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ist das Interessante an Polanyis historischer Analyse, dass man an den 1920er- und 30er-Jahren sehen kann, wie offen die politische Situation war. Es war nicht absehbar, von welcher politischen Seite die Wiedereinhegungen und Regulierungen, die postliberalen Antworten auf die Krise des liberalen Kapitalismus kommen. Heute wissen wir, dass sich Nationalsozialismus und Faschismus gegen die sozialistischen und kommunistischen Projekte durchgesetzt haben; auch heute lässt sich erkennen, dass es wieder verschiedene postliberale Projekte gibt, die auf eine Wiedereinhegung des Kapitalismus zielen. Zwar zeigen sich nicht alle erstarkten rechten und rechtspopulistischen Akteure als radikal neoliberalismuskritisch – das Spektrum ist äußerst heterogen, wie wir immer noch innerhalb der AfD, aber zum Beispiel auch bei den rechten skandinavischen Parteien sehen – wir erleben aber in Ungarn, in Polen oder auch in Frankreich eine im wirklich sprichwörtlichen Sinne national-soziale Politik, wie wir sie historisch in Deutschland auch von der NSDAP kennen, die tatsächlich ebenfalls ein postliberales Projekt der Wiedereinbettung ist. Damit zeigt sich die Offenheit der Transformation: Es gibt verschiedene Kräfte, die den Anspruch der Gestaltung erheben. Nicht jede postliberale Antwort oder jeder postliberale Protest ist emanzipatorisch oder progressiv. Auch wenn wir uns natürlich in einer ganz anderen Situation als in der von Polanyi analysierten Zwischenkriegszeit befinden, erleben wir doch eine ähnlich offene Konstellation.
JONAS ZIPF:
Ähnliche historische Parallelen werden momentan immer häufiger, gerade im Osten Deutschlands, bemüht. In der Pandemie erklingt der Transformationsbegriff plötzlich auch in der Kultur. Die Kulturpolitische Gesellschaft, der Kulturrat, alle möglichen Dach- und Fachverbände verwenden diesen Begriff. Jeder verwendet ihn anders, einige Diskussionen verlaufen noch sehr ungenau. Schon steht der Vorwurf im Raum, dass der Begriff eine kulturpolitische Ummantelung für die gleichzeitig im politischen Hintergrund längst begonnenen Kürzungsdiskussionen sei. Lässt sich da von den historischen Analogien lernen? Welchen Einfluss können denn Gestalter*innen und Künstler*innen auf solche offenen Situationen überhaupt nehmen?
SILKE VAN DYK:
Zwei Punkte dazu. Erstens gälte es, das vorhandene rebellische Potenzial in der Kultur oder Kunst zu analysieren. In der Kritischen Theorie wird die These der Kulturindustrie schon seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts untermauert: Kunst und Kultur finden, so die These, vornehmlich in ihrer verwerteten, angepassten und damit nicht mehr subversiven Form statt. Weitergeführt wurde der Gedanke in Ansätzen, die analysieren, wie im Neoliberalismus selbst Kritisches und Subversives in Ressourcen einer flexibilisierten Produktion und Gesellschaft umgearbeitet werden. Das könnte durchaus eine Rolle bei der Frage spielen, warum die künstlerische oder kulturelle Perspektive aus den aktuellen Transformationsdebatten so sehr herauskippt. Zweitens wird Gestaltung innerhalb des Bereichs der Kultur und Kunst vielleicht immer noch allzu sehr im engeren Wortsinne von rein ästhetischem Design verstanden und eben nicht im Sinne von politischer Gestaltung. Dabei postuliert doch schon vor hundert Jahren das Bauhaus ein breiteres Design-Verständnis: Dass Ästhetik immer politisch ist, dass jede Form einen Inhalt transportiert. Die Kernfrage macht sich tatsächlich an der in der Postwachstums- und Degrowth-Debatte gebräuchlichen Gegenüberstellung von Transformation by Desaster vs. Transformation by Design fest. Ein derartig breites Begriffsverständnis von Design beinhaltet selbstverständlich auch die künstlerische oder kulturpolitische Gestaltung von Transformation.
FRIEDRICH VON BORRIES:
Stellt euch vor, wir sollten ein nachhaltiges Gebäude entwerfen. Die Techniker*innen schlagen vor, eine künstliche Belüftungs- und Klimatisierungsanlage einzubauen, die optimal zu den Wind- und Wetterbedingungen passt, vollautomatisiert auf die Raumbelegung reagiert, die Jalousien betätigt usw. usf. Die Sozialwissenschaftler*innen stellen fest, dass die Nutzer*innen das überhaupt nicht mögen und total paralysiert reagieren, wenn plötzlich die Jalousie runterfährt und sie eigentlich nicht wissen, warum. Beide haben aber keine Lösung dafür, was sie jetzt machen sollen. Genau dafür, wie man mit diesem Dilemma umgeht, dass eine bestimmte technische Lösung rechnerisch, ökobilanzseitig perfekt aufgeht, aber von den Nutzer*innen nicht angenommen wird, braucht es die Leute, die Lösungen gestalterisch, explorativ, iterativ, spielerisch entwerfen und andere Vorschläge machen. Die kommen aber in unseren bisherigen gesellschaftlichen Problemlösungsmodellen nicht vor. Auch die ganze manageriale Praxis sieht doch ein iteratives und kreatives Vorgehen überhaupt nicht vor. Deshalb kommen die Unternehmen ja auch mit der Krise nicht zurecht. Ich behaupte dabei übrigens gar nicht: Künstler*innen, Gestalter*innen, Architekt*innen können es besser. Eher stelle ich fest, dass die bisherigen Problemlösungsmodelle an ihre Grenzen geraten sind und wir deshalb andere ausprobieren müssen. Ob die aus der Kunst, aus dem Design, aus der Architektur kommen – als gestalterisch agierender Mensch würde ich dazu ja sagen: Das entwerfen wir im Prozess und finden es heraus. Aber genau dieses zunächst ergebnisoffene Arbeiten, das ständige Verändern im Prozess, was ja das Wesen von Transformation ausmacht, kommt als Handlungsmodell nicht vor. Das gilt es zu üben, zu lernen, zu erproben!
