Maximen und Reflexionen. Johann Wolfgang Goethe
und Fibel sich Wort und Bild immerfort balanciren. Wenn man aussprach, was sich nicht bilden, bildete, was sich nicht aussprechen ließ, so war das ganz recht; aber man vergriff sich gar oft und sprach, statt zu bilden, und daraus entstanden die doppelt bösen symbolisch-mystischen Ungeheuer.
189. »Wer sich mit Wissenschaften abgibt, leidet erst durch Retardationen und dann durch Präoccupationen. Die erste Zeit wollen die Menschen dem keinen Werth zugestehen, was wir ihnen überliefern, und dann gebärden sie sich, als wenn ihnen alles schon bekannt wäre, was wir ihnen überliefern könnten.«
190. Eine Sammlung von Anekdoten und Maximen ist für den Weltmann der größte Schatz, wenn er die ersten an schicklichen Orten in’s Gespräch einzustreuen, der letzten im treffenden Falle sich zu erinnern weiß.
191. Man sagt: »Studire, Künstler, die Natur!« Es ist aber [30]keine Kleinigkeit, aus dem Gemeinen das Edle, aus der Unform das Schöne zu entwickeln.
192. Wo der Antheil sich verliert, verliert sich auch das Gedächtniß.
193. Die Welt ist eine Glocke, die einen Riß hat: sie klappert, aber klingt nicht.
194. Die Zudringlichkeiten junger Dilettanten muß man mit Wohlwollen ertragen: sie werden im Alter die wahrsten Verehrer der Kunst und des Meisters.
195. Wenn die Menschen recht schlecht werden, haben sie keinen Antheil mehr als die Schadenfreude.
196. Gescheute Leute sind immer das beste Conversationslexikon.
197. Es gibt Menschen, die gar nicht irren, weil sie sich nichts Vernünftiges vorsetzen.
198. Kenne ich mein Verhältniß zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß’ ich’s Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.
199. Das Besondere unterliegt ewig dem Allgemeinen; das Allgemeine hat ewig sich dem Besondern zu fügen.
200. Vom eigentlich Productiven ist niemand Herr, und sie müssen es alle nur so gewähren lassen.
201. Wem die Natur ihr offenbares Geheimniß zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.
202. Die Zeit ist selbst ein Element.
203. Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist.
204. Ein Unterschied, der dem Verstand nichts gibt, ist kein Unterschied.
[31]205. In der Phanerogamie ist noch soviel Kryptogamisches, daß Jahrhunderte es nicht entziffern werden.
206. Die Verwechselung eines Consonanten mit dem andern möchte wohl aus Unfähigkeit des Organs, die Verwandlung der Vocale in Diphthongen aus einem eingebildeten Pathos entstehen.
207. Wenn man alle Gesetze studiren sollte, so hätte man gar keine Zeit, sie zu übertreten.
208. Man kann nicht für jedermann leben, besonders für die nicht, mit denen man nicht leben möchte.
209. Der Appell an die Nachwelt entspringt aus dem reinen lebendigen Gefühl, daß es ein Unvergängliches gebe und, wenn auch nicht gleich anerkannt, doch zuletzt aus der Minorität sich der Majorität werde zu erfreuen haben.
210. Geheimnisse sind noch keine Wunder.
211. I convertiti stanno freschi appresso di me.
212. Leichtsinnige leidenschaftliche Begünstigung problematischer Talente war ein Fehler meiner frühern Jahre, den ich niemals ganz ablegen konnte.
213. Ich möchte gern ehrlich mit dir sein, ohne daß wir uns entzweiten; das geht aber nicht. Du benimmst dich falsch und setzest dich zwischen zwei Stühle, Anhänger gewinnst du nicht und verlierst deine Freunde. Was soll daraus werden!
