Ekiden. Adharanand Finn
das überraschend für mich. Er will Feuerwehrmann werden. Er erzählt, dass sein Vater auch Feuerwehrmann sei. Doch als Teamkapitän muss er sicherlich der beste Läufer sein. Warum will er also nicht Profi werden?
Er lächelt schüchtern, fast so, als ob ihm die Frage unangenehm sei. Es stellt sich heraus, dass er nicht einer der besten Läufer ist. Er ist vor allem deswegen Kapitän, weil er der Älteste im Team und ein guter und recht beliebter Student mit guten sozialen Kompetenzen ist. Der Typ, der auch mit Fragen eines ausländischen Journalisten umgehen kann. „Die Karriere eines Ekiden-Läufers ist kurz“, sagt er. „Wenn deine Zeit vorbei ist, stecken sie dich hinter einen Schreibtisch. Und das auch nur, wenn es ein gutes Unternehmen ist. Andere Firmen entlassen dich einfach.“
Ich muss zugeben, dass sich das nicht mehr so toll anhört, wenn man es aus diesem Blickwinkel betrachtet. Als wir an der Bahn vorbei zurücklaufen, dreht dort eine Gruppe von drei Profiläuferinnen mit hohem Tempo ihre Runden. An ihren Gesichtern kann man ablesen, wie sie leiden, jede Einzelne scheint am Rande eines Zusammenbruchs zu stehen.
Wir laufen an ihnen vorbei und dann wieder zurück in den Wald.
„Wirst du für die Feuerwehr Ekiden laufen?“, frage ich unseren Kapitän.
„Ja“, antwortet er.
Ich frage ihn, warum er läuft. Was ihn dazu antreibt, weiter zu trainieren, ein Teil des Teams zu sein? Er sieht mich verdutzt an und läuft dann ohne etwas zu sagen weiter. Auf dem Waldweg sind unsere Schritte kaum zu hören. Nach etwa einer Minute blickt er zu Max hinüber, so als hoffe er, dass sich die Frage in Luft aufgelöst hat.
„Eigentlich laufe ich gar nicht so gern“, sagt er.
Dann zuckt ein kurzes Lächeln über sein Gesicht. Vielleicht ist er erleichtert, es endlich einmal ausgesprochen zu haben.
„In der Schule habe ich sehr viel Sport betrieben, doch im Laufen war ich eben besser als in den anderen Sportarten. Die Leute haben mich unterstützt und angespornt.“
Einige Monate später bekommt er seinen Job als Feuerwehrmann. Ich freue mich für ihn. Vielleicht kann er nun endlich mit dem Laufen aufhören. Oder er macht gegen seinen Willen weiter, nur um andere zufriedenzustellen.
Nach dem Training gehen wir in die Teamunterkunft. Das Haus gehört einem älteren Ehepaar und ist ein spitz zulaufendes Holzgebäude mit zwei schlafsaalähnlichen Zimmern mit Stockbetten für die Sportler. Im Waschraum wird es eng, und so sitzen wir zu dritt oder zu viert in der großen verfliesten Badewanne, voll mit dampfend heißem Wasser. Nun, da das Training vorbei ist, unterhalten sich alle entspannt und lachen.
Nachdem wir sauber sind, versammeln wir uns im neonbeleuchteten Esszimmer. Lange Tische mit grünen, geblümten Tischtüchern, auf denen sich das Essen stapelt. Da sind Schüsseln mit Suppe und in Streifen geschnittenem, rohem Gemüse. In der Mitte eines jeden Tisches stehen kleine Wärmeplatten mit Töpfen, in denen sich eine Suppe mit Fisch und Seetang befindet. Max und ich kommen als Letzte. Zwei Plätze gegenüber von Kenji sind für uns reserviert, die Essstäbchen liegen bereits ordentlich auf ihren Haltern am Tisch.
Ich bin zwar Vegetarier, doch ich denke, dass ich mich diesmal etwas anpassen muss. Die Töpfe sind voll mit Gemüse, Nudeln und Fisch. Ich versuche, die Fischstücke so gut wie möglich zu vermeiden, und fülle meine Schale mit dem Rest. Zusätzlich gibt es noch genügend Reis, an dem man sich sattessen kann. Und Misosuppe. Und Natto – eine streng riechende Beilage aus fermentierten Sojabohnen. Das erste Mal, als ich Natto kostete, war vor zwölf Jahren, als ich meinen Bruder besuchte und er den Ekiden für seine Schule am Tag nach dem Nacktfest lief. Ich konnte es damals nicht ausstehen, und die Japaner machen sich einen Spaß daraus, es unbedarften Fremden vorzusetzen und es sie probieren zu lassen. Abgesehen davon, dass es nach nassen, stinkenden Stiefeln riecht, ist es auch noch mit einem ekeligen Schleim bedeckt. Doch heute probiere ich es zum zweiten Mal, und irgendwie schmeckt es gar nicht einmal schlecht.
„Natto strotzt nur so von gesunden Bakterien“, meint Max. Genauso wie Miso.