SILKE VAN DYK:
Gleichzeitig gibt es aber in den progressiven Bewegungen der jüngeren Vergangenheit eine Tendenz hin zur Technokratie, eine Tendenz dazu, sich an Kenntnissen der Wissenschaft festzuhalten und dafür zu plädieren, diese umzusetzen. Das ist eine Entwicklung, die wir zum Beispiel in der Fridays-for-Future-Bewegung sehen, die das Motto „Listen to the Science“ als Scharnier versteht und dafür wirbt, dass die Politik jetzt endlich exekutieren soll, was die Wissenschaftler*innen schon lange sagen. Nehmen wir nur die Autorin und Aktivistin Naomi Klein, die den Klimawandel als ein Geschenk an die Linke beschreibt, weil er objektiv notwendig macht, was die Linke doch immer schon wollte. Ich halte diese Tendenzen für gefährlich, weil ich glaube, die Suspendierung von Politik, Streit und Auseinandersetzung ist undemokratisch, auch wenn sie aus den normativ richtigen Gründen erfolgt. Natürlich sollen wissenschaftliche Erkenntnisse eine zentrale Rolle spielen, sowohl was den Klimawandel oder die Pandemie angeht – aber die Entscheidung, was damit zu machen ist, ist einfach eine politische. Dieses technokratische Verständnis von Transformation, dass progressive Politik jetzt nur noch das umzusetzen habe, was die Wissenschaftler*innen ihr sagen, versperrt den Blick auf das, was Friedrich von Borries einfordert: die eher suchenden, kreativen Prozesse.
JONAS ZIPF:
Ich möchte an dieser Stelle ein spezifisches Transformationspotenzial des Theaters einbringen: das Erzählen von Geschichten. Und zwar in zweierlei Richtungen: Zum einen als Erzählen von utopischen Geschichten, die nach dem fragen, was außerhalb dessen steht, was gerade möglich scheint. Was ist nach der Transformation? Welche Gelingensgeschichten beschreiben uns, wie wir zusammenleben wollen? Welche Dystopien zeigen uns, wo es hingehen kann, wenn die Transformation nicht gelingt bzw. gestaltet wird? Zum anderen als Mittel der Inklusion: Wir haben deswegen Inklusion als dritten Begriff bestimmt – und nicht etwa Diversität oder Emanzipation –, weil wir keine Zustandsbeschreibungen identitätspolitischer Stellungskriege einbeziehen wollen, sondern lieber etwas beschreiben, was vielleicht als Gelingen in der Zukunft liegt. Das Geschichtenerzählen ist ein probates und dem Theater innewohnendes Mittel, um Hochschwelligkeit runterzubrechen auf Erzählweisen, die die Menschen verstehen. Der von Silke van Dyk beschriebene aktivistische Diskurs hat in den letzten Jahren dagegen in Teilen einen technokratischen, szientistischen, wissenschaftsbezogenen Dreh bekommen, der ihn per se stark elitär macht. Die Kunst kennt das ähnliche Phänomen der Avantgarde: Diejenigen, die die Transformationen gestalten wollen und können, denken voraus, wissen schon ein bisschen mehr, schauen über den Tellerrand. Dabei kann die Gestaltung der Transformation nur gelingen, wenn eine kritische Masse der Gesellschaft mitkommt – gerade, wenn wir uns noch mal die Situation ausgangs der Weimarer Republik vergegenwärtigen.
FRIEDRICH VON BORRIES:
Da regen sich bei mir sofort Anti-Theater-Reflexe. Was du „Geschichten erzählen“ nennst, nenne ich Imagination von Zukunft, von möglichen Zukünften, extrem unwissenschaftlich, total spekulativ. Das ist eigentlich etwas, das Politik können sollte, sich aber kaum traut und schon gar nicht macht. Aber alle gestalterischen Dimensionen machen es, natürlich auch das Theater. Der große Unterschied zwischen Theater, Design und Architektur besteht aber darin, dass Design und Architektur immer auch die Machbarkeitsebene in den Blick nehmen: Wie setzen wir Zukunft denn nachher technisch und ökonomisch um? Das machen die Theaterleute nicht. Das Erzählen von Geschichten alleine reicht nicht. Denn Geschichten werden erzählt, und andere hören der Geschichte zu; d. h. wir haben einen aktiven