Im Keller ist es dunkel. Ursula Baur

Im Keller ist es dunkel - Ursula Baur


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ganz neue Geschichten, die jemand erfindet, erzählen viel von ihm, sind die seinen.

      Wir tragen Erinnerungen in uns und mit uns herum, die sich im Lauf der Zeit auch verselbständigen können.

      Jeder Mensch hat seine eigene Art, zu erinnern und zu vergessen.

      Das Vergessen ist genauso wichtig wie das Erinnern. Vergessen ist der subjektive Beitrag zur lebenswichtigen Ungewißheit. Wir leben davon, daß wir vieles zumindest nicht genau wissen. Wir vergessen Vergangenes, Gegenwärtiges und vor allem Zukünftiges. Das Vergessen des Zukünftigen kann wichtig sein, aber oft auch bedeutungslos, das Vergessen des Vergangenen befreiend – aber mitunter auch verhängnisvoll.

      Man vergißt auch nicht immer, was man vergessen will, ebensowenig entsprechen die Erinnerungen immer den eigenen Wünschen.

      Auch das, was unvergessen bleibt, kann sich verändern. Manches verblaßt mit der Zeit, tut nicht mehr weh, beglückt nicht mehr, oder man weiß nur noch ein paar Einzelheiten, das erinnerte Geschehen ist keine runde Geschichte geworden.

      Es gibt ausgedehnte Erinnerungen an fragmentarische Ereignisse, bei denen das meiste erst später hinzugekommen ist. Anderes erhält sich, ob es bedeutend war oder nicht, mit allen Nuancen, mit Farben, Formen, Gerüchen und Gefühlen, als wäre es erst gestern geschehen und nicht vor vielen Jahren.

      Daß man Vergangenes auf sich beziehen kann, bringt einen in Verbindung mit der Zeit, ergibt eine Linie, die beliebig verlängert werden kann, ist erst einmal der Anfang gemacht. Ist erst einmal der Anfang gemacht, hat man mehr Zeit als vorher, und weniger.

      Leidvolle Erfahrungen verlieren manchmal im Lauf der Jahre nichts von ihrer Bitterkeit, und andere Erlebnisse, die zunächst fast unscheinbar wirken, können in der Erinnerung immer heller strahlen und ziehen immer weitere Kreise, werden einem lieb und teuer und erhalten sich, vielleicht ein ganzes Leben lang.

      Die Rettung der Schmerzen

      Nur was man gründlich gespürt hat, kann man auch gründlich vergessen. Körperliche Schmerzen vergißt man im allgemeinen schneller und gründlicher als seelische. Man vergißt etwa Zahnschmerzen relativ bald, aber es scheint eine Art Datenbank für solche speziellen Schmerzen zu geben, von der man die entsprechenden Empfindungen abrufen und sich vergegenwärtigen kann.

      Anders verhält es sich mit den Wehen. Ich würde gar nicht sagen, daß sie sehr weh tun, wie ihr Name es nahelegt, aber sie haben etwas entschieden Gründliches, die Wehen.

      Frauen, die ihre Kinder ohne Narkose geboren haben, werden bestätigen, daß man sich die Schmerzen, die durch die Wehen hervorgerufen werden, nach relativ kurzer Zeit einfach kaum mehr richtig vorstellen kann. Es ist eine spezielle Art von Erlebnis, an das man sich bald nicht mehr genau erinnert, danach bleibt nur das undeutliche Gefühl von großer Anstrengung.

      Nur bei unserem ersten Kind kann ich mich tatsächlich noch ganz konkret an die Wehen erinnern, und das habe ich meiner damaligen Hebamme zu verdanken, und ihrer Vorliebe für eine populäre Sportart.

      Ich hatte das Buch „Mutterwerden ohne Schmerz“ gelesen. Darin werden die Wehen als „Kontraktionen“ bezeichnet, um gleich einmal die Vorstellung, daß es wehtun muß, auszuräumen. Dann sind noch bestimmte Atemtechniken beschrieben, mit deren Hilfe die Geburt schmerzfrei würde.

      Das macht allerdings die Unterstützung und Anwesenheit des Partners im Kreißsaal erforderlich. Mein Mann und ich, bestens durch dieses Buch vorbereitet, mußten die Hebamme um ihre Erlaubnis fragen – es war damals noch nicht üblich, daß Väter bei Geburten dabei waren.

      Sie war zunächst sehr empört über die Vorstellung einer schmerzfreien Geburt, sie empfand das wohl als berufsschädigend. Dann zog sie das Durchhaltevermögen meines Mannes in Zweifel: er werde bestimmt umkippen. „Bestimmt nicht“ – mein Mann bot ihr eine Wette an, und das gab den Ausschlag. Wetten gefiel ihr. Und, wie ich die nächsten zwei bis drei Stunden mit wachsendem Ärger feststellen mußte: Fußball. Fußball war ihr Haupt-, Leib- und Magenthema. Mein Mann war praktisch zu ihrer Unterhaltung da, und mußte mitreden, ob er wollte oder nicht – sonst hätte sie ihn womöglich weggeschickt.