„Die japanische Küche kennt viele fermentierte Gerichte, so wie diese hier“, erklärt Max. „Sie fördern die Produktion guter Mikroorganismen in deiner Darmflora, die wiederum deine Verdauung anregen, was wichtig für die Gesundheit und das generelle Wohlbefinden ist. Speziell für Sportler ist das gut, denn sie können dadurch mehr Energie aufnehmen.“
Alle Sportler, die ich in Japan treffe, folgen einer ziemlich traditionellen japanischen Ernährungsweise aus Reis, Misosuppe, Natto, Seetang, Fisch, Buchweizennudeln, Tofu und Gemüse als Basisnahrungsmittel ihres täglichen Essens. Jeden Tag essen sie eine Kombination daraus zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen. Das ist eine unglaublich gesunde Ernährung, die auch dazu beiträgt, dass Japan eines der gesündesten Länder der Erde ist. Das Land hat nicht nur die höchste Lebenserwartung, wie ja weithin bekannt ist, sondern in einer 2013 von der UNO erstellten Liste der übergewichtigsten Staaten der Ersten Welt hatte Japan mit einem Anteil von nur 4,5 Prozent von übergewichtigen Menschen in der erwachsenen Bevölkerung den niedrigsten Wert. Im Vergleich dazu belegte Großbritannien mit 24,9 Prozent an übergewichtigen Erwachsenen Platz 23.4
Eine weitere großangelegte Studie der American Heart Association im Jahr 2013 fand heraus, dass Kinder in den entwickelten Ländern heute im Schnitt etwa 90 Sekunden länger brauchen, um eine Meile zu laufen, als noch vor 30 Jahren. Ein gewisser Verlust an Fitness wurde in allen Staaten der Ersten Welt festgestellt, bis auf einen: Japan, wo die Kinder und Jugendlichen heute schneller laufen als noch ihre Eltern. Obwohl dies natürlich auch teilweise auf die Bedeutung des Sports an den Schulen zurückzuführen ist, so kann man davon ausgehen, dass eine gesunde Ernährung bei solch niedrigen Zahlen ebenfalls eine Rolle spielt.
Natürlich existieren in Japan auch industriell hergestellte Frühstückszerealien, Sandwiches, Burger, Pizzas und anderes ungesundes Essen, doch sind sie nicht so allgegenwärtig wie in der westlichen Welt, und sie bilden keinesfalls die Basis der Ernährung der Menschen.
Weizen, eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel in Europa und Amerika, das über die letzten Jahre als ungesunde, problematische Nahrungsressource in Kritik geraten ist, wird in Japan weitaus seltener gegessen. Wenn man in Japan im Supermarkt einen Laib Brot kaufen will, bekommt man nur drei Scheiben abgepacktes Brot. Für meine Kinder, die gerne Toast zum Frühstück essen, bedeutet das, dass wir fast immer das ganze Regal leerräumen, wenn wir einkaufen gehen.
Zudem sind die Portionen in Japan generell kleiner als in der westlichen Welt. Einmal bemerke ich in einem Restaurant, dass man Pommes frites als Beilage zu einem Gericht bestellen kann. Da kann ich nicht widerstehen. Als ich dann mein Essen bekomme, liegen da genau drei Pommes in einer winzigen Schüssel.
Es gibt zahlreiche Studien, die die Auswirkung der Portionsgröße auf unsere Essgewohnheiten untersucht haben, und alle kamen zu dem wenig überraschenden Ergebnis: Wenn man einer Person eine größere Portion von etwas anbietet, isst diese Person auch mehr. In einer Studie wurde sogar 14 Tage altes, schales Popcorn verwendet. Diejenigen, die eine größere Portion bekamen, aßen auch mehr davon, selbst wenn sie danach zugaben, dass es scheußlich schmeckte. Kleinere Portionen und weniger Kalorien sind zurzeit Modebegriffe im Gesundheitsbewusstsein der westlichen Welt. Doch genau diese Dinge werden in Japan schon seit langem praktiziert. Die gängige japanische Phrase „Hara hachi bu“ bedeutete so viel wie „Iss, bis du zu 80 Prozent satt bist“.
Außerdem verhindert das Essen mit Essstäbchen, dass man sich über-isst, denn man ist gezwungen, langsamer zu essen, was wiederum bedeutet, dass man sich schneller satt fühlt. Inzwischen bin ich es gewohnt, mit Stäbchen zu essen, und wann auch immer ich die Gelegenheit habe, mit einer Gabel zu essen, kommt es mir so vor, als würde ich das Essen wie ein gieriges Monster in mich hineinstopfen.
Raffinierter Zucker, eines der schlechtesten Nahrungsmittel, die man essen kann, und das unserem Körper seine Energie entzieht und laut Robert Lustig, dem bekannten Kinderarzt und Professor für Neuroendokrinologie, besser als Gift eingestuft werden sollte, wird in Japan auch weit weniger verwendet. So ist es in Japan