was dieses Buch als den letztendlichen Ursprung der ökologischen Krise identifiziert: unsere individuelle und kollektive Wahrnehmung des Getrenntseins von der Erde. Wenn wir nicht Wege finden, diese Täuschung und ihre gefährliche Konsequenz – unser Wohlergehen als vom Wohlergehen des Planeten getrennt zu sehen – anzugehen, sollten wir keine Zukunft erwarten, die uns glücklich macht.
Wir sind gewarnt worden …
Juli 2020 Boulder, Colorado
EINLEITUNG
AM RANDE DES ABGRUNDS?
Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die Menschheit heute vor ihrer größten Herausforderung überhaupt steht: Neben aufkeimenden sozialen Krisen bedroht eine selbstverschuldete ökologische Katastrophe die Menschheit, wie wir sie kennen, und (nach Ansicht einiger Wissenschaftler*innen) vielleicht sogar das Überleben unserer Gattung. Ich zögere, dies als Apokalypse zu bezeichnen, weil dieser Begriff heute mit dem christlichen Millenarismus assoziiert wird, also der Hoffnung, dass nach dem Untergang eine lange währende paradiesische Zeit bevorstehe. Aber die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ist sicherlich zutreffend: eine Apokalypse ist buchstäblich »eine Enthüllung«, die Offenbarung von etwas Verborgenem – in diesem Fall das Aufdecken der ominösen Folgen dessen, was wir der Erde und uns selbst angetan haben.
Traditionelle buddhistische Lehren helfen uns, als Einzelpersonen zu erwachen und unsere gegenseitige Abhängigkeit zu erkennen. Jetzt müssen wir auch prüfen, wie der Buddhismus uns dabei helfen kann, als Menschheit zu erwachen und auf diese Zwangslage einzugehen. Und welche Implikationen hat diese ökologische Krise für das heutige Verstehen und Praktizieren des Buddhismus? Das sind die Themen, die in diesem Buch erforscht werden.
Das erste Kapitel »Ist der Klimawandel das Problem?« bietet einen Überblick über unsere derzeitige Situation. Auch wenn die überwältigende Dringlichkeit des eskalierenden Klimawandels unsere ungeteilte Aufmerksamkeit und ernsthafte Anstrengung erfordert, müssen wir erkennen, dass das nicht das grundlegende Thema ist, mit dem wir heute konfrontiert sind. Denn die »globale Erwärmung« ist nur Teil einer viel umfassenderen ökologischen und sozialen Krise, die uns zwingt, über die Werte und die Ausrichtung unserer mittlerweile globalen Zivilisation nachzudenken. Das muss betont werden, da viele Menschen davon ausgehen, dass unsere Wirtschaft und Gesellschaft auch weiterhin in der gleichen Weise werden funktionieren können, wenn wir nur schnell genug auf erneuerbare Energiequellen umstellen. Wir müssen erkennen, dass der Klimawandel nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs ist, das dringendste Symptom eines Dilemmas, das tiefere Folgen hat.
Das Kapitel untersucht diese Folgen, indem es sich den aktuellen Geschehnissen widmet: den Ozeanen, der Landwirtschaft, den Grundwasserspeichern, den schwer abbaubaren organischen Schadstoffen, den nuklearen Unfällen, dem radioaktiven Abfall, der Weltbevölkerung und – aus buddhistischer Sicht besonders besorgniserregend – der Tatsache, dass wir uns bereits tief im sechsten großen Artensterben des Planeten befinden, in dem ein Großteil der Pflanzen- und Tierarten der Erde sehr schnell verschwindet. Und das ist lediglich eine Momentaufnahme. Diese Veränderungen treten so schnell ein, dass vieles von dem, was ich hier schreibe, wahrscheinlich schon überholt ist, wenn dieses Buch veröffentlicht wird. Sie können dieser Litanei Ihr eigenes »Lieblingsproblem« hinzufügen (wie wäre es mit dem Verschwinden der Bienenvölker?), aber es muss auch eine andere Dimension betont werden: die »Schnittmenge« dieser Umweltfragen mit Anliegen im Bereich der sozialen