214. Es ist ganz einerlei, vornehm oder gering sein: das Menschliche muß man immer ausbaden.
215. Die liberalen Schriftsteller spielen jetzt ein gutes Spiel, sie haben das ganze Publicum zu Suppleanten.
216. Wenn ich von liberalen Ideen reden höre, so verwundere ich mich immer, wie die Menschen sich gern mit leeren Wortschällen hinhalten: eine Idee darf nicht liberal [32]sein! Kräftig sei sie, tüchtig, in sich selbst abgeschlossen, damit sie den göttlichen Auftrag, productiv zu sein, erfülle. Noch weniger darf der Begriff liberal sein; denn der hat einen ganz andern Auftrag.
217. Wo man die Liberalität aber suchen muß, das ist in den Gesinnungen, und diese sind das lebendige Gemüth.
218. Gesinnungen aber sind selten liberal, weil die Gesinnung unmittelbar aus der Person, ihren nächsten Beziehungen und Bedürfnissen hervorgeht.
219. Weiter schreiben wir nicht; an diesem Maßstab halte man, was man tagtäglich hört!
220. Es sind immer nur unsere Augen, unsere Vorstellungsarten; die Natur weiß ganz allein, was sie will, was sie gewollt hat.
221. »Gib mir, wo ich stehe!«
Archimedes.
»Nimm dir, wo du stehest!«
Nose.
Behaupte, wo du stehst!
G.
222. Allgemeines Causalverhältniß, das der Beobachter aufsucht und ähnliche Erscheinungen einer allgemeinen Ursache zuschreibt; an die nächste wird selten gedacht.
223. Einem Klugen widerfährt keine geringe Thorheit.
224. Bei jedem Kunstwerk, groß oder klein, bis in’s Kleinste kommt alles auf die Conception an.
225. Es gibt eine Poesie ohne Tropen, die ein einziger Tropus ist.
226. Ein alter gutmüthiger Examinator sagt einem [33]Schüler in’s Ohr: »Etiam nihil didicisti« und läßt ihn für gut hingehen.
227. Das Fürtreffliche ist unergründlich, man mag damit anfangen, was man will.
228. Aemilium Paulum – virum in tantum laudandum, in quantum intelligi virtus potest.
229. Ich habe mich so lange um’s Allgemeine bemüht, bis ich einsehen lernte, was vorzügliche Menschen im Besondern leisten.
[34]Aus Kunst und Alterthum.
Fünften Bandes erstes Heft.
1824.
(Einzelnes.)
230. Indem ich mich zeither mit der Lebensgeschichte wenig und viel bedeutender Menschen anhaltender beschäftigte, kam ich auf den Gedanken: es möchten sich wohl die einen in dem Weltgewebe als Zettel, die andern als Einschlag betrachten lassen; jene gäben eigentlich die Breite des Gewebes an, diese dessen Halt, Festigkeit, vielleicht auch mit Zuthat irgend eines Gebildes. Die Schere der Parze hingegen bestimmt die Länge, dem sich denn das Übrige alles zusammen unterwerfen muß. Weiter wollen wir das Gleichniß nicht verfolgen.
231. Auch Bücher haben ihr Erlebtes, das ihnen nicht entzogen werden kann.
Wer nie sein Brot mit Thränen aß,
Wer nicht die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.
Diese tiefschmerzlichen Zeilen wiederholte sich eine höchst vollkommene angebetete Königin in der grausamsten Verbannung, zu gränzenlosem Elend verwiesen. Sie befreundete sich mit dem Buche, das diese Worte und noch manche schmerzliche Erfahrung überliefert, und zog [35]daraus einen peinlichen Trost; wer dürfte diese schon in die Ewigkeit sich erstreckende Wirkung wohl jemals verkümmern?
232. Mit dem größten Entzücken sieht man im Apollosaal der Villa Aldobrandini zu Frascati, auf welche glückliche Weise Domenichin die Ovidischen Metamorphosen mit der schicklichsten Örtlichkeit umgibt; dabei nun erinnert man sich gern, daß die glücklichsten Ereignisse doppelt selig empfunden werden, wenn sie uns in herrlicher Gegend gegönnt waren, ja daß gleichgültige Momente durch