Zwang zu töten. Dieter Aurass

Zwang zu töten - Dieter Aurass


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      Sie war während ihrer Ausführungen immer lauter geworden.

      „Und wenn jemand weiß, woher die Redewendungen ‚nicht mehr alle Latten am Zaun‘ oder ‚nicht mehr alle Tassen im Schrank‘ kommen könnten, dann sicherlich ich. Es war einfach nicht mehr zu ertragen.“

      Sie hatte sich immer weiter nach vorne gelehnt und ließ sich nun erschöpft in den Sessel zurücksinken. Dann ergänzte sie ihre Ausführungen leise: „Wenn ich nicht so unter ihm gelitten hätte, könnte er mir nun fast leidtun. Nun aber zu sagen, das habe er nicht verdient, erschiene mir scheinheilig. Und eines kann ich Ihnen sagen“, setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu, „Sie werden wenige finden, die anders darüber denken.“

      Kapitel 6

      Polizeipräsidium, Büro der MK, 17:55 Uhr

      Es ging auf achtzehn Uhr zu, aber es war nicht ungewöhnlich, dass sich die Mitglieder der MK bei einem aktuellen Fall um diese Zeit noch in den Diensträumen aufhielten oder, wie heute, gerade erst wieder zusammenfanden, wenn sie von verschiedenen Ermittlungsorten zurückkehrten.

      Obwohl Fisch den gesamten Nachmittag auf der Dienststelle vor seinem Computer verbracht hatte, war er der Erste, der an den Kühlschrank neben der Kaffeemaschine ging und sich ein „Feierabend-Bier“ herausholte.

      „Noch jemand?“, rief er in den Raum, aber außer einem: „Ja, ich bitte“, von Harry erntete er nur Kopfschütteln. Die anderen drei versorgten sich mit Kaffee und setzten sich an den Besprechungstisch.

      „Fangt ihr bitte an“, forderte Auer Duben und Harry auf, während er sich noch Milch und Süßstoff in den Kaffee einrührte. Es wunderte ihn nicht, dass Gerd Duben das Wort ergriff, denn obwohl Harry den höheren Dienstgrad hatte, war es Duben, der eloquenter war und in der Lage, sachlich und auf den Punkt die wichtigsten Fakten zu schildern, ohne ins Schwafeln zu kommen.

      „Ich muss ehrlich sagen, dass ich so was noch nie erlebt habe wie in dieser Werbeagentur. Wir beide nicht, oder?“, er blickte zu Harry, der nur wortlos nickte. „Von den sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Opfers waren lediglich zwei Frauen betroffen, die anderen fünf waren richtiggehend happy und erleichtert, dass der, Zitat: ‚Despot endlich weg ist!‘. Zitat Ende. Auf jeden Fall hat niemand ihm eine Träne nachgeweint. Er muss ein echter Tyrann gewesen sein, der weder Widerspruch geduldet noch eine andere Meinung als seine eigene akzeptiert hat. Er hat zwar die Agentur aus dem Nichts heraus aufgebaut und groß gemacht, aber dennoch hielt sich die Dankbarkeit der Mitarbeiter für ihre lukrativen Arbeitsplätze sehr in Grenzen. Also könnte man bei diesen Personen schon jemanden dabeihaben, der ein Motiv für einen Mord hat, auch wenn ich jetzt noch niemanden definitiv benennen könnte.“

      Er machte eine kurze Pause und trank ein wenig von seinem Kaffee. Dann blickte er kurz auf seine Notizen, bevor er fortfuhr: „Bei einer Mitarbeiterin hatte ich zuerst so ein Gefühl, eine gewisse Katrin Günther, weil sie so unsäglich erleichtert schien, aber im Laufe des Gesprächs hat sich herausgestellt, dass er ihr gestern gekündigt hatte und sie lediglich Angst vor einem extrem schlechten Zeugnis hatte. Am meisten aufgestoßen ist mir die Art eines gewissen“, er blickte erneut auf seine Notizen, „Heinz Meiser, der seine Freude und Zufriedenheit weder verstecken konnte noch überhaupt wollte. Er muss Kellermann regelrecht gehasst haben, obwohl er sein zweiter Mann in der Agentur war. Da werden wir noch mal genau nachhaken müssen, woher dieser Hass auf seinen Chef kam. Die Kollegen wollten auch nicht damit rausrücken. Ich gebe Fisch gleich alle Namen und Daten der Personen, dann kann er mal sehen, ob er über die was rausfinden kann.“

      Fisch verzog das Gesicht angesichts der auf ihn zukommenden Arbeit, kommentierte die Ausführungen aber nicht.