      Und so kam es, daß der Gerd Müller ein Tor ums andere schoß, die meisten ziemlich unhaltbar, wie ich in allen Details erfuhr, während ich mit meinen „Kontraktionen“ kämpfte. Damals hätte ich die beiden Fußballfans am liebsten auf den Mond geschossen.

      Aber diese von Lobeshymnen auf Müller und von ausufernden Interpretationen dramatischer Spielsituationen begleiteten Wehen sind tatsächlich die einzigen, die ich mir heute noch vergegenwärtigen kann. Bei der Geburt unserer beiden anderen Kinder gab es – leider – nichts, was mich derart auf die Palme und zur Erinnerung gebracht hätte.

      Nicht gleich hab ich so über die sportliche Begleitung meiner Wehen gedacht. Ich hab es sogar eine Zeit lang richtig bedauert, daß die Fußballunterhaltung meine Erinnerung ‘stört’, fast als ob sie mir dadurch verdorben wäre.

      Erst später, als ich merkte, daß die Wehen ohne sportliche oder andere Zwischenfälle unwiderruflich dem Vergessen anheimfallen, fing ich an, die Dinge in einem milderen Licht, und schließlich mit Dankbarkeit zu sehen.

      Ich schau mir inzwischen sogar Bundesligaspiele an, manchmal.

      Safran

      Ein ruhiger Nachmittag im Sommer. Die Kinder spielen im Sand. Corinna, das Nachbarstöchterchen, gesellt sich zu uns, spielt beim Kuchenbacken mit. Die mit Wasser geformten Sandkuchen trocknen schnell. Es ist heiß.

      In meiner Hand liegt Corinnas halb feuchter und schon wieder – an der Oberfläche – halb zerfallener Sandkuchen. Ich werde gleich so tun, als äße ich ihn, und dann sagen, daß er wirklich gut geraten ist.

      Meine kleine Tochter will heute ihr Brüderchen in die Geheimnisse des Sandkuchenbackens einweihen. Wir haben ihm und uns gerade noch einmal die Siebensachen aufgezählt und vorgesungen, die man zum Backen eines guten Kuchens haben muß, und sind beim "Safran" angelangt, der „den Kuchen gehl“ macht.

      Wieder einmal erlebe ich die Begeisterung, die ich vor über zwei Jahrzehnten zum ersten Mal empfunden hatte – als kleine Sandkuchenbäckerin bei dieser Safran-Stelle im „Backe-backe-Kuchen-Lied“. Der „Safran“ hatte sich so faszinierend fremdartig angehört – und daß er den Kuchen „gehl“ macht -was bedeutete eigentlich „gehl“? Sicher etwas ganz besonders Interessantes!

      Auch als ich schon groß genug war, um meiner Mutter beim Kuchenbacken zu helfen, und wußte, daß 'gehl' schlicht und einfach 'gelb' bedeutet, behielt der Safran für mich dieses Aufregend-Exotische, als käme er von weither, aus einer anderen Welt.

      Als ich dann für meine eigene Familie Kuchen aus Zucker und Salz gebacken hab, mit Eiern, Schmalz, Milch und Mehl, ist mir wieder der Safran im Kopf herumgegangen, und manchmal hielt ich beim Einkaufen so ganz nebenbei Ausschau nach einem Päckchen oder Glas mit diesem faszinierenden Namen darauf – bis ich neulich im Supermarkt auf einem Regal ganz oben tatsächlich eine kleine runde Dose (aus Papier oder aus Blech?) mit der Aufschrift „Safran“ entdeckte.

      Ich war begeistert, diesen sagenhaften Safran vor mir zu sehen, und wollte schon danach greifen, doch gleich kamen mir Bedenken: ob die kleine Dose mit dem Safran in die Hand zu nehmen nicht verkehrt sein könnte – als ob ich mir nicht aneignen dürfte, was meine kindliche Bewunderung als Fernes, fast Unbegreifliches hervorgerufen hatte – ob mit dem Griff danach nicht sein Zauber vorbei wäre? Zögernd hab ich dann doch die kleine Dose auf das Förderband an der Kasse gelegt. Daheim nahm ich vorsichtig den Deckel ab.

      Ein Pulver, fast wie Staub, rötlich-bräunlich, war darin, mild und undeutlich-fremd roch es, wie eine eigenwillige Blume, und auch wieder zurückhaltend-schwach – wer weiß, wie viele Jahre diese kleine Safrandose schon auf dem Regal gelegen war?

      Da – ein Teil des Pulvers flog heraus – ich hatte in meiner Aufregung zu fest geschnauft beim Riechen! Wie leicht hätte alles weg sein können – es war ja bloß ein


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