      „Ach ja, eines habe ich noch vergessen“, meldete Duben sich noch einmal zu Wort. „Raimund Kellermann muss eine erhebliche Macke gehabt haben, zumindest, wenn man den Aussagen der Beschäftigten Glauben schenken darf. Er muss wohl ständig bei Besprechungen Notizen zu den einzelnen Mitarbeitern gemacht haben und dabei gezählt haben, wer welches Wort wie oft gesagt hat oder wer sich wie oft am Kopf gekratzt hat und ähnliche Sachen. Ich weiß nicht, ob das für uns von Bedeutung sein kann, aber ich wollte es zumindest mal erwähnen.“

      „Danke, Gerd“, schaltete Auer sich sofort ein, „du hast recht, es ist auch von Interesse, allerdings haben wir dazu von der Ex-Frau noch einiges mehr erfahren.“

      In den folgenden Minuten schilderte er das Gespräch mit der Ex-Frau in allen Einzelheiten, wobei Coco ihm teilweise mit fachlichen Ergänzungen zu der genannten Zwangsstörung zu Hilfe kam.

      „Dann wäre es wohl sicherlich eine gute Idee“, merkte Duben an, „wenn wir versuchen herauszufinden, ob und wo er in Behandlung war.“

      „Die Ex-Frau hat behauptet, er habe eine Behandlung abgebrochen, aber sie wisse nicht, bei welchem Arzt das gewesen ist“, erinnerte sich Auer.

      „Das kann eigentlich nur bei einem Psychotherapeuten gewesen sein“, steuerte Coco ihre fachlich fundierte Meinung bei. „Wenn er jemals bei einem gewesen ist, sollte das die Krankenkasse wissen oder wir finden vielleicht in seiner Wohnung Abrechnungsunterlagen.“

      „Lasst uns das morgen als Erstes angehen.“ Auer blickte auf seine Armbanduhr. „Es ist schon nach achtzehn Uhr, und heute erreichen wir bei Krankenkassen eh niemanden mehr. Unter Umständen stehen uns auch ein paar anstrengende Tage bevor, weshalb wir lieber morgen ausgeruht an die Sache herangehen sollten.“

      Aus den Augenwinkeln sah er, dass Fisch aufbegehren wollte, woraufhin er abwehrend eine Hand erhob.

      „Und nein, Fisch, du hackst dich nicht in die Datenbanken der Krankenversicherungen, dass das klar ist. Bislang ist das eine normale Mordermittlung und kein Grund zur Eile gegeben. Alles klar?“

      Fisch nickte ergeben und begann, seinen Schreibtisch notdürftig aufzuräumen.

      Kapitel 7

      Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, ging selbst um 18 Uhr 30 der Leiter der Gerichtsmedizin in Mainz bereits nach dem zweiten Klingeln ans Telefon.

      „Mangel?“

      „Hallo, Werner, ich bin es, Ulf. Es scheint ja wohl unser Schicksal zu sein, dass wir immer dann, wenn es eine neue Leiche gibt, bis in die Puppen arbeiten müssen“, eröffnete Auer die Unterhaltung.

      „Hallo, Ulf, schön mal wieder von dir zu hören, wenn auch der Anlass wie meist kein sehr erfreulicher ist“, erklang die tiefe Bassstimme von Professor Werner Mangel.

      „Ja, das ist wahr. Aber ich befürchte, daran wird sich wohl in absehbarer Zeit nichts ändern ... leider.“

      „Aber Jammern hilft wohl nichts“, entgegnete Professor Mangel, und Auer konnte sein Lächeln durch das Telefon hören.

      Mangel war schon seit Jahren so etwas wie ein Freund, und Ulf freute sich immer, wenn sich die Gelegenheit ergab, dass er ihn mal wieder in Mainz besuchen konnte, auch wenn es bedeutete, dass er an einer Obduktion teilnehmen musste. Allerdings reichte dafür oft die Zeit nicht, gerade wenn man mitten in den Ermittlungen zu einem Todesfall stand. Dann blieb nur das Telefon oder in Ausnahmefällen auch mal eine Videokonferenz.

      Er hatte seinen Freund um diese Uhrzeit angerufen, weil er wusste, dass der geniale Gerichtsmediziner mit großer Wahrscheinlichkeit noch im Institut war und ihm vielleicht schon erste Erkenntnisse mitteilen konnte. Natürlich würde Mangel den Obduktionsbericht so schnell wie möglich per Mail an die MK senden, aber vermutlich war er noch dabei, diesen zu verschriftlichen, und Auer hatte nicht den Nerv, bis zum nächsten Morgen zu warten.

      Er musste noch nicht einmal sagen, warum er anrief, denn das war Mangel selbstverständlich klar.

      „Okay, mein Freund, du möchtest also etwas über diesen neuerlichen Mord wissen, allerdings muss ich dich dahingehend enttäuschen, dass es kaum etwas zu sagen gibt, was du dir nicht selbst denken könntest. Euer Opfer wurde durch einen Schnitt in die rechte Oberschenkelarterie ins Jenseits befördert, aufgrund dessen er ausgeblutet ist. In seinen Lungenbläschen habe ich Spuren von Isofluran gefunden, ein recht schnell wirkendes Inhalationsanästhetikum,